Gute Momente in schlechter Zeit

Alzheimer. Für Betroffene und deren Angehörige ist die Diagnose ein Schock.

Erinnerungen verschwimmen zusehends im Nebel, fremde Gesichter erzählen Unverständliches und schließlich löst sich das Ich fast vollständig auf. Doch während vieles verloren geht, gibt es auch etwas zu gewinnen, wie der Besuch des Wohnbereichs für Demente in der K&S Seniorenresidenz in Bad Hersfeld zeigt.

Durch große Fenster scheint die Sonne in den Gemeinschaftsraum der K&S Seniorenresidenz. Im Radio dudelt leise Schlagermusik. Das Frühstück steht kurz bevor, als die ersten Bewohner bereits eintrudeln. „Was soll ich machen? Was ist denn los mit mir?“, fragt eine Dame in die Runde, bevor sie sich auf ihren Platz setzt. „Es ist alles in Ordnung, Sie frühstücken gleich“, entgegnet die Alltagsbegleiterin Birgit Brettschneider. „Was soll ich essen?“ – „Ihr Frühstück.“ Dann spricht der Tischnachbar die Dame an: „Sind Sie schon lange hier?“ – „Nein.“ – „Auch erst gestern angekommen?“ – „Ja.“ Während der Fragesteller tatsächlich die erste Nacht in der Seniorenresidenz verbracht hat, lebt die Dame bereits seit einem halben Jahr hier.

Viele haben die so genannte „gnädige Schwelle“ hinter sich gelassen: Sie wissen nicht mehr, dass sie krank sind. Sie fühlen sich normal, sind mit ihrer Welt im Reinen. Doch in diesem Moment spürt die Dame, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie bekommt es nicht zu fassen und fühlt sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. „Möchten Sie etwas essen?“, versucht Brettschneider abzulenken. „Ich glaube nicht … Ich weiß es nicht.“ Sie nimmt ihr Hungergefühl nicht mehr wahr und würde auf sich gestellt wohl tagelang nichts zu sich nehmen.

Während sie noch rätselt, bleibt ein Herr zögernd im Eingang stehen. Ob er heute schon einmal da gewesen sei, möchte er wissen. Später wird er noch ein zweites Mal frühstücken, aber die dritte Mahlzeit wird ihm mit dem Hinweis, er habe schon gegessen, verwehrt. Nörgelnd wird er daraufhin den Raum verlassen. „Dann sparen Sie sich das halt!“ Manch einer sitzt apathisch vor dem Teller und muss das Essen gereicht bekommen. Dazu aufmunternde Worte, begleitet von einem zarten Streicheln über Schulter und Rücken. „Sie frühstücken, Ihr Brötchen steht vor ihnen.“ Plötzlich wirkt eine Bewohnerin verunsichert. „Wir sind in Bad Hersfeld, oder? – „Ja.“ – „Es gibt nur ein Bad Hersfeld, oder?“ Auch wenn immer wieder kurze Dialoge aufkommen, ist es meist still im Raum. Tischgespräche sind selten, da jeder Bewohner in seiner eigenen Welt lebt. Niemand stört sich am fremden Gesicht des Reporters, der fleißig mitschreibt und fotografiert. Schließlich sind jeden Tag mitunter alle Gesichter fremd.

Einige Bewohner, die sich noch besser orientieren können, nehmen ihre Mahlzeiten lieber im Parterre ein. Sie kommen mit den anderen kaum klar, weil sie deren Aussagen zu ernst nehmen. Manchmal geben sie Widerworte, wodurch zwangsläufig Konflikte entstehen. Weil die Menschen im fortgeschrittenen Stadium ihre eigene Welt nicht mehr überschreiten können, ist jeder von seiner individuellen Wahrheit unbedingt überzeugt. Daher ist es für Begleiter und Besucher wichtig, dies zu akzeptieren und die Menschen wertzuschätzen, wie sie sind.

