Freundschaft – grenzenlos

Auf einmal war die Grenze offen! Viele Jahre eingesperrt und nun plötzlich frei?

Das können der junge Familienvater Raimund Jakob und seine Frau Beate aus Wenigentaft im ehemaligen Sperrgebiet nicht glauben, als sie zum Zeitpunkt der Grenzöffnung gerade ein Konzert in Gotha besuchen. Als sie ahnungslos in ihrem Heimatdorf ankommen, teilen ihnen die jubelnden Dorfbewohner die freudige Nachricht mit. „Wir sind sofort umgedreht und über die Grenze nach Rasdorf gefahren“, erinnert sich der damals 25-Jährige. Einige Wochen später, nach dem Besuch eines Dankgottesdienstes anlässlich der Grenzöffnung, trifft Jakob in der Gaststätte Walk in Grüsselbach einen flüchtigen Bekannten, mit dem er ein einschneidendes Erlebnis an der innerdeutschen Grenze teilt.

Im Jahr 1988 musste Jakob die Felder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft entlang der Ost-West-Grenze bearbeiten. Dabei bemerkte er einen Landwirt auf der Westseite des Zauns, der dort derselben Arbeit wie Jakob nachging. Es handelte sich um Josef Gombert aus Grüsselbach. Nach kurzem Zögern kamen beide miteinander ins Gespräch – ganz zufällig und intensiv über die Ernte und den Anbau von Mais. Was als kurzer Wortwechsel zwischen zwei Landwirten begann, endete schließlich im Auftauchen der Grenzsoldaten. „Sofort aufhören!“, erinnert sich Jakob an die Worte der Grenzer bei seiner Festnahme. Der damals 24-Jährige wurde daraufhin zum Verhör in die Kompanie nach Geisa bestellt. Dort wollten ihm Stasi-Männer und Offiziere der Nationalen Volksarmee den Straftatbestand des Vaterlandsverrats anhängen, wenn er keine Reue für sein angebliches Fehlverhalten an der Grenze gezeigt hätte. Erst unter Androhung einer Trennung von seiner Familie gab er nach. Dieses Erlebnis veränderte den Vater dreier Töchter nachhaltig. „Ich wusste, ab jetzt konnte ich mir kein Ding mehr erlauben, sonst hätte man mich definitiv weggesperrt“, so der junge Familienvater. Jakob hatte seine bisher heftigste Erfahrung mit dem System gemacht. Zutiefst eingeschüchtert hielt er sich in der Folgezeit vom Eisernen Vorhang fern. Josef Gombert sah er also vorerst nicht mehr wieder. Raimund Jakob, geboren 1964 und in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, war schon früher mit dem sozialistischen Regime aneinandergeraten. So hatte ihn sein Lehrer durch die Abschlussprüfung im Fach „Sozialistisches Recht“ fallenlassen, weil er sich nicht zu kritischen Äußerungen gegenüber Papst Johannes Paul II. hatte verleiten lassen. Auch das Alltagsleben im Sperrbezirk war von Repressalien geprägt. So schildert Jakob beispielsweise: „Man brauchte sogar einen Passierschein, nur um aus Buttlar in das 500 Meter breite Sperrgebiet bei Wenigentaft, in dem mein Elternhaus stand, zu gelangen. Und Buttlar selbst lag noch im 5-Kilometer-Sperrgürtel!“

