"Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!"

Julia Geiger wirkt cool, während wir im ICE über das sprechen, was in wenigen Stunden passieren wird. Wir sitzen am Vierertisch im Großraumwagen und haben Zeit, über das Plakat zu sprechen, das wir gestaltet haben. 

Rudi Cerne soll es überreicht bekommen, der ZDF-Moderator von „Aktenzeichen XY“, der den Älteren noch als Eisprinz in Erinnerung ist: zweimal Deutscher Meister, einmal Zweiter bei Europameisterschaften. Julia kennt ihn gar nicht, weil sie ja immer RTL schaut.

Wünsche stehen auf diesem Plakat. Ganz einfache Wünsche. Es sind diejenigen, die Julia Geiger und Kai Heinemann im Vorgespräch geäußert haben. Sie klingen banal, wenn man nicht weiß, dass die beiden auf dem Campus des Antoniusheims wohnen und trotz ihrer Selbstständigkeit auf Betreuung angewiesen sind. „Ich will für eine Reise nach Amerika sparen dürfen“, so Heinemann. Ostküste und Los Angeles. Kann er doch, möchte man einwenden. Doch wenn er es versucht und dabei sein Konto über 2600 Euro anwächst, weil er zeitgleich noch für seinen Quad-Führerschein spart, kürzt ihm der Landeswohlfahrtsverband die Versorgungsleistung. Ruckzuck ist das Ersparte wieder weg. Und selbst wenn sein laufendes Praktikum im Altersheim in ein festes Angestelltenverhältnis mündete, bekäme er dort keinen Mindestlohn. So kommt er gerade mal bis zum Frankfurter Flughafen.

Julia Geiger kommt richtig in Fahrt, wenn es um ihre Wünsche geht. Heiraten will sie später einmal. Und ihren Betreuer selbst aussuchen. Warum das nicht geht, will sie wissen. Aber im Grunde will sie noch mehr: „Ich will mich selbst betreuen“, sagt sie, und dies nicht im Flüsterton. Ziemlich alle DB-Kunden in Hörweite wissen jetzt über Julias Wünsche Bescheid und geraten ins Grübeln. Verrückt eigentlich, Wünsche nach Berlin zu transportieren: leichtes Gepäck zwar, aber keine leichte Aufgabe. Die „Aktion Mensch“ hat Geburtstag und eine kleine Delegation aus dem Antoiniusheim zur Jubiläums-Auftaktveranstaltung eingeladen. 50 Jahre schon gibt es die Fernsehlotterie mit Sozialeffekt. Wir Älteren sind groß geworden mit Wum und Wendelin; Wim Thoelkes „Riisikoooo“ klingelt immer noch im Ohr. Spielshows wie „Der große Preis“ sensibilisierten die Nation ganz nebenbei für die Bedürfnisse der sogenannten „Sorgenkinder“. Jahrzehnte später wurde der Name „Aktion Sorgenkind“ als problematisch empfunden. Menschen mit Behinderung machen schließlich nicht nur Sorgen. Außerdem gibt es keinen Grund, sie als Kinder anzusprechen. Es sind Menschen. Punkt. Und deshalb heißt die Lotterie jetzt „Aktion Mensch“.

Als es darum ging, auch Betroffene zur Jubiläumsfeier einzuladen, damit diese stellvertretend für alle, die in Deutschland mit einer Behinderung leben, medienwirksam ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben vortragen können, fiel die Wahl auf das Antoniusheim. Das macht stolz. Entsprechend gut gelaunt treffen wir am Berliner Hauptbahnhof ein. Nach kurzer Orientierung tauchen wir ab in den Untergrund und los geht´s Richtung Alexanderplatz – wir haben ja noch Zeit. Und Hunger. Wir entscheiden uns für ein Bistro mit weitläufiger Außenbestuhlung, Blick auf Weltzeituhr und Fernsehturm inklusive. Eine „erste Adresse“ nennt man das wohl, aber Kai Heinemann recherchiert sogleich per Smartphone die garstigen Kommentare einiger Gäste im Netz. Ich staune, wie schnell er diese Info zur Hand hat, und traue ihm ab sofort und uneingeschränkt seine Amerikareise zu.

In der Tat lässt es die üppig geschminkte Servicekraft ruhig angehen. Gemächlich kommt das Wiener Schnitzel herangekrochen, seine Temperatur gleicht sich dabei bedenklich der des Salates an. Aber was soll’s? Großstadt eben. Und wir haben ja noch Zeit bis zu unserem Auftritt. Julia haut sich reichlich Ketchup und Majo auf die Pommes, und Gabi Hoeser, ihre Betreuerin, versucht sie ein wenig zu bremsen, damit später nichts schiefgeht. Nach dem Essen noch schnell ein zweites Getränk, doch plötzlich wird´s knapp, vor allem weil unsern Wunsch, endlich zahlen zu können, genauso unerfüllbar scheint wie die Wünsche, derentwegen wir hier sind.

