Das Wesen der Dinge

von Anna-Pia Kerber

Das Wesen der Dinge

 

 

 

Ein kurzweiliges Gespräch mit Sr. Regina OSB über Langeweile, Schönheit, digitalen Stress, die Schnelllebigkeit unserer Zeit – und über das, worauf es am Ende ankommt.

Ora et labora et lege – bete und arbeite und lies: So heißt es über die benediktinische Lebensweise. In der Abtei zur Heiligen Maria in Fulda kann demnach gar keine Langeweile aufkommen. Der Tagesablauf ist strukturiert, Arbeit, Erholung und Gebet sind genau getaktet. Ein Leben, in dem man jeden Morgen um spätestens 5.30 Uhr den Tag beginnt.

Wie man sich daran gewöhnt? „Eine ältere Schwester hat mal zu mir gesagt: Es dauert zwanzig Jahre, bis man sich in den Rhythmus eingefunden hat. Inzwischen glaube ich, dass sie recht hat.“ Seit neun Jahren ist Sr. Regina Benediktinerin. Sie drückt sich sehr behutsam aus, lässt jedem Wort Raum, sich zu entfalten. „Man lernt erst nach und nach, die Segnungen dieses Rhythmus auszukosten. Bis man langsam versteht, um was es hier wirklich geht. Hier findet man Raum, etwas wachsen zu lassen.“

Bevor sie dem Kloster beitrat, hat sie Vergleichende Sprachwissenschaften, Theologie und Psychologie in Frankfurt studiert. Sie ist wissbegierig und interessiert. Die junge Ordensschwester kennt keine Langeweile. Zumindest nicht die der fehlenden Beschäftigung. Höchstens die Art von Langeweile, die entsteht, wenn man nicht bei der Sache ist. Oder wenn man der Arbeit, die man tut, kein Interesse entgegenbringt. Darum versucht sie tagtäglich an ihrem Arbeitsplatz, dem Klosterladen in der Nonnengasse, ganz bei ihren Aufgaben zu sein. „Ich hätte mir zwar nie bewusst vorgenommen, Verkäuferin zu werden“, gesteht sie – und es klingt beinahe wie eine Entschuldigung, „aber dann kommt mir manchmal in den Sinn, was mir eine andere Schwester einmal gesagt hat: ‚Es kommt nicht darauf an, was man tut, sondern wie man es tut.‘“ Wie man etwas tut: Mit allen Sinnen, bewusst, ganz dem Moment hingegeben. Denn der Moment ist schließlich alles, was wir haben. Ganz gleich, mit welcher Aufgabe man betraut wird. Im Nachhinein frage ich mich, ob das vielleicht die spezielle Prüfung ist, die sie hier zu bestehen hat: Dies zu verinnerlichen, an dem ihr zugewiesenen Platz.

Wenn sie noch einmal einen Beruf wählen dürfte, dann wäre das wohl der des Buchbinders. Oder der einer Bibliothekarin. Denn auf die Frage, was sie nie im Leben langweilen könnte, antwortet sie, eine Bibliothek. Der Zugang zu Wissen und Sprache ist etwas, das ihren Geist immer öffnen wird. Und ihr Herz.

Ich wage die Frage nach der Eitelkeit. Wie ist das, wenn man in das Kloster eintritt? Verliert man das Bewusstsein für Schönheit? „Nein“, antwortet sie. Im Gegenteil: Ihr Blick für das Schöne sei erst im Kloster geschärft worden. Sie fotografiert gerne. „Details“, erklärt sie und gesteht mit einem Lachen: „Details in Natur und Architektur. Lieber nichts, was sich bewegt.“

 

Ora...

Ora...

 

... et labora

... et labora

 

 

 

Gerade heute täte es uns gut, wenn wir unser Verständnis von Schönheit noch einmal überdenken würden. Statt einfach nur das anzunehmen, was uns jeden Tag in grellen Farben angepriesen wird, mit Make-up bestrichen und mit Photoshop bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Da muss noch mehr sein. Was sieht Sr. Regina, wenn sie die Welt betrachtet? Sie sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Das ist schön. Und beängstigend. Ich fühle mich entblößt. Ich spüre, dass sie mich sieht – jenseits von Mascara und Kleidung und dem unsichtbaren Schild, den ich in jedes Interview trage. Denn für gewöhnlich bin ich diejenige, die Fragen stellt und zuhört.

Hier habe ich zum ersten Mal das Bedürfnis, selbst zu reden. Über die Welt da draußen, die so schnell wird, dass einem davon schwindelig wird. Über die digitale Welt, die heute so viel mächtiger und besitzergreifender erscheint als je zuvor. So mächtig, dass sie über die reale Welt die Oberhand zu gewinnen droht. Und viel tote Zeit erzeugt. Tote Zeit, während der man im Internet surft und sich ablenkt von anderen Dingen. Von der im Untergrund schlummernden Langeweile.

Was sie davon hält? „Sogar das Kloster hat eine Seite auf Facebook. Wir verschließen uns nicht vor der Veränderung und strikte Verbote sind bei uns nicht üblich. Im Kloster leben erwachsene Menschen, die selbst Verantwortung übernehmen können und müssen. Aber unsere Seite ist nicht besonders aktiv. Ich denke, wir könnten ein Gegenpol zur Schnelllebigkeit der Welt sein: Wir müssen nicht ständig etwas Neues produzieren.“

Nein. Das hat man hier nicht nötig. Hier findet man Verlässlichkeit. Eine Ruhe gegenüber der Aufgeregtheit, gegenüber dem Konkurrenzdruck, gegenüber der Schnelllebigkeit des digitalen Zeitalters. Unseres Zeitalters, in dem man sich permanent vergleichen muss. Sich permanent neu erfinden. Jedem Trend nacheifern.

Das muss man hier nicht.

Und was ist überhaupt der Wert einer Sache, die in zwei Sekunden erschaffen, fotografiert, geteilt und gelikt – und doch einen Tag später vergessen ist? Der Reiz mag darin liegen: Im Internet trifft einen eine Ablehnung nicht so hart wie im echten Leben. „Es ist weniger Risiko dabei“, vermutet Sr. Regina.

Menschen fotografieren ihr Mittagessen und leben allein in der Erwartung von 4.000 virtuellen Likes. Macht das glücklich? „Das Grundbedürfnis des Menschen sich mitzuteilen, ist doch gut“, findet sie. „Aber ist es nicht schöner, sich einer echten Gemeinschaft mitzuteilen? Nur eine einzige wirkliche, nährende Beziehung ist mehr wert.“ Mehr Wert als eine Million Follower, denen man nie im Leben begegnen wird. Denn dort geht es vor allem um eines – ums Blenden. Wer ist beliebter? Wer reicher, wer schöner, wer populärer? Nichts davon ist wahr.

Allerdings: Die Menschen wollen geblendet werden. Sie verlangen danach, träumen von einem anderen Leben. Einem, das vermeintlich aufregender ist. Hier im Kloster hat man es kaum nötig, zu blenden. Denn hier kann ohnehin nur bleiben, wer mit sich selbst klarkommt. Ohne die Ablenkungen der Welt. „Wenn man mit sich selbst nicht alleine sein kann, ist das Klosterleben nichts“, sagt Sr. Regina.

Was steckt überhaupt hinter dem Bedürfnis nach Geselligkeit? Man kann sich selbst entgehen, wenn man sich permanent mit anderen umgibt. Man kann Fragen ausweichen, die unangenehm sind. Fragen nach Sinnlosigkeit, Einsamkeit und Sehnsüchten.

„Trotzdem bin ich nicht puristisch“, versucht sie zu erklären. „Auch im Kloster findet man Ablenkung, wenn man das will. Und es ist gesund, sich mal abzulenken. Mal etwas Schönes zu tun.“

Wonach sehnen wir uns am Ende des Tages? Wollen wir, dass uns Träume verkauft werden? Oder wollen wir etwas Echtes?

Am Ende unseres zweistündigen Interviews äußert Sr. Regina die Sorge: Haben wir überhaupt wirklich über Zeit gesprochen? Ja! Nein? Was ist Zeit noch einmal? Nur eines ist sicher: Unser Gespräch war kurzweilig. Und nachhaltig.

Und noch etwas fällt ihr auf: „In unserem gesamten Gespräch ist kein einziges Mal das Wort Gott gefallen.“ Stimmt. Ob das schlimm sei, will ich wissen. „Nein“, sagte sie. „Er hat sich anders gezeigt.“ Sie lächelt. Ganz leise.

Zum Abschied umarmt sie mich. Ich trete aus dem Kloster in die eisige Kälte eines nebligen Novemberabends. Mir ist nicht mehr kalt.

Von Gott mag man halten, was man will. Aber dieses Gespräch ... es hätte ihm gefallen.

 

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