„Iss, Junge, Iss!“ Oder: Vom Tieferen Sinn des Bewirtens

von Arnulf Müller

Fast jeden Donnerstag ging ich mit Schulfreund Jü rgen zu dessen Oma zum Mittagessen. Wir waren elf oder zwölf Jahre alt. Wie es zu dieser Regelmäßigkeit kam, weiß ich nicht mehr. Auch ihren Namen habe ich vergessen, aber die Szene in der kleinen Küche könnte ich aufzeichnen. Wie sie in ihrer Kittelschü rze am Gasherd hantierte, während wir am Resopaltisch saßen und erwartungsfroh zu den dunkelblauen Emaille-Töpfen schielten. Dass sie außer ihrer Kittelschürze auch noch andere Kleidung besaß, hielt ich damals für unwahrscheinlich.

Nachdem sie uns ordentlich aufgeschöpft hatte, setzte sie sich zu uns, ohne selbst mitzuessen. Offenbar kochte sie nur für uns. Ich liebte das Essen. Anders als zu Hause gab es viel mehr Soße. Noch bevor die Teller leer waren, schöpfte sie nach und sagte eindringlich zu mir: „Iss, Junge, iss!“ Ich war nicht mal ihr Enkel, aber es schien, als läge die Verantwortung dafü r, ob ich noch wachsen wü rde, allein auf ihren Schultern. Die einzige Form des Dankes, die sie akzeptierte, war, sich bis zum Anschlag vollzustopfen. Wenn wir irgendwann der Ohnmacht nahe auf dem Stuhl nach hinten kippten, war alles gut. Wir gingen spielen, sie ging spülen.

Das Thema Gastfreundschaft hat viele Facetten. Jemanden auf gute Art zu bewirten, kann ein kompliziertes Unterfangen sein, vor allem, wenn es mit Erwartungen und Absichten aufgeladen ist. Das Schöne bei Jürgens Oma war, dass alles so einfach zuging und so klar in der Absicht war. „Iss, Junge, iss!“ Einem Gast zu essen oder zu trinken zu geben, ist die elementare Form, ihm zu zeigen, dass er gewollt ist. Der volle Teller lässt ihn für die nächsten Stunden weiterleben. Darin liegt eine Anerkennung seines Wesens. Wer den Stoffwechsel seines Gastes ankurbelt, gibt ihm zu verstehen: „Deine Geschichte ist es wert, weitergeschrieben zu werden.“

Eine Steigerung dieses Wohlwollens findet statt, wenn es zugleich darum geht, seiner Zunge zu schmeicheln. Der edlere Wein, die raffiniertere Speise kommen auf den Tisch, und nun geht es vor allem um die Hebung der  Lebensqualität, um Belebung und Genuss. In der Verfeinerung drückt sich besondere Wertschätzung aus. Da kann es sein, dass der Gastgeber sich restlos verausgabt, Kühlschrank und Keller plündert, ohne Rücksicht auf hauswirtschaftliche Klugheit. Aber Gastfreundschaft rechnet nicht, weder, was es gekostet hat, noch, dass man heimlich etwas zurückerwartet. Sie ist einseitig.


Doch je ambitionierter aufgetischt wird, desto größer die Gefahr, dass sich Nebenabsichten einschleichen. Das schließt Herzlichkeit nicht aus, aber der Gebende hofft ein bisschen, die Gabe möge auf ihn zurückverweisen. Wer seinen Gast durch Raffinement zu beeindrucken sucht, will nicht selten Lebensart und Niveau demonstrieren: Der wunderbar garnierte Teller wird zur Visitenkarte. Da dem geübten Gast solche Nebenabsichten nicht verborgen bleiben, fällt seine Dankbarkeit überschaubar aus. Man könnte sagen, der hyperkritische Gast ist die Strafe des auftrumpfenden Gastgebers. Nicht zufällig finden sich beide Züge oft in derselben Person, das heißt, der auftrumpfende Gastgeber ist in umgekehrter Rolle der etwas komplizierte Gast. Schließlich kennt er das Spiel.

Ein seitenfüllendes Unterfangen wäre es, das Thema Bewirtung dort auszuleuchten, wo Gastfreundschaft erwartet wird, wo sie aber mit der Kreditkarte abgegolten scheint: im Restaurant. Wo keine Rechnung offen ist, artikuliert der Gast erhöhte Ansprüche. Erstaunlich, wie selbstverliebt manche Leute gut hörbar den Kenner spielen und mit theaterhafter Pose Grauburgunder oder Entenbrust wegen kleiner Mängel zurückgehen lassen. Fast zwanghaft ihr Versuch, auch gegenüber ungelernten Aushilfskellnern den unermesslichen Abstand an Kultur herauszuarbeiten. Schließlich ist man, was man isst.

Doch zurück zum guten Kern. Jemanden einen Kaffee anzubieten, heißt, ihm Zeit schenken zu wollen. „Käffchen?“ Wer antwortet: „Lass mal, keine Umstände!“, weist weniger den Kaffee zurück als den Vorschlag, sich füreinander Zeit zu nehmen. Umgekehrt: Wer auf die Frage „Schnäps-chen?“ antwortet: „Warum eigentlich nicht?“, gibt ein Signal, dass er bereit ist, sich zu öffnen, den Alkohol wirken und die Zunge sich lösen zu lassen. Er gibt der Begegnung eine Chance. Wer Bewirtung anbietet, bahnt also zwischenmenschliche Vertiefung an. Deswegen lehnen die Kommissare im Tatort meist sogar Kekse ab, wenn sie Hausbesuche machen: Vertiefungen unerwünscht!

Wer jemanden zu Tisch bittet, holt ihn hinein in seine Welt und gewährt Einblicke: So essen wir, so riecht es hier, so leben wir. Deswegen machen sich Gastgeber oft schrecklich viele Gedanken. Man offenbart etwas, ohne genau zu wissen was. Sind dann die Köpfe erst mal über die Teller gebeugt, entspannt sich die Situation. Die Tischgenossen verrichten ihr gemeinsames Werk, sie putzen die Platten, synchronisieren Rhythmus und Bewegungen. Wo Schüsseln herumgereicht und Gläser wechselseitig eingeschenkt werden, bereitet sich auch eine geistige Synchronisation vor. Wohliges Sattsein und innerer Frieden bilden die Basis für offene Ohren und angeregte Gespräche. Manchmal folgt dem inneren Frieden dann auch der äußere. Charles de Gaulles und Konrad Adenauer fädelten bei Tomatencremesuppe, Seezunge und Rotwein den Elysee-Vertrag ein. Kohl überzeugte Gorbatschow mit gefülltem Saumagen. Europa ist ohne gute Bewirtung undenkbar.

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