Viele Bewohner sind erst „seit gestern“ da oder warten auf ihre „Mami“, die sie bald abholen wird. Das gefühlte Alter der über Achtzigjährigen ähnelt mitunter dem eines Kleinkinds. Statt zu korrigieren, lenken Pfleger und Alltagsbegleiter das Gespräch lieber in eine andere Richtung und fragen beispielsweise, was ihre Mütter denn gerne für sie als Kinder gekocht haben.

"Das kennen wir!" - Geschichten und Gedichte bringen das Ich zurück

 

 

Nach dem Frühstück geht es angesichts des herrlichen Wetters auf die Sonnenterrasse. Brettschneider liest kurze Geschichten und Gedichte vor, die sie gezielt ausgewählt hat. Die meisten Bewohner haben in ihrer Schulzeit Klassiker auswendig lernen müssen. So liest sie passend zur Jahreszeit Frühlingsgedichte vor oder nimmt Bezug auf aktuelle Ereignisse wie den Muttertag. Eine Geschichte handelt davon, was Mütter so tun und sagen: „Draußen ist es kalt, also zieh Dir eine lange Unterhose an.“ – „Das kennen wir“, ruft ein Bewohner freudig. Plötzlich rutscht eine Dame unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, macht wehleidige Geräusche. „Wir sind draußen, weil Frühling ist, und ich lese etwas vor“, erinnert Brettschneider sie gelassen, und schon ist die Zuhörerin wieder beruhigt.

Weil drei mal sieben einundzwanzig ist

Weil drei mal sieben einundzwanzig ist

 

 

In einer anderen Geschichte entdeckt ein Stubenhocker, wie gesund es ist, an die frische Luft zu gehen. Tatsächlich sind manche Bewohner eher Einzelgänger und ziehen sich in ihr Zimmer zurück, während andere in der Stadt oder im nahen Kurpark spazieren gehen oder Gesellschaftsspiele lieben. Isolation im Zimmer ist alles andere als förderlich, denn ohne äußere Reize verläuft die Krankheit schneller. Wer sich partout nicht aus dem Zimmer locken lässt, ist vielleicht für Gespräche empfänglich.

Bald ist es Zeit für das Mittagessen und wieder versammeln sich einige Bewohner im Gemeinschaftsraum. „Gehe ich heute nach Hause?“ – „Nein, Sie haben Ihr Bett hier und schlafen auch hier.“ Zögernd blickt der Fragesteller in die Runde. „Die anderen auch?“ – „Alle schlafen hier.“ – „Dann ist es ja gut, Ihnen glaube ich.“

Während Mitarbeiter die Tische decken, zeichnet Brettschneider mit Buntstiften auf den unteren Rand eines Blatt Papiers eine grüne Wiese mit einer roten Tulpe. Die Bewohnerin blickt teilnahmslos die ihr angebotenen Stifte an. Einige Minuten später greift sie jedoch zögerlich zu und kritzelt in dünnen Strichen zuerst auf der Serviette und dann auf dem Papier hauchdünne Zahlen. „Ich nehme mir mal drei mal sieben, weil drei mal sieben 21 ist“, sagt sie fast stolz. „Hier ist was los“, kommentiert der Tischnachbar sichtlich genervt. Den Herrn ignorierend fährt sie fort: „Ich hab das noch nicht fertig geschrieben, aber ich lass das so.“

Eine Dame strahlt über das ganze Gesicht, nachdem man ihr mitgeteilt hat, dass gleich ihr Sohn kommen wird. Sie erkennt ihn zwar nicht als ihr Kind, aber immerhin als eine sympathische und vertraute Person. Viermal in der Woche ist Bernd Gutberlet zu Besuch. Er fängt an seiner Arbeitsstelle morgens extra früher an, um in der Mittagspause seiner Mutter Essen reichen und mit ihr Zeit verbringen zu können. Freitags arbeitet er gar nicht mehr, auch wenn er dadurch auf einen Teil seines Gehalts verzichten und in seiner beruflichen Karriere zurückstecken muss. „Vor ein paar Monaten hat sie sich immer gefreut, mich zu sehen, heute nimmt sie mich maximal ein bisschen wahr. Die Augenblicke, in denen sie mir ein Lächeln schenkt, werden immer weniger – umso bewusster genieße ich sie.“

Für die Familie war die Diagnose ein herber Schlag, besonders seinen Vater hat es stark getroffen. Schließlich verschwand seine geliebte Partnerin, mit der er Jahrzehnte verbracht hat, Stück für Stück in eine für ihn unzugängliche Welt. Er betreute sie anfangs zu Hause rund um die Uhr. „Ihm standen manches Mal die Tränen in den Augen, was ich an ihm noch nie gesehen hatte.“ Im Ehegelübde heißt es: „In guten wie in schlechten Zeiten.“ „Das hier ist gelebte schlechte Zeit“, sagt Gutberlet ernst. Wie genau die Krankheit verläuft, kann niemand sagen. Die Tendenz weist bergab, aber mitunter gibt es Schübe. Innerhalb weniger Tage konnte Gutberlets Mutter nicht mehr laufen und sitzt seitdem im Rollstuhl.

Die Mahlzeit kommt, seine Mutter isst langsam und legt zwischen den Bissen immer wieder den Kopf auf den Tisch. Sie kaut bedächtig, lässt sich nicht drängen, der Sohn wartet geduldig, bis er den nächsten Löffel anreichen kann. Auf Fragen gibt sie meist keine eindeutige Antwort. Doch er konzentriert sich auf das, was möglich ist. „Aus der Not heraus muss man lernen, mit der Krankheit umzugehen.“ Bewusst haben sie sich schöne Momente geschaffen, aus denen er heute Kraft zieht. In einem Italienurlaub fragte ihn seine Mutter in einem klaren Moment: „Gell, du lässt mich aber nicht allein?“ Auch heute noch läuft dem Sohn ein wohliger

Schauer über den Rücken, wenn er daran denkt. Seine Mutter war immer für ihn da, und durch ihre Krankheit hinterfragt er sein Leben noch genauer. Er möchte so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen und nicht nach ihrem Ableben falsche Prioritäten bereuen müssen. „Wenn das Schicksal uns so etwas auferlegt, dann will ich alles ergründen, fühlen und kennenlernen; auch wenn es bisweilen hart ist.“ Nicht jeder kann derart offen mit dieser Situation umgehen. Viele gehen verunsichert auf Distanz. Als seine Mutter noch zu Hause war, kamen einmal weniger Verwandte als erwartet zu einem Weihnachtsessen. „Natürlich habe ich dafür Verständnis, auch wenn ich damals sehr enttäuscht war.“

Spüren, was wirklich wichtig ist

Spüren, was wirklich wichtig ist

 

 

Wenn die bewusste Kontrolle schwindet, fallen bei Demenzkranken die gesellschaftlichen Masken und der wahre Wesenskern tritt zutage. „Ich bin stolz auf meine Mutter, denn sie zeigt den liebenswerten Charakter, den ich immer bei ihr wahrgenommen habe.“ Und sie ist auch heute noch eine gute Lehrmeisterin. Als siezusammen in einem Café saßen, beide jeweils ein Stück Kuchen vor sich, ließ er sich komplett auf ihren Rhythmus ein. Zeitgleich mit seiner Mutter nahm er einen Bissen, blendete das Umfeld komplett aus, konzentrierte sich auf das Kauen und nahm den Geschmack bewusst wahr. Statt das Kuchenstück in wenigen Minuten zu verputzen, haben sie eine halbe Stunde benötigt. So hat er sich angewöhnt, generell langsamer zu essen, aber auch in andere Lebensbereiche strahlt dieses Erlebnis, die Entschleunigung aus. Anstatt blind etwas hinterherzulaufen, hinterfragt er und spürt in sich hinein, was in seinem Leben wirklich wichtig ist.

„Wenn man mir vor 20 Jahren eine Pille für das ewige Leben gegeben hätte, hätte ich sie genommen und geschluckt. Heute würde ich sie nehmen und wegwerfen.“ Irgendwann komme das Gefühl, das eigene Leben gelebt zu haben und in Frieden gehen zu können. „So soll es sein.“

Von Jens Brehl

Zurück