Man ist nachher irgendwie ein anderer Mensch

Stefan Hartungs Bein zittert. „Nähmaschine“ nennt man das in der Kletterszene, wenn die Muskeln an ihre Leistungsgrenze kommen. Sieben Meter trennen ihn vom sicheren Erdboden. Unten halten die anderen erschrocken den Atem an.

Auch das Sicherungsseil zittert. Doch irgendwie findet er neuen Halt und kämpft sich weiter die Wand hoch. Geschafft! Er grinst nach unten. Stefan Hartung ist eben doch ein guter Kletterer – mit nur einem Bein.

„Dem Fels ist es egal, wer du bist. Ob Mann oder Frau, jung oder alt, ob mit oder ohne Behinderung – an der Wand sind alle gleich. Es geht nur darum, den nächsten Schritt zu tun.“ So bringt Kristina Trupp die Sache auf den Punkt. Die begeisterungsfähige junge Frau betreut ein neues Projekt, das der Deutsche Alpenverein, Sektion Fulda, für Menschen mit und ohne Behinderung ins Leben gerufen hat. „Inklusives Klettern“ heißt das und es findet in der neuen Kletterhalle am Petersberg statt. Jeweils einem Anfänger wird ein erfahrener Kletterpartner zur Seite gestellt, der für Körper und Seele gleichermaßen die Sicherung übernimmt. Vertrauen aufbauen, Grenzen überwinden, selbstständig Probleme lösen – darum geht es in dieser Gruppe. Das persönliche Limit austarieren mit dem Wissen: Du hast jemanden im Rücken, der dich im Zweifelsfall hält. 

Seit 33 Jahren ist Herr Hartung amputiert. Vor fünf Jahren beginnt er mit dieser Sportart. Er wollte ganz einfach wissen: „Geht da überhaupt etwas?“ Okay, er spielt Krücken-Fußball, fährt Fahrrad und Boot, taucht. Aber Klettern? Risikofreudig, wie er ist, probiert er es aus. Der Versuch gelingt, er bleibt dran. „Natürlich muss ich viel mit den Armen ausgleichen. Das ist vor allem beim Umgreifen schwierig, weil ich mich nicht mit zwei Beinen abstützen kann.“ Er entwickelt seine eigene Technik, denn Kraft alleine genügt nicht. Aber noch etwas anderes ist wichtig:„Klettern ist Kopfsache“, betont der 43-Jährige. „Man muss völlig im Hier und Jetzt sein. Du darfst dich nur darauf konzentrieren, wie du den nächsten Schritt machst – alles andere ist unwichtig.“ Und er ergänzt: „In diesem Moment sind alle Sorgen und Gedanken weg. Man ist nachher irgendwie ein anderer Mensch.“

„Wenn alle Wege verstellt sind, bleibt nur der Weg nach oben.“ Franz Werfel

Beim Klettern steht die Auseinandersetzung mit sich selbst im Zentrum. Der Kampf mit der Wand ist immer auch ein Kampf mit und um sich selbst. Man muss lernen, sich erstens auf das Seil, zweitens auf denjenigen, der sichert, und drittens auf sich selbst zu verlassen. Und eben dieses Zutrauen lässt sich steigern. Darin liegt das eigentliche Leistungsmoment. Natürlich schaut man in der Gruppe auch immer ein wenig darauf, wer welche Route

schafft und spornt sich gegenseitig an. Aber zählbare Leistungskriterien sind zweitrangig. „Es ist ein schönes Gefühl, wenn man die Route geschafft hat“, sagt Stefan Hartung, „aber eben auch, wenn man sie nicht geschafft hat.“ Was zählt, ist der Versuch, die Verausgabung. Der Sturz ins Seil ist keine Niederlage, sondern beweist, dass man etwas riskiert hat, dass man vertraut hat.

Herr Hartung lässt sich von seiner Kletterpartnerin abseilen. Unten angekommen, klatschen sie einander ab. Eine schöne Geste. Klettern ist ein Teamsport. Der eine klettert, der andere sichert, dann wird gewechselt. Kristina Trupp liegt viel daran, dass jeder jedem vertrauen kann. Deshalb werden die Teams auch untereinander immer neu zusammengestellt. „Hier lernt man nicht nur, besser mit sich selbst, sondern auch besser mit Menschen umzugehen, die anders sind. Das ist für beide Seiten eine schöne und einzigartige Erfahrung.“

Dann erzählt sie von einem autistischen Mädchen, das erstmalig eine Wand hochstieg. „Anfangs hatten wir Schwierigkeiten, zu begreifen, was in ihr vorging. Es war schwer einschätzbar, ob sie sich in den Seilen wohlfühlt.“ Dann sei sie regelrecht explodiert und „war im Nu oben. Das gab ihr einen regelrechten Kick.“

Auch Jens Handwerk hat durch das Klettern an Selbstbewusstsein gewonnen. Der 19-Jährige aus Dalherda wohnt im Antoniusheim und besucht zur Zeit die ‚Startbahn‘. Er hat viel Erfahrung im Klettern und sichert auch andere Kinder bei ihren ersten Versuchen. „Ich helfe oft, wenn Kleingemüse kommt“, sagt er schmunzelnd. Was ihm an dem Sport besonders gefällt, ist, dass man die Höhe bezwingt: „Das ist Adrenalin pur!“ Er mag die Aussicht von oben und genießt den Rausch, in die Tiefe zu schauen.

Erfahrungen, die an der Wand gemacht werden, lassen sich im besten Fall von der Kletterhalle mit in den Alltag nehmen. Das Gefühl, über sich hinausgewachsen zu sein, die eigene Grenze gespürt und vielleicht ein Stück weit verschoben zu haben, nimmt man mit. Das klingt nach, färbt das ganze Leben. „Vor allem für Menschen mit Behinderung ist es enorm wichtig, diese Grenzüberschreitung wagen zu dürfen“, sagt die Kursleiterin. Wie recht sie damit hat! Denn die Fürsorge-Mentalität unserer Gesellschaft sieht normalerweise genau das nicht vor. Allzu oft neigen wir dazu, Menschen mit Behinderung rundum zu versorgen und sie vor Konfrontation und Risiko zu beschützen. Wir merken gar nicht, dass wir ihnen so wesentliche Chancen verbauen: die Chance, unvermutete Fähigkeiten zu entdecken, aber auch die Chance, etwas über die eigene Belastungsfähigkeit und Grenze zu erfahren.

„Ich wollte einmal hoch hinaufsteigen, um tief in mich hinabsehen zu können“, philosophiert der Extrembergsteiger Reinhold Messner. Dieser Satz bewahrheitet sich nicht erst auf dem Nanga Parbat, sondern für Stefan, Jens, Kristina und all die anderen schon in der Kletterhalle auf dem Petersberg.

Anna-Pia Kerber

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