Endlich besteigen wir die U-Bahn Richtung Berlin Mitte zum Veranstaltungsort, dem „E-Werk“. Doch kurz nach Fahrtantritt wird Julia unruhig. Die wachsende Aufregung, das hohe Tempo und die Enge im Waggon führen zu einer leichten Panik- Attacke. „Ich muss raus hier!“, ruft sie. Kurzerhand sind wir wieder am Tageslicht, suchen eine Toilette. Noch vier Stationen. Nach gutem Zureden steigt Julia doch wieder ein. Irgendwie erreichen wir die Zielstation. Zur Sicherheit fragen wir eine Passantin nach dem letzten Wegstück, doch sie lotst uns in die falsche Richtung. Wieder Zeit verloren. In wenigen Minuten steigt die Party – langsam wird fraglich, ob mit oder ohne uns. Im Endspurt fällt die Gruppe auseinander, zudem wird erneut ein Toilettengang nötig. „Ist das nicht alles ein bisschen viel?“, schießt es mir durch den Kopf. An nur einem Tag nach Berlin und wieder zurück, die vielen Eindrücke, die vielen Verkehrsmittel, der Medienauftritt. Wir wollen für Inklusion werben, also auch dafür, dass jeder seinem Tempo gemäß leben kann. Faktisch aber betreiben wir gerade „Normalisierung“, d.h., wir beschleunigen die Langsamen. Vielleicht müssen in einer inklusiven Welt alle etwas mehr Zeit für ihre Vorhaben einplanen, um nicht schon durch den alltäglichen Schweinsgalopp Barrieren für andere zu errichten. Der Fahrstuhl katapultiert uns auf die Dachterrasse des E-Werks. Punktlandung. Es wimmelt von Fotografen und Kameraleuten, bekannte Fernsehgesichter geben Interviews. Rudi Cerne nimmt sich noch Zeit zu einem kurzen Vorgespräch. „Normalerweise bewege ich mich zwischen Sport und Mord“, gesteht er. Wenn er mal nicht Druck auf frei herumlaufende Mörder ausübt oder im Heute- Journal Sportnachrichten verkündet, nimmt er sich Zeit, um als Botschafter für die „Aktion Mensch“ zu werben. Er tut dies seit Anfang des Jahres, ehrenamtlich. Ein bisschen spürt man, dass er sich noch auf ungewohntem Terrain bewegt. Aber dass seine Sätze nicht allzu glatt in die Mikrofone purzeln, macht ihn eher sympathisch. Wie alle anderen auch muss er sich in die Inklusion hineindenken, und das ist nicht immer leicht.

Um 14.55 Uhr endlich der entscheidende Programmpunkt: Kai Heinemann und Julia Geiger bekommen das Mikrofon unter die Nase gehalten: „Was sind denn nun eure Wünsche?“ Während Kai seine Reise- und Berufswünsche flüssig vermitteln kann, gerät Julia ins Stocken. Die große Medien- Aufmerksamkeit macht sie doch nervös. Wie hat sie das vorhin im ICE so gut hinbekommen! Um zeigen zu können, was in ihr steckt, braucht sie einen Rahmen, indem sie sich wohlfühlt. Doch auch dafür fehlt die Zeit. Aber zum Glück wissen am Ende doch irgendwie alle, wie schwer es ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und warum so viele Wünsche für sie unerfüllbar bleiben.

Der lockere Empfang im Anschluss auf der Terrasse mit Blick auf die Hauptstadt bringt die nötige Entspannung. Wir begegnen Ulla Schmitt, der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, den meisten als Gesundheitsministerin unter Kanzler Schröder im Gedächtnis. Ulla Schmitt – herzlich, ohne Berührungsängste – scherzt mit Julia Geiger, talkt mit Rainer Sippel. Jede Menge Fotos werden geschossen, auch zusammen mit Dieter Stolte, dem langjährigen ZDF-Intendanten, dem parlamentarischen Staatssekretär Michael Meister und Aktion-Mensch-Vorstand Armin von Buttlar.

Zum Abschluss, ehe es wieder gen Bahnhof geht, dürfen wir mit dem Heliumballon in den Berliner Himmel aufsteigen – am Stahlseil gesichert. Der sogenannte „Weltballon“, eine Berliner Touristenattraktion, wurde eigens mit einem „Aktion Mensch“-Look versehen. Wegen des starken Win des dürfen wir „nur“ 80 Meter hoch steigen. Kai Heinemann verträgt die Höhe schlecht und winkt lachend ab. Julia hat ihr Selbstbewusstsein wieder gefunden und will unbedingt. Ich möchte ihr zwar abraten, aber es ist nun einmal ihr Wunsch – und darüber haben wir heute ja genug geredet! Die anschließende Panikattacke ist mittelstark. Julia ruft, dass sie runter möchte, aber erstens hört das der verantwortliche Pilot bei dem starken Wind ohnehin nicht, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie es schaffen wird.

Als sie aus dem Ballon steigt, macht sie eine Siegerpose, weit schöner als Mario Ballotelli. Auf dem Ballonkorb steht in roten Lettern: „Schon viel erreicht, noch viel mehr vor.“ Passt. Erschöpft entern wir das ICE-Bistro und lassen die Ereignisse Revue passieren. „Nächstes Jahr fahre ich wieder mit – kein anderer, ich wieder!“, sind ihre letzten Worte, bevor sich unsere Wege im nächtlichen Bahnhof verlieren.

Arnulf Müller

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