Trotz dieser strengen Regelungen entschied er sich leichtsinnigerweise dazu, seine damalige Freundin und heutige Ehefrau Beate kurzerhand in mehreren Nacht- und Nebelaktionen ins Sperrgebiet einzuschleusen. Obwohl er dabei sehr vorsichtig vorging, erwischte ihn der „Ortssheriff“, der sogenannte Abschnittsbevollmächtigte. „Noch einmal, und sie kommt nie wieder nach Wenigentaft!“, drohte er ihm. Dabei war es nicht nur der ABV, der den Menschen zu schaffen machte. Man konnte sich nie sicher sein, dass man nicht von einem Spitzel angeschwärzt wurde. In der Kerngemeinde von Wenigentaft bestand laut Jakob noch ein überwiegend solidarisches Verhältnis. Wer Jakob damals beim ABV verraten hat, weiß er bis heute nicht. Sonderbarerweise lässt sich auch keine Stasi-Akte über Jakob finden. „Die muss wohl jemand rechtzeitig weggeschafft haben,“ folgert er. „Denn damals hatte fast jeder aus der DDR eine.“ In den Westen zu fliehen war für den jungen Mann aus Wenigentaft allerdings nie eine ernsthafte Option. Von seinem Traktor aus hätte Jakob bei seinen früheren Feldarbeiten vielleicht über den Zaun springen können. Doch die Bindung an seine Familie hielt ihn davon ab. Schließlich gab es einige Menschen aus Wenigentaft und Umgebung, die noch vor dem Bau der Mauer geflohen waren. Oft versammelten diese sich später auf der westdeutschen Seite am Standorfer Berg, um ihren Verwandten mit weißen Taschentüchern zuzuwinken. Dies war oft dann der Fall, wenn auf dem grenznahen Friedhof in Wenigentaft eine Beerdigung stattfand. „Die hatten natürlich Heimweh!“, betont Jakob. Doch das Regime duldete keine Sentimentalitäten mit den sogenannten „Republikflüchtlingen“. Wenn die Trauergäste offensichtlich zurückgewinkt hätten und dabei von den Grenzsoldaten auf dem Wachturm oberhalb des Friedhofs gesehen worden wären, hätten sie Schwierigkeiten bekommen, so Jakob. Ein solcher Zustand der Isolierung wäre für ihn unerträglich gewesen.

Umso glücklicher waren die Menschen aus Wenigentaft, als am 10. November 1989 die Grenze endlich offen war. So gab es auch im Jahr der Wende, und damit zwei Jahre nach der ersten Begegnung, ein Wiedersehen zwischen Jakob und seinem Bekannten jenseits des Eisernen Vorhangs. Nachdem die Grenze auch zwischen Wenigentaft und Mansbach durchlässig geworden war, erzählte er dem Wirt der Grüsselbacher Gaststätte Walk von seiner verhängnisvollen Begegnung am Eisernen Vorhang. Dieser wusste sofort, um wen es sich bei Jakobs damaligem Gesprächspartner am Grenzzaun handelte: um Josef Gombert. Dieser hatte nämlich ein Jahr zuvor in Grüsselbach von dem Zwischenfall mit den Grenzsoldaten erzählt und sich Sorgen um Raimund Jakob gemacht. Die Vorfreude auf ein Treffen der beiden lag nun in der Luft. Der Wirt reagierte schnell und rief Josef Gombert sofort zu Hause an. Trotz der späten Uhrzeit erschien Gombert 15 Minuten später im Gasthaus, völlig überrascht und noch in Hausschuhen. Jakob und sein Bekannter trauten ihren Augen kaum. Dann gab es für die Glücksgefühle kein Halten mehr. „Das war eine unbeschreibliche Stimmung“, erinnert sich Raimund Jakob an diesen Abend. Anschließend wurde im Wirtshaus Walk noch bis in die frühen Morgenstunden gefeiert. Aus diesem Treffen entwickelte sich eine bis heute andauernde, intensive Freundschaft. Mittlerweile hat es Josef Gombert zwar beruflich nach Tennessee in die USA verschlagen, aber die Familien Gombert und Jakob treffen sich nach Möglichkeit auch heute noch regelmäßig.

Die deutsche Einheit brachte für die Menschen im Sperrgebiet weitreichende Veränderungen. Die soziale Absicherung durch den alten Staat und dessen System der totalen Regulierung gab es nun nicht mehr. „Wir waren mit der neuen Vielfalt an Möglichkeiten, die der Westen zu bieten hatte, zuerst völlig überfordert“, so Jakob. Dennoch haben die Wiedervereinigung und die dadurch hinzugewonnene Mobilität für ihn und die Menschen aus dem ehemaligen Sperrgebiet viele neue Perspektiven eröffnet. Seitdem ist Jakob auf beiden Seiten der ehemals innerdeutschen Grenze fest verwurzelt: Er arbeitet aktuell bei einer Baufirma in der Gemeinde Eiterfeld und spielt in Mansbach in der Musikgruppe „Die lustigen Eitrataler“. In Wenigentaft engagiert er sich noch immer als Lektor in der Kirchengemeinde St. Georg.

Nach über 40 Jahren Gefängnis im eigenen Land kann das Fazit von Jakob und vielen seiner Mitmenschen aus dem ehemaligen innerdeutschen Grenzgebiet kaum eindeutiger sein. „Nie wieder Zaun!“, wünschen sie sich zum 25-jährigen Bestehen der deutschen Einheit.

von Benedikt Rippert und Maximilian Huber

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