Leichtigkeit im Luftmeer

Kommen Sie näher. Heben Sie den Blick. Sehen Sie den Korb? Steigen Sie ein.

Leichtigkeit im Luftmeer

 

Text & Fotos von Anna-Pia Kerber

Für diesen SeitenWechsel brauchen Sie Mut – denn wir werden gemeinsam den Boden unter den Füßen verlieren …

Ballonfahren. Losgelöst davon schweben in lichte, schweigende Höhen. Ein schöner Gedanke. Ein leichter Gedanke. Zumindest, solange man noch auf festem Boden steht. Aber wie ist das wirklich, wenn man abhebt? Das Luftmeer erobern. Dabei muss man bedenken, dass man etwas anderes nicht erobern kann, und das ist der Wind. Denn die Natur kann uns noch immer in unsere Schranken weisen. Aber fangen wir von vorne an.

Weil nicht alle über starke Luftfahrtnerven verfügen, habe ich mir das Ganze erst einmal aus sicherer Entfernung angesehen. An einem lauen Abend, Heuduft in der Luft, die Gäste im Korb ausgeruht, die Stimmung entspannt. Der seidene Ballon bauschte sich brav und warf bald einen exakten, prall-runden Schatten auf die abgemähte Wiese. Im Licht der untergehenden Sonne stieg er so sanft und gemächlich auf, dass man die glücklichen Gesichter der Passagiere noch lange über dem Korbrand leuchten sah. Eine perfekte Fahrt. Meine Nerven beschwichtigt. Ich war bereit für so viel Wolkenfrieden. Nur sollte mein eigener Start zwei Wochen später etwas anders verlaufen.

Der Franzose Bertrand Piccard, einer der letzten großen Abenteurer unseres Jahrhunderts, hat einmal gesagt: „Das Leben ist wie eine Ballonfahrt. Der Wind bläst Sie in eine Richtung, die Sie nicht kontrollieren können. Das einzige, was Sie kontrollieren können, ist die Höhe – und zwar dadurch, indem man Ballast abwirft. Im Leben ist es genauso. Sie verändern die Richtung Ihres Lebens nur dadurch, dass Sie Ballast abwerfen. Dogmen, Vorstellungen, Schablonen, Traditionen sind der Ballast, der verhindert, dass Ihr Leben eine Richtungsänderung erfährt. Nur wenn Sie den abwerfen, ändert sich die Richtung Ihres Lebens.“

So wie Piccard stammt auch der Ballonpilot Matthias Mattern aus einer abenteuerbegeisterten Familie. „Der wird auch mal fliegen“, war sich der Vater sicher. Doch im Gegensatz zu ihm und den Geschwistern, die den Motorsegelflugschein auf der Wasserkuppe gemacht haben, zog es Matthias bald zur Ballonfahrt. „Ballonfahren ist jedes Mal ein Abenteuer“, betont er. „Man weiß nie, wo man ankommt.“

Mehr noch als beim Fliegen, wo alles getaktet ist und jeder Flug minutiös nach strengen Regeln abläuft, geht es beim Ballonfahren um die Freiheit. Ein Ballon hält sich an keine Regeln. Sobald man aufsteigt, ist es, als würde man der lauten, von Stress dominierten Welt entkommen. Kein Lärm, kein CO2-Footprint – Ballonfahren ist umweltfreundliches Reisen im Einklang mit der Natur.

Hier geht es um Entschleunigung und darum, den Augenblick zu genießen. Hier geht es um den Weg – nicht um das Ziel. Denn das kann man ohnehin nur bedingt beeinflussen. „Einmal sind wir auf einer Weide gelandet, wo wir ein Schild entdeckten: Freilaufender Bulle – Lebensgefahr!“ Matthias kann diese Geschichten mit einem Lachen erzählen. Er hat über 550 Fahrten bestritten – und jeden einzelnen Gast sicher zu Boden gebracht.

Sein Ballonteam „Rhönlerche“ bietet den Gästen den Service, die Fahrt bei sich zu Hause zu beginnen. „Es ist schöner, zu den Leuten zu kommen. So können sie ihren Heimatort mal von oben sehen.“ Dadurch ist der gebürtige Gersfelder viel unterwegs. Doch wer ständig andere Orte sieht, wird der nicht irgendwann vom Fernweh überwältigt? „Nein“, erklärt Matthias entschieden. „Ich darf da wohnen, wo andere Urlaub machen.“ Im Dreiländereck Hessen, Bayern und Thüringen kann man in seinem Ballon Sonnenauf- und Untergänge erleben. Seine Gäste entstammen allen erdenklichen Berufs- und Altergruppen: vom siebenjährigen Kind bis zur 90-jährigen Großmutter.

Jede Fahrt verläuft anders. Vor allem bei Heiratsanträgen hat der Pilot schon einiges miterlebt. „Ein Mann hatte Höhenangst, wollte seiner Freundin aber etwas Großes bieten und hat sich schließlich zu einer Ballonfahrt durchgerungen“, erzählt er. „Allerdings hat der Bräutigam den Text in der Luft von einem Zettel abgelesen“, fügt er hinzu. Ein leiser Spott liegt in seiner Stimme, denn er selbst handelt aus der Situation heraus – und es gibt kaum etwas, das ihn im Luftmeer erschrecken kann.

Matthias Mattern vor dem Start: Routine hat gut lachen

Matthias Mattern vor dem Start: Routine hat gut lachen

 

Dennoch zeigt er größtes Verständnis, wenn ein Gast weniger mutig ist. „Bei einem Betriebsausflug merkte ich schon, dass die Frau ängstlich war. Aber sie wollte sich nicht vor ihrem Chef blamieren. Kurz nach dem Start war sie am Korbfußboden verschwunden. Fünf Minuten später hockten sie alle im Korb. Auch der Chef – der hielt nur einmal seine Kamera über den Korbrand.“

Dabei gibt es von oben so viel zu sehen. Den Gästen bietet sich nicht nur ein überwältigendes Panorama, sondern  ihnen eröffnen sich auch ungeahnte Perspektiven. „Einmal hatten wir einen Beamten vom Bauamt dabei. Der warf nur kritische Blicke in die Gärten und sagte: Der da hat keine Baugenehmigung, und der da auch nicht …“

Nur ein Gedanke behagt selbst Matthias nicht: „Ein Ballon mit Glasboden? Nein, den bräuchte ich auch nicht.“ Dass es so etwas einmal geben wird, hätten die Erfinder der Ballonfahrt auch nicht zu träumen gewagt. Die Gebrüder Montgolfier waren französische Papierfabrikanten, die mit dem aufsteigenden Rauch experimentierten und ahnten, dass man sich diese Kraft zunutze machen könnte. Ende 1783 wurde schließlich die erste Ballonfahrt mit Menschen durchgeführt, nachdem man eine Probefahrt mit Tieren organisiert hatte. Da die Unsicherheit groß war, entstand die Idee, Gefangene aus dem Kerker für die erste Ballonfahrt zu rekrutieren. Allerdings wurde man sich am französischen Hof schließlich einig, dass lieber ein Adliger in die Geschichte eingehen sollte – kein Krimineller. So waren die ersten Ballonfahrer Pilatre de Rozier und Marquis d’Arlandes, Freunde der Brüder Montgolfier. Noch heute wird jedem Passagier nach der Ballonfahrt ein Adelstitel verliehen – zusammen mit einigen symbolischen Rechten und Pflichten.

Als wir um sechs Uhr morgens starten wollen, ist es kalt. Der Wind hat die Richtung geändert und fegt die noch schlaffe Ballonhülle vom Rasen auf den Parkplatz. Der Stoff schweift über den Asphalt, wickelt sich um einen Pfeiler. Bald sind die Seile verdreht, die Ballonseide verfängt sich. Mit acht Personen versuchen wir, den Ballon wieder in die richtige Richtung zu dirigieren, sodass er mit heißer Luft befüllt werden kann. Die Männer müssen ihre gesamte Kraft aufbringen, um sich gegen die Taue zu stemmen, die den Ballon in Position halten.

Später als geplant ist der Ballon schließlich aufgerichtet. Die Farbe ist aus meinem Gesicht gewichen. Notfallbonbons werden verteilt, um die Nerven zu beruhigen. Bachblüten und Globuli. Die Jungs steigen ein. Ich bin als Letzte übrig. Ich zögere. Fange Matthias´ Blick. Sein Gesicht strahlt ruhige Gelassenheit aus. „Ich fahre schließlich auch mit“, sagt er zu mir.

Und ich denke daran, dass es eben Mut erfordert, die Seite zu wechseln. Ballast abzuwerfen. Ganz gleich, ob es dabei um Wertvorstellungen oder Vorurteile geht. Oder um Angst. Also beschließe ich, mich zu überwinden. Und steige ein.

Wir müssen hoch aufsteigen, um in die richtige Windströmung zu geraten. Eintausend Meter, zweitausend, zweitausendfünfhundert. Der frühmorgendliche Dunst leckt am Ballon, wir passieren die Wolken. Weit unter uns liegen die Felder wie ein unebenes Spielbrett ausgebreitet. Es dauerte eine Weile, bis ich die verkrampften Finger vom Korbrand löse, um die Kamera in die Hand zu nehmen. Da ist nichts mehr, was uns vom Himmel trennt. Ich fühle mich frei und zugleich verloren. Übermächtig und winzig klein. Es ist das Gefühl, das einen überkommt, wenn man einen neuen Weg einschlägt – mutig, stolz und letztendlich ein wenig einsam.

Neunzig Minuten später setzen wir sanft auf einem Feld auf. Die Farbe ist in mein Gesicht zurückgekehrt. Ich habe den Himmel berührt und die Wolken von oben gesehen. Ein fulminanter Start in den Tag. Was ich von diesem Morgen mitnehme, ist auch das Gefühl, mich selbst besiegt zu haben. Und ein klangvoller Adelstitel: Freifrau Anna-Pia, mutige Luftfee vom Ulstertal, im Weidenkorb ins Rhöner Himmelsmeer aufgestiegen, die Wolken geritten und sanft zur Erde zurückgekehrt.

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