Im Dschungel der Irreführungen

„Es genügt, neue Namen […] zu schaffen, um auf die Länge hin neue ,Dinge‘ zu schaffen.“

Das sagte Friedrich Nietzsche und meinte damit, dass derjenige, der die Dinge benennt, sie auch beherrscht. Er beherrscht die Art, wie wir darüber denken – und zu denken haben. So werden zum Beispiel Menschen, denen es materiell schlecht geht, zu „sozial Schwachen“ umdeklariert, wo wir doch bei gesundem Menschenverstand ahnen, dass es meist eher umgekehrt ist. Schon als Sternsinger konnte ich die Erfahrung machen, dass die Freigiebigkeit an den Wohnungstüren der Armen viel größer war, als an den Villentüren der gut Situierten. Menschen, die vor Krieg und anderen lebensbedrohenden Zuständen fliehen müssen, mutieren zu „Flüchtlingswellen“ und lösen damit Ängste wie die vor Naturkatastrophen aus. Ist von „Eigeninitiative“, „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Bürokratieabbau“ die Rede, geht es meist um die Verschleierung des Abbaus von Schutzrechten. „Gute-Macht-Geschichten“ eben, wie sie in dem erst kürzlich erschienenen Wörterbuch der Irreführung erzählt und enttarnt werden.

„Jaja“, werden Sie jetzt vielleicht sagen, „so sind sie eben, die Politiker!“ Wie immer sind wir die Opfer, denen allerhöchstens bleibt, die Volksvertreter durch Nichtwählen zu strafen.

Aber Achtung! Sind wir uns unseres Sprachgebrauchs immer bewusst? Huschen uns nicht auch permanent Floskeln über die Lippen? Vielleicht sollten wir uns mehr auf die Forderung des Journalisten Wolf Schneider einlassen: „Wer nichts zu sagen hat, der möge schweigen.“ Oder auf die von Karl Popper: „Wer´s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er´s klar sagen kann.“ Wer aber etwas zu sagen hat und es klar sagen möchte, der halte sich bitte an Arthur Schopenhauers Regel: „Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge.“

Diese Aufforderungen richten sich natürlich auch an uns, also an Menschen, die beruflich in der Behindertenhilfe arbeiten. Bei uns ist „Inklusion“ so ein Wort, das das Zeug dazu hat, einen in die Irre zu führen. Wir fordern lautstark Inklusion, ohne uns all das, was auch für Menschen mit geistigen Behinderungen möglich wäre, wirklich vorstellen zu können. Vielleicht wollen wir uns das auch gar nicht vorstellen, weil es den gewohnten Gang und die gewohnte Arbeit gefährden würde. So laufen wir selbst Gefahr, zu vergessen, dass ein selbstbestimmter Lebensentwurf häufig nicht am individuellen Handicap scheitert, sondern an den Barrieren, die wir „Normalen“ immer wieder unmerklich aufrichten. Wenn es ernst wird mit der Teilhabe, zucken wir immer noch sehr schnell zusammen. Auch wir Nicht-Politiker stellen nämlich mit unserem Sprachgebrauch Wirklichkeiten her. Bleiben wir wachsam!

In diesem Sinne

Ihr Hanno Henkel & Redaktionsteam

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