Vom Schrumpfen und Dehnen der Zeit

von Hanno Henkel

Schneller, höher, weiter – das sind die modernen Plagen. Besonders die zunehmende Geschwindigkeit, die die Menschen einander abverlangen, hinterlässt Spuren. Wer nicht spätestens nach einigen Jahren des Mithastens im Hamsterrad unter Burnout leidet, hat sich offenbar zu wenig ins Zeug gelegt. Wir werden in eine sich beschleunigende Spirale hineingezogen.

Unsere Vorstellung darüber, wie lange etwas dauern darf, um fertig zu sein, hat sich stark verändert. Den Maßstab liefern z. B. Ingenieurbüros, die immer weniger Bauzeit für immer gewagtere Bauwerke veranschlagen. Oder Sportler, die permanent versuchen, die Zeit für eine Bergbesteigung oder eine Weltumsegelung zu unterbieten. Weil es ständig darum geht, Zeit zu schrumpfen, empfinden wir auch unseres eigenes Tun nur dann als gelungen, wenn es schnell geschieht. Dinge, die eine lange Weile brauchen, sind uns suspekt.

Dabei ist es gar nicht lange her, dass das Tagwerk durch die Sonne eingeteilt wurde. Wir sind erst die fünfte Generation seit der Erfindung der Armbanduhr. Große Vorhaben, wie der Bau einer Kathedrale, dauerten länger als ein Menschenleben. Diejenigen, die die Grundsteine legten, sahen nie das fertige Gotteshaus und die, die es feierlich weihten, hatten keine Erinnerung mehr an die Anfänge. Solche Zeiträume setzen den Einzelnen zu Lebzeiten nicht unter Druck. Man wusste sich in ein übergreifendes Zeitmaß einzuordnen. Haben wir diese Fähigkeit verloren?

Fast scheint es so, wäre da nicht die im 12. Jahrhundert errichtete Burchardi-Kirche in Halberstadt, in deren ehrwürdigen Mauern seit 2001 ein Orgelwerk mit einer bemerkenswerten Spielanweisung aufgeführt wird: „As slow as possible“, so langsam wie möglich, hat John Cage, ein Schüler Arnold Schönbergs, dem Organisten aufgetragen. Doch wie langsam ist so langsam wie möglich?

 

Muss noch 623 Jahre durchhalten: die Orgel in der Burchardi-Kirche/Halberstadt

Muss noch 623 Jahre durchhalten: die Orgel in der Burchardi-Kirche/Halberstadt

 

 

 

Die Partitur ist überschaubar. Nicht mehr als acht Notenblätter sind zu spielen – in üblicher Geschwindigkeit ist der letzte Ton nach zwanzig Minuten verhallt. Nicht so in Halberstadt: Jede Sekunde des Cage-Orgelwerks wird hier auf fünf Monate gedehnt. Dies wurde von Organisten, Musikwissenschaftlern, Orgelbauern, Theologen und Philosophen so entschieden. Orientiert hat man sich dabei an der ältesten Blockwerksorgel der Welt, die ab 1361 im Halberstädter Dom beheimatet war, mithin genau 639 Jahre vor dem Jahr 2000, dem Start des Projekts.

Wer die Burchardis-Kirche betritt hört den aktuellen Akkord, der für die nächsten Jahre den Klangraum erfüllen wird. Zu sehen gibt es ein formschönes Holzgerüst, das die wenigen benötigten Orgelpfeifen trägt, sowie die Tasten, die den Luftstrom zu den Pfeifen leiten. Die Orgel wird über die Jahrhunderte um jeweils die Töne wachsen, die der Komponist vorgesehen hat. Den Organisten sucht man vergeblich. Seine Aufgabe übernehmen Sandsäckchen, die an den Tasten des kleinen Manuals hängen und mithilfe der für alle Zeiten währenden Schwerkraft die Töne erklingen lassen. Der nächste Klangwechsel steht am 05.09.2020 an und auch dann werden wieder wie schon beim Anspiel der vergangenen Töne über tausend Besucher da sein, um dieses Erlebnis zu teilen.

Niemand der heute lebenden Menschen wird das Ende des Konzertes erleben, nicht einmal das Ende des ersten der acht Teile, die das Musikstück aufweist. Den letzten Ton werden erst unsere Nachkommen im Jahr 2640 hören. 639 Jahre für ein Orgelstück – fast genau so lange, wie es gedauert hat, den Dom zu Köln fertigzustellen. Es braucht eine Weile, bis man seine Gedanken wieder so weit im Griff hat, dass man mit dem Abwägen beginnen kann, ob man dieses extreme Dehnen der Zeit für eine spinnerte amerikanische Idee halten oder es als Mahnung gegen den Wahnsinn unserer Zeitschrumpfung ernst nehmen sollte. Zumindest gibt es Anlass, innezuhalten und sich sein eigenes Leben und den eigenen Umgang mit der verbleibenden Zeit zu vergegenwärtigen. Vielleicht ist Halberstadt eine Reise wert, um die Langsamkeit wiederzuentdecken. Wir sollten uns dafür Zeit nehmen.

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