„Plötzlich war der Strom weg, und alles kam raus“

Ein Schuldner erzählt...

 

Als die Hobelmaschine und das Licht ausgingen, stürzte mein Freund zum Sicherungskasten und wurde dort unvermittelt mit meinem Schuldenberg konfrontiert. Um weiterarbeiten zu können, fuhr er kurzentschlossen zur Bank und händigte dem Mann von der ÜWAG den geforderten Betrag aus. Bis dahin wusste ja keiner in meinem Umfeld Bescheid. Nach außen hin habe ich absolute Normalität simuliert, obwohl schon die Lohnpfändung lief und die Zwangsversteigerung vom Haus beantragt war.

Eigentlich hätte ich von meinen Eltern die ganzen Tugenden mitbekommen müssen. Haben sie auch probiert. Aber ihre aus der Not geborene Sparsamkeit hat bei mir irgendwie das Gegenteil ausgelöst. In den ersten Kindheitsjahren hat mir meine Mutter aus alten Mänteln und Decken Hosen genäht – das konnte sie sehr gut. Es war immer knapp. Ich habe nie Taschengeld bekommen, musste immer fragen. Ich habe zwar das meiste bekommen, was ich wollte, aber gegen die Diszipliniertheit meiner Eltern und gegen ihre Unterwürfigkeit – „Fall nicht auf, mach uns keine Schande.“ – habe ich früh rebelliert.

Mit 19 bin ich ausgezogen, machte Zivildienst als Rettungssanitäter. Mit dem Trinkgeld, das ich da bekommen habe, kam ich gut klar. Je mehr man den Kranken zuhörte, desto mehr gab´s. Ich hab mich für ihre Geschichten aber auch wirklich interessiert. Schon mit 16 wollte ich Sozialarbeiter werden. Während des Studiums bekam ich Bafög und Halbwaisenrente. Klar, immer geraucht, immer die Schoppen, aber es hat gelangt. Dann hab ich mir das erste Auto auf Pump gekauft – ich hatte ja inzwischen auch einen Job mit 1600 DM netto. Das war viel Geld in 1984. Dann bekam ich eine Stelle in Fulda und mietete mir am Petersberg ein altes Häuschen. Da gab´s dann auch unter der Woche Partys. Nebenbei hatte ich einen Weinhandel. Im Einkauf hat die Flasche 4,80 gekostet, und ich hab sie für fünf verkauft. Hat mir Spaß gemacht. In dieser Zeit habe ich sogar einen Bausparvertrag abgeschlossen, um die vermögenswirksamen Leistungen vom Arbeitgeber mitzunehmen.

Bauen wollte ich aber nie. Ich wusste, wie sehr sich meine Eltern wegen ihres Häuschens geplagt hatten. Meine Möbel baute ich mir selbst oder übernahm geschenkte Sachen. Ikea – das war mir schon zu viel Establishment. Aber ich habe immer gut gegessen und getrunken; immer mal ’ne Flasche Brut de Brut für 14 Mark im Einkauf – ich saß ja an der Quelle. Die Mädels fanden‘s auch gut, Brut de Brut, null Zucker! Welch unbeschwertes Leben damals!

Dann kam der Sportunfall und die Lebensspur ging in eine andere Richtung. Im Krankenhaus lernte ich eine Assistenzärztin kennen, die rasch zu mir zog. Klar hat mich ihr Status fasziniert – ich der Sozialfuzzi und sie eine Ärztin! Ich hab nicht gemerkt, dass sie nicht richtig runddreht. Dann stand ein Haus in der Nachbarschaft zum Verkauf und wir haben zugegriffen. Ohne Eigenkapital. Der Bausparvertrag war da schon aufgelöst wegen meiner Schulden vom Weinhandel. Da fing´s ja schon an. Aber weil wir gut verdienten, haben wir 250.000 Mark aufgenommen. „Ist doch super“, haben die Banken gesagt. „Eine Ärztin und ein Sozialarbeiter – da ist doch alles im grünen Bereich.“ Wegen nötiger Instandsetzungen haben wir 130 % vom Kaufpreis beliehen. Würde ich nie wieder tun. Irgendwann habe ich gemerkt: Etwas stimmt mit ihr nicht. Die Probleme wurden größer, aber sie hat noch Aufträge für´s Haus vergeben; für Isolierungen und einen Parkplatz. Kurz darauf ging es auseinander. Ich hätte es als Niederlage empfunden, das Haus verkaufen zu müssen. Wir sind dann so verblieben: Sie schenkt mir ihren Teil, ich übernehme ihre Schulden. Im Notariatsvertrag wurde noch festgehalten, dass auch alle noch kommenden Forderungen auf meine Kappe gehen. Kurz darauf trudelten die Rechnungen ein und ich hatte plötzlich 15.000 Mark Schulden zusätzlich. „Das stemme ich“, dachte ich, aber das Konto war schon hoffnungslos überzogen. Irgendwann hat die Bank Zirkus gemacht. Um das Darlehen bedienen zu können, habe ich mit Freunden schnell den Dachboden ausgebaut. Aber dadurch hatte ich weitere Rechnungen zu bezahlen.

Irgendwie fing ich damals an, die Wahrheit vor mir selbst zu vertuschen. Ich hab mich immer mehr von mir selbst abgespalten und ein Doppelleben geführt. Einerseits die Angst, nachts nicht schlafen zu können. Ich hatte ja jede einzelne Rechnung im Kopf. Andererseits habe ich normal weitergearbeitet, mich mit Freunden getroffen.

Eines Tages kam die Lohnpfändung. In meiner Not wendete ich mich an ein privates Kreditinstitut und ließ mir zu horrenden Zinsen 3000 Mark auf ein Postsparbuch überweisen. Von diesem Konto wusste keiner. Das war wie der Bußgang nach Canossa. Aber die 3000 Mark haben wieder Luft gebracht. Natürlich war das ein krummer Hund, dieser Typ, ich wusste das und hab mich auch vor mir selbst geschämt. Wie ein Dieb bin ich dann zur Post in der Nachbargemeinde geschlichen, um etwas abzuheben.

Freunde ins Vertrauen zu ziehen, hätte ich damals als absolute Schwäche empfunden. Die könnten ja denken: „Der kriegt’s nicht hin, ist ’ne arme Sau, geht jeden Tag in die Kneipe und versäuft alles.“ Solche Vorstellungen blockierten die Möglichkeit zu sagen: „He, ich kann nicht mehr.“ Das war wie eine Schnecke, die nach innen geht: Das Gehäuse wurde immer dicker, aber ich selbst wurde darin immer kleiner. Ich hätte ja auch die Haltung annehmen können: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“ Ich bin aber das Gegenteil. Das ist vielleicht das, was ich von meinen Eltern mitbekommen habe: „Fall nicht auf, mach uns keine Schande.“ Das hieß dann später: „Mach dir selber keine Schande, funktioniere!“ Damit will ich mich aber nicht herausreden. Die Frage ist: An welchen Punkten habe ich die Verantwortung für mich abgegeben? Sicher in dem Moment, als ich bei der Hausübernahme zu konfliktscheu war. Ich bin immer auf Harmonie aus, auch mir selbst gegenüber. Dann die Selbstüberschätzung: „Ich schaff´s allein!“ Und natürlich die Beibehaltung von Lebensgewohnheiten: Jeden Morgen hab ich mir an der Tankstelle zweimal Bifi, eine Tafel Yogurette, eine Büchse Cola und ’ne Schachtel HB geholt. Frühstückseinkauf. Da waren 10-12 Mark weg. Und ich hab fast jeden Tag in der Stammkneipe gegessen und anschreiben lassen. Auch das summierte sich, aber diese Rechnungen habe ich immer mal bezahlt, weil es sonst alle mitbekommen hätten. Dann ging es los mit der Lügerei: Als das Telefon mal wieder abgestellt war, hatte ein Bagger das Kabel erwischt. Das haben mir die Leute geglaubt. Es entstand ein richtiges Lügenkonstrukt, auch mir selbst gegenüber. Irgendwann stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür – das war ein Nachbar, der zufällig in Vertretung in der Heimatgemeinde eingesetzt war. Ich ließ ihn rein und er sagte gleich: „Hier ist nichts zu holen.“ Er hatte einen Titel und wollte 3.000 Mark. So kam er zwei- oder dreimal. Eines Tages kam er morgens um sieben, damit er mich vor der Arbeit erwischt. Er spürte, dass ich nicht ehrlich war. Ich hab dann aufgehört, ihn zu verarschen. Er gab die Sache ans Gericht zurück. Schließlich waren vier Zwangshypotheken aufs Haus eingetragen. Das war dann die Zeit, als ich die Post nicht mehr öffnete. Zuletzt ging es um drei Tage, dann wäre das Haus und alles weg gewesen. Die Rettung war, dass ich selber nicht zu Hause war, als der Strom abgestellt wurde. Als ich von der Arbeit nach Hause kam und mein Freund mich mit der Stromgeschichte konfrontierte, brach das Lügenkonstrukt mit einem Schlag zusammen. Die Bombe war geplatzt. Am selben Abend gab es eine Krisensitzung mit einem weiteren Freund, einschließlich der überfälligen Selbstoffenbarung. Tags darauf wurde noch ein dritter Freund hinzugezogen, um das Rettungsprojekt auf eine solide Basis zu stellen. Da saßen wir zu viert am Küchentisch und heckten einen Plan aus. Voraussetzung für die Rettung: Es kommt alles auf den Tisch. Hose runter. Ab jetzt: unangekündigte Einblicke in die Kontoauszüge, keine unnötigen Käufe, weniger Kneipenausgaben, selbstgedrehte Kippen statt Schachteln. Im Gegenzug: Die Spirale der Zinsen und kassogebühren wird mit einem Schlag durchbrochen. Sofort beglich das Trio die aufgelaufenen 25.000 DM. Dabei handelten sie telefonisch noch die Streichung einiger Säumniszuschläge aus. Mit einem Schlag war der Druck aus dem Kessel. Die Rückzahlung der Raten wurde fair geregelt. Außerdem haben sie mir – offen gesagt – einige Schwarzarbeiteraufträge für nebenbei zugeschanzt. Nach dreieinhalb bis vier Jahren war das Ding gelaufen. Als der Euro kam, war mein Konto absolut sauber.

Bei all dem haben wir nie etwas schriftlich gemacht. Nur in die Hand versprochen. Das hat mich gebunden. Natürlich haben sie mich ganz schön rangenommen, obwohl ich der ältere war. Ich dachte immer: „Das will ich nie wieder erleben!“ Aber es ging nicht anders. Das war eine richtige Privatinsolvenz - weil sie wirklich privat war. Die drei Freunde haben, wie vereinbart, auch nie etwas nach außen gelassen. Unglaublich eigentlich. Rückblickend ist mir klargeworden: Die Schnauze zu halten, nur um das Bild von mir aufrechtzuerhalten, war ein riesiger Fehler. Aber Ehrlichkeit verlangt Selbstvertrauen, und da muss man sich halt drum kümmern. Das ist auch in einer Beziehung wichtig: die geldlichen Sachen offenzulegen, ohne sich zu schämen.

Mein heutiger Umgang mit Geld ist viel bewusster. Mindestens einmal im Jahr mache ich eine Überschlagsrechnung: Was geht und was nicht? Wenn´s nicht geht, geht’s eben nicht, und das macht mich nicht kleiner, eher größer. Früher hatte ich nichts auf der Kante, jetzt ein bisschen was. Wenn´s Auto kaputtgeht, kann ich mir ein anderes kaufen. Alles gut.

 

Ich selbst war gar nicht zu Hause. Einer meiner Freunde war gerade in meiner Hobbywerkstatt zugange, als der Strom abgestellt wurde. So kam alles raus. Es war die Zeit für den Offenbarungseid. Für den inneren – und um ein Haar auch für den äußeren.

Rückblickend ist mir klar geworden: Die Schnauze zu halten, nur um das Bild von mir aufrechtzuerhalten, war ein riesiger Fehler

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