Vorwort: Helfen Sie noch oder unterstützen Sie schon?

Ein Appell an alle, die es gut meinen... Noch nie wurden in Deutschland so viele Kinder von Jugendämtern in staatliche Obhut genommen wie im letzten Jahr.

Das ist schlimm, bedeutet es doch, dass Kindern für eine bestimmte Zeit oder sogar für immer das verloren geht, was sie am meisten brauchen: ihre Heimat in einer Familie.

Nicht selten ist Unterversorgung der Grund: Kinder verwahrlosen, weil Eltern sich zu wenig um sie kümmern. 

Bei Kindern mit Handicaps kommen Inobhutnahmen weit seltener vor. In meiner langjährigen Tätigkeit als Leiter einer Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sind mir nur zwei Fälle untergekommen. Sind Eltern von Kindern mit Handicaps also die besseren „Erzieher"? Auf den ersten Blick scheint es so. Aber schauen wir genauer hin: 

Bereits die Pädagogik der 70er Jahre hat festgestellt, dass so gut wie kein Kind mit geistiger Behinderung „normal“ erzogen wird. Aber nicht Verwahrlosung ist hier das bestimmende Thema, sondern: Überbehütung. Ein Zuviel an Zuwendung, ein Zuviel an Fürsorge führt oft zu dramatischen Veränderungen in der Entwicklung.

Wie kommt es dazu?

Treffen wir auf Menschen mit Behinderung, haben wir unwillkürlich das Gefühl, ihnen „helfen“ zu müssen. Also helfen wir ihnen. Immer. Und genau das ist das Problem. Selbst wenn im Einzelfall Hilfe notwendig ist, so sollte sie sich darauf beschränken, nur dabei behilflich zu sein, was aus eigener Kraft (noch) nicht bewältigt werden kann.

Stellen Sie sich einmal vor, man hätte Ihnen als Kind alles abgenommen, was Ihnen Schwierigkeiten bereitet hat. Man hätte Ihnen alle Hindernisse aus dem Weg geräumt, jedes Scheiternkönnen im Vorfeld verhindert. Was wäre aus Ihnen geworden? Wären Sie nicht auch in Versuchung geraten, sich dümmer zu stellen, als Sie es waren, nur um den Zustand der Rundum-Versorgung aufrechtzuerhalten? Wären Sie selbstständig geworden? Könnten Sie heute wirklich frei und selbstbestimmt leben?
Vielleicht schränkt gerade die übermäßige Fürsorge von Eltern und Erziehern die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten solcher Menschen ein. Am Ende entsteht sogar auf diese Weise erst das, was wir durch unser permanentes Kümmern und Helfen kompensieren wollen: Behinderung.

Von den Grenzen des Helfensollens und dem Wunsch nach Selbstbestimmung können Sie auch in diesem Heft wieder lesen. Meist steht es in den Zeilen, manchmal auch dazwischen. Die Mühe, beim Lesen immer wieder einmal die Seite zu wechseln, lohnt sich.

In diesem Sinne

Hanno Henkel

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