Geht auch ohne Muskeln: „Buddy- Building“

Kommen Sie näher. Haben Sie keine Angst. Ich möchte, dass Sie alles vergessen, was Sie über Süchtige gehört haben.
Ich weiß, Sie haben keine Vorurteile. Sie sind ein weltoffener, verständiger Mensch.

 

Deshalb: Folgen Sie mir. Wir wollen jetzt die Seite wechseln. Alles, was Sie brauchen, ist ein neuer Blickwinkel.

Natürlich, Sie selbst haben einen Kumpel, den Sie anrufen können. Der Ihnen zuhört, wenn die Geländer des Lebens wegbrechen und der Boden schwankt. Vermutlich verfügen Sie sogar über ein ganzes Netzwerk von Stabilisatoren. Ein Anruf genügt, und ein Ohr öffnet sich.

Was aber, wenn sich kein Ohr mehr öffnet? Wenn jemand komplett aus seinem Netzwerk herausgefallen ist? Wenn die Sucht vollständig den Boden verbrannt hat, auf dem Offenheit und Vertrauen gedeihen?

Dann braucht dieser Mensch erst recht jemanden, der ihm zuhört, ihm die Hand reicht. Die Ehrenamtlichen des „Buddy“-Projekts sind Menschen, die in solchen Situationen die Hand reichen; die einen Neuanfang mitgestalten. 

Abrutschen kann jeder im Leben – niemand ist davor gefeit. Die Patienten der Suchthilfe Fulda sind abgerutscht. Gründlich. Herausgefallen aus ihrem Job, ihrer Familie, ihrem Freundeskreis. Nun versuchen sie, etwas von ihrer alten Stabilität wiederzuerlangen.

Menschen zu Buddys machen

Seit September 2012 gibt es das Buddy-Projekt (engl. für „Kumpel“ oder „Freund“). Die Grundidee ist, Menschen zu Buddys auf ehrenamtlicher Basis zu machen: Zu Begleitern für Patienten.

Michaela Kersting, Sozialpädagogin und Projektmanagerin dieses Projekts, klärt seit Jahren über Drogensucht auf: „Süchtig zu sein ist nicht etwas, für das man sich bewusst entscheidet“, sagt sie. „Es ist eine Krankheit. Hinter jedem einzelnen Schicksal steht ein Mensch – kein Junkie.“

„Junk“ ist der englische Begriff für Müll oder wegwerfen. Genau so werden die Patienten oft behandelt – wie menschlicher Abfall. Damit soll Schluss sein. Die Suchthilfe Fulda e. V. versucht, die Sichtweise auf Abhängige zu ändern.

Am Buddy-Projekt nehmen nur Menschen teil, die sich entschlossen haben, von der Sucht wegzukommen. Den ersten Schritt haben sie getan: Sie haben sich an die Suchthilfe gewandt und sind in das Methadon-Programm eingestiegen. Dabei wird die Droge Heroin durch den Ersatzstoff Methadon ausgetauscht. Der hohe Druck, Drogen auch mit kriminellen Methoden beschaffen zu müssen, entfällt damit.
Solange die Droge das Leben bestimmte, hatten sie keine Chance auf einen geregelten Tagesablauf, feste Kontakte und Absprachen. Nun können sie wieder ein selbstbestimmtes Leben führen.

„Ein wahrer Freund sieht über deinen zerbrochenen Gartenzaun, um die Blumen dahinter zu bewundern.“  Wilhelm Raabe

Innerhalb des Programms werden die teilnehmenden Patienten „Freizeitpartner“ genannt. Denn darum soll es gehen: miteinander Freizeit gestalten, ins Kino oder Museum gehen, wandern oder shoppen. Der Buddy übernimmt keine psychologische Betreuung, sondern soll seinem Freizeitpartner helfen, sich wieder im alltäglichen Leben zurechtzufinden. Er leistet Aufbauarbeit, einfach dadurch dass er als Kumpel verlässlich zur Stelle ist: Buddy-Building könnte man das nennen.

Die Projektleiterin wählt die Partner aus und stellt Paare zusammen, die ungefähr im gleichen Alter sind, ähnliche Interessen oder Einstellungen haben. Buddy und Freizeitpartner tauschen zunächst nur Telefonnummern aus – Adressen werden nicht genannt.

Im Idealfall soll der Buddy den Freizeitpartner ein Jahr lang begleiten – aber dazu kommt es nicht in allen Fällen, denn einige Patienten sind nicht immer absprachefähig. Doch damit können die Buddys umgehen. Wer in das Projekt einsteigt, weiß, worauf er sich einlässt. 

Menschen zu Buddys machen

Beim Buddy-Treff im SeitenWechsel-Gebäude tauschen die Freiwilligen ihre Erfahrungen aus. Eines fällt sofort auf: Jeder Buddy verteidigt seinen Freizeitpartner. Auch wenn er mal von ihm versetzt oder enttäuscht wurde. Wie echte Kumpels eben.

„Unser erstes Treffen lief super“, erzählt eine junge Frau. „Ich habe meine Freizeitpartnerin in der Havanna-Bar getroffen. Wir haben drei Stunden gequatscht, und ich hatte das Gefühl, sie wäre gerne noch länger geblieben.“

Ihre Partnerin ist ein paar Jahre älter, doch die beiden haben gemeinsame Interessen. „Sie hat mir erzählt, dass sie gerne Polnisch lernen würde. Da ich gelernte Fremdsprachensekretärin bin, konnten wir uns wunderbar über Sprachen austauschen. Wir haben uns gegenseitig Vokabeln abgefragt. Sie war stolz darauf, wie viele Wörter sie wusste.“

Es ist wichtig für die Freizeitpartner, wieder von einer anderen Person anerkannt zu werden. Es geht darum, die Persönlichkeit der Patienten zu stärken, anstatt sie zu entmündigen, wie das früher oft der Fall war. „Man muss den Menschen ernst nehmen und ihm zuhören“, betont Frau Kersting. „Mit Zwang wird man niemals etwas erreichen.“

Fast alle Patienten haben eine niedrige Frustrationsgrenze. Kleinste Schwierigkeiten bringen sie dazu, alles hinzuwerfen. Ein kaputtes Handy kann ein Grund sein, sich nicht mehr bei seinem Buddy zu melden.
„Sucht ist sehr komplex“, erklärt Frau Kersting. „Die ehemaligen Abhängigen müssen im Inneren ständig mit ihren eigenen Dämonen kämpfen.“ Auch wenn es anfangs gut läuft, kann ein Freizeitpartner zu jeder Zeit abspringen.

„Nach unserem Treffen hat sich meine Partnerin leider nicht mehr gemeldet“, erzählt die junge Frau, „obwohl sie sich wohlgefühlt hat.“ Die Projektleiterin ist derselben Meinung: „Ich weiß, dass der Patientin das Treffen gefallen hat. Doch sie hatte Probleme mit ihrem Freund, fühlte sich überfordert: Leider ist sie nicht absprachefähig.“ Für den Buddy ist das jedoch kein Grund aufzugeben. Sie freut sich bereits auf den neuen Freizeitpartner, der ihr bereits zugeteilt worden ist.

Unter den Buddys ist auch ein Ehepaar, das gemeinsam am Projekt teilnimmt. Ihre Freizeitpartner waren ebenfalls ein Paar. „Wir haben uns siebenmal mit ihnen getroffen, uns zum Beispiel in der Rhön zum Wandern verabredet. Sie haben uns ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Vor ein paar Jahren waren sie sehr erfolgreich gewesen und hatten ein geregeltes Leben geführt. Wenn sie nicht von ihren Problemen erzählt hätten, wären wir nie darauf gekommen, dass sie in dem Programm sind.“

Es sei ihnen wichtig gewesen, dass ihre Buddys wissen, dass es ein Leben vor den Drogen gegeben hat. „Natürlich gibt uns das zu denken. Wir haben uns gefragt: Könnte es nicht auch anders herum sein? Könnten wir an ihrer Stelle sein?“

Menschen mit dieser Einstellung sind sehr wichtig für das Projekt

In Zukunft soll es noch weiter ausgebaut werden, sodass Frau Kersting aus einem größeren Pool an Buddys auswählen kann. Buddy kann jeder werden, der volljährig ist und sich diese Aufgabe zutraut. 

Frau Kersting bietet vorab eine ausführliche Aufklärung. Eine gute Vorbereitung ist wichtig. „Natürlich sind beide Seiten vor dem ersten Treffen aufgeregt – es ist ja fast wie ein Blind Date“, lacht sie. Die Buddys bestätigen das. „Man hat eher Angst, dass man mit der Person nicht auf derselben Wellenlänge liegen könnte – genau so wie es mit jedem anderen Fremden ist.“

In einem sind sich alle sicher: Das Projekt ist eine Herausforderung, an der man wachsen kann. „Die Sichtweisen ändern sich natürlich“, bestätigt Frau Kersting, „sowohl für die Freizeitpartner als auch für die Buddys. Genau das ist unser Ziel.“

Wer Interesse an dem Projekt hat und sich vorstellen kann, selbst Buddy-Building zu machen, also als ein Freizeit-Kumpel Aufbauarbeit zu leisten, kann sich beim SeitenWechsel Fulda oder direkt bei der Suchthilfe-Fulda e. V. melden.

Anna-Pia Kerber

Zurück