„Wann willst du endlich damit aufhören?“

Das Gespräch führten Arnulf Müller und Steffen Waßmann

Karsten Siebert ist ein Meister an der Sprühdose. Mit siebzehn Jahren fing er an und mit achtundvierzig ist er noch immer aktiv. Aus jugendlichem Aktivismus ist im Laufe der Jahre Kunst geworden. Ein Gespräch darüber, was es mit Graffiti auf sich hat und was der Kerbersch Koall damit zu tun hat.

 

Vor ein paar Wochen ging durch die lokalen Nachrichten: „Zug mit Farbe besprüht. Zeugen gesucht“. Was geht dir da durch den Kopf?

Wir waren und sind ja immer die Schmuddelkinder, die den kriminellen Stempel aufgedrückt bekamen: Sachbeschädiger, Schmierfink. Nach der eigentlichen Intention wird nicht gefragt. Graffiti – das ist ein riesiger Kosmos mit einer langen Geschichte, einer Philosophie und bestimmten Motivationen. Als Aktivist oder Künstler sehe ich die Sache daher differenzierter. Die Szene ist extrem vielfältig. Es gibt da auch den Fünfzigjährigen, der vielleicht mit zwanzig angefangen hat, der mit Liebe am Ball blieb und nun versucht, beruflich damit seinen Erfolg zu erreichen. Das deckt sich dann eben nicht mit den gesellschaftlichen Klischees.

 

Welches Ziel verfolgt denn ein Graffiti-Writer?

Wir sprechen von Raumaneignung. Das fing Ende der 1960er in den USA an. Der soziologische Hintergrund ist umfassend aufgearbeitet worden. Es ist ein Missverständnis, wenn gesagt wird, die Jugendlichen wollten ihre Umwelt verschönern. So ist das nicht. Es ist wirklich eine Art von Raumaneignung aus dem Gefühl heraus, unterprivilegiert zu sein: Wir leben in einer gebauten Welt, die uns nicht gehört. Alles ist reglementiert: Das darfst du nicht und das auch nicht! Viele Verbote, keine Entfaltungsmöglichkeiten. Dann der Faktor Armut. Man muss da irgendwie leben und kommt kaum von da fort. Da haben die Jugendlichen Wege gesucht, diesen fremden Raum zum ihrigen zu machen. Das ging wunderbar, indem sie anfingen, ihre Namen überall hinzuschreiben.

 

Zum Beispiel auf U-Bahn-Wagen.

Genau! Graffiti-Writing markiert aber nicht ein Revier, wie die Gangs es tun, sondern versucht, es zu überschreiten.

 

Indem der Jugendliche also seinen Namen an die Wand sprüht, nimmt er der Umwelt das Bedrohliche und wächst dadurch?

Ja. Der Jugendliche will mitgestalten und das tut er, indem er sich mit seinem Text visuell verbreitet. Dabei geht es aber sogleich auch darum, stilistisch aus der Masse herauszustechen. Wenn Zehntausende taggen – ein Tag ist die Namensunterschrift –, dann geht der einzelne Name ja unter. Also muss es kalligraphisch besonderes sein. Das ist noch keine hohe Kunst, aber es bereitet sie vor. Die Tags sind auch nicht die richtigen Namen, sondern Künstlernamen, eine zweite Identität. Ich heiße Karsten Siebert, bin aber Kae. Wenn man genau hinschaut, wie es jeweils geschrieben ist, kann man auch Gefühlslagen herauslesen. Mal ist es aggressiv, manchmal weich und rund - wie man sich selbst gerade unbewusst wahrnimmt.

 

Würdest du die Sprüherszene als Subkultur bezeichnen?

Die Breakdancer, Rapper, DJs und Graffiti-Writer haben in den 1980ern eine mehr oder weniger homogene Subkultur, als Hip-Hop bekannt, gebildet. Da konnte jeder seine Ausdrucksform finden. Wer sprachlich begabt war und gerne im Vordergrund stand, wurde Rapper. Die Tänzer haben sich körpersprachlich ausgedrückt und die Maler eben mit ihren Bildern. Das Malen war wunderbar für introvertierte Jugendliche, die die große Bühne mieden, aber sich dennoch irgendwie präsentieren wollten. Mich selbst haben diese Möglichkeiten damals gleich fasziniert. Was man alles aus dem Nichts erschaffen kann! Man braucht zum Tanzen nichts außer seinem Körper, zum Malen vