Der Zwei-Finger-Job

von Suria Reiche und Arnulf Müller

Es riecht angenehm erdig in dem großen Raum. Fast zehn Mitarbeiter werkeln munter vor sich hin, mit Handschuhen und Mundschutz bewehrt. Zu Beginn des Arbeitstages war beides blütenweiß, inzwischen sieht es aus wie nach einem Blutbad: Alles ist mit dem Saft der Rote-Bete-Knollen getränkt, die hier geschält und klein geschnitten werden. Sie stammen von den Feldern der antonius Gärtnerei in Haimbach und werden gleich in einem großen Autoklaven für ein ganzes Jahr haltbar gemacht. Ein Autoklav, das ist ein Dampfkochtopf wie in Mutterns Küche, nur in XXL. Bevor es so weit ist, sind noch ein paar Handgriffe nötig.


Als Steffi Jaschinski von ihren Assistenten in den Raum gebracht wird, sind ihre Kollegen gerade mit dem Schälen und Schneiden fertig. Der Autoklav brummt schon in der Ecke. Gleich wird sie einen weiteren wichtigen Arbeitsschritt erledigen, bei dem sie allerdings auf die Hilfe einer Kollegin angewiesen ist. Zuvor müssen nur noch die Knollenstücke gewogen, in Plastiktütchen verpackt und zugeschweißt werden. Wie das beim Zuschweißen so ist, entsteht oberhalb der Schweißnaht ein unnützer Plastikrest. Wird dieser Überstand nicht entfernt, kann es später zu Verunreinigungen kommen. Außerdem würde es im Verkaufsregal komisch aussehen.

SIE LIEBT IHRE TÄTIGKEIT UND
IST STOLZ, TEIL VON DIESEM
PROJEKT ZU SEIN

Steffi Jaschinski ist durch spastische Lähmungen massiv einschränkt. Das betrifft auch ihre Hände. Dennoch ist sie in der Lage, beim Beseitigen des Tütenüberstandes mitzuhelfen. Eine Kollegin hält ihr dazu die befüllte Tüte so hin, dass sie mit dem Pinzettengriff, also mit Daumen und Zeigefinger, den unliebsamen Rest greifen und fest zudrücken kann. Dann zieht die Kollegin an der Tüte – fertig, nächste Tüte.

Diese Arbeit kostet Jaschinski eine Menge Kraft, und es gibt Tage, da hat sie zu wenig davon. Dennoch liebt sie ihre Tätigkeit und ist stolz, Teil dieses Projekts zu sein. Wie wichtig es Jaschinski ist, immer mal ein Foto von ihrem Arbeitsplatz an ihre Mutter zu schicken, erzählt Conni Leister, die bei antonius den Bereich der Gemüseverarbeitung leitet.
Natürlich ginge es etwas schneller, wenn die Mitarbeiterin, die die Tüte anreicht, gleich selbst den Überstand abreißen würde. Aber um Schnelligkeit allein geht es hier nicht, sondern darum, möglichst viele Menschen mit sehr verschiedenen Begabungen in eine gemeinsame, sinnvolle Aufgabe einzubinden. Und es geht darum, dass auch der kleinste Beitrag, den jemand mit schweren Beeinträchtigungen leistet, als echte Arbeit organisiert ist. Arbeit ist Menschenrecht.
Um sich die Bedeutung des Ganzen klarzumachen, hilft ein Vergleich: Vor 20 Jahren wäre Jaschinski nicht an einen Arbeitsplatz, sondern in einen Therapie-Raum gebracht worden. Dort hätte ein speziell geschulter Therapeut etwas ganz Ähnliches gemacht: Er hätte ihr etwas Flaches hingehalten und sie gebeten, die Finger feste zusammenzudrücken. Dann hätte er, um ihre Kraft zu testen, daran gezogen. So hätte er eine Weile versucht, ihre Finger- und Armmuskeln zu trainieren. Am Ende der Stunde hätte er sie gelobt und gesagt: „Wir sehen uns in einer Woche wieder!“


Ratsch! - Plastik ab. Steffi Jaschinski arbeitet.

Auch dieses Vorgehen hätte etwas bewirkt, aber die Situation in der Gemüseverarbeitung ist grundlegend anders. Hier ist die junge Frau nicht isoliert von ihrem Umfeld in einem sterilen Raum, sondern in einer Welt mit starken sinnlichen Reizen: Wasserdampf liegt in der Luft, ebenso der Knollen-Geruch, hier und da scheppert etwas, und hin und wieder bekommt sie einen roten Saftspritzer ab, worüber sie mit ihren Kollegen lachen kann. Vor allem: Hier macht das Zusammenpetzen der Finger wirklich Sinn, es hat eine Funktion in einem größeren Zusammenhang. Lob erfährt sie über ihre Kollegen, und außerdem kann sie zufrieden auf den Tütenstapel neben ihrem Rollstuhl schauen.

DAS PROJEKT BEGINNT
JEDES JAHR MIT DER
GROSSFLÄCHIGEN AUSSAAT
AM ENDE DES FRÜHLINGS

Jaschinski ist eine von etwa 30 Mitarbeitern, die in das Rote-Bete-Projekt einbezogen sind. Ob jemand eine  Behinderung hat oder nicht, spielt hier keine Rolle. Jeder wird nach seinen Stärken eingesetzt. Das Projekt beginnt jedes Jahr mit der großflächigen Aussaat am Ende des Frühlings. Die Pflanzen benötigen viel Sonne, aber auch viel Wasser. Mitunter müssen sie mehrmals täglich gegossen werden. Drei bis vier Monate später werden die Knollen geerntet und in großen Kisten zur Einlagerung in die antonius Gärtnerei gebracht, wo sie nach dem Winter zuerst gewaschen und dann mit der Maschine vor- und per Hand nachgeschält werden.


Die Rote Bete in Convenience-Form ...

Der Autoklav ist das Herzstück in der Produktionskette. Darin wird die Rote Bete bei 106 Grad unter Druck erhitzt und so für ein Jahr haltbar gemacht. Würde man die Rote Bete nicht behandeln, wäre sie nur etwa fünf Tage haltbar. Durch das Autoklavieren entsteht ein Convenience-Produkt ganz ohne Konservierungsstoffe oder sonstige Zusätze. „Die Rote Bete ist danach bissfest und kann für alle Gerichte benutzt werden. Für Salate oder als gekochtes Gemüse“, erzählen die Mitarbeiter. Das naturbelassene Wurzelgemüse ergänzt perfekt die Palette der Produkte der Marke antonius Bio. Weil es arbeitsintensiv ist, finden viele Menschen eine sinnvolle Beschäftigung. Auch jemand wie Theresa Engelbrecht. Sie macht gerade ihr antonius Jahr und diesen sozialen Dienst leistet sie so, dass sie einfach im Geschehen mitmischt.

AUGENHÖHE MUSS HIER
NICHT HERGESTELLT WERDEN

Sie ist keine „Betreuerin“, die besorgt das Geschehen vom Rand aus beobachtet, sie ist Mitarbeiterin wie alle anderen auch – mit ebenso leuchtend roten Handschuhen und einem Schälmesser in der Hand. Augenhöhe muss hier nicht hergestellt werden. Kann sie abends noch Rote Bete sehen? „Na ja, wir verarbeiten auch andere Gemüsesorten und trocknen auch mal Apfel- und Gemüsechips“, sagt sie lachend. „Es geht also.“ Am liebsten isst sie Rote Bete mit Feta im Salat. Franziska Müller gesteht, dass sie eigentlich gar nicht so gern Rote Bete isst. „Aber die Arbeit macht mir trotzdem Spaß.“


... und das ist gut so!

500 Gramm sollen im Beutel landen, dafür ist sie verantwortlich. Konzentriert steht sie vor der Waage. „570 Gramm sind zu viel, da muss eine Knolle wieder raus. Aber 540 geht gerade so“, sagt sie, bevor sie die Metallschüssel von der Waage nimmt und an Annika Geisler weiterreicht. Diese nimmt sie und kippt den Inhalt über eine spezielle Vorrichtung in die Tüte, damit die Stelle, an der gleich geschweißt wird, nicht schmutzig wird.
Parallel dazu hat Nathalie Heil mit einem Laserdrucker das MHD und die L-Nummer auf die Tüten gedruckt, mit der man das Produkt zurückverfolgen kann. 200 hat sie heute schon geschafft. Noch 50, „und dann würde ich auch gern schälen.“


... ist ein arbeitsintensives Produkt ...

Nach dem Vakuumieren geht‘s endlich los: Alle Beutel kommen in einen großen Edelstahlkorb, der von einem Kran in den gasbetriebenen Autoklaven gehievt wird. In diesem gigantischen Topf wird alles etwa sechs Stunden gekocht. Den Prozess kann man auf dem PC beobachten, auf dem er auch dokumentiert wird. Danach werden die Beutel zum Abkühlen in eine Wanne mit kaltem Wasser gelegt.

AM ENDE MUSS DAS GANZE
AUCH WIRTSCHAFTLICH DARSTELLBAR
SEIN, UND DAS IST
KEINESWEGS LEICHT

„260 Kilogramm regionale Bio-Rote-Bete verarbeiten wir am Tag“, sagt Conni Leister, die seit 30  Jahren bei antonius arbeitet. Convenience liege im Trend und könne auch gesund sein. Die Beutel mit dem Wurzelgemüse werden im Supermarkt vertrieben. Es ist kein Massen-, sondern ein Nischenprodukt. Nur mit der Erzeugung spezieller und hochwertiger Lebensmittel lassen sich soziale und betriebliche Ziele in Einklang bringen.


Am Ende muss das Ganze auch wirtschaftlich darstellbar sein und das ist keineswegs leicht. Aber der Marktdruck istgewollt: Wirtschaftliche Dynamik soll in soziale Dynamik verwandelt werden. Weil der Abnehmer auf Lieferterminen beharrt und hohe Qualitätsstandards einfordert, kommt Schwung in die Bude. Genau dieser Drive in den antonius Betrieben wird von den Mitarbeitern als sehr lebendig, erfüllend und manchmal auch fordernd erlebt. So entstehen Arbeitswelten, in denen Menschen wachsen können. Deshalb versucht antonius, Gemüseanbau und Verarbeitung weiter auszubauen, damit in Zukunft noch mehr Menschen wie Steffi Jaschinski echte Arbeit finden, statt nur beschäftigt oder therapiert zu werden. Hierzu braucht es immer wieder kreative Produktideen und den offenen Blick dafür, was ein Mensch in seiner besonderen Situation leisten kann – und sei es in Form eines Pinzettengriffs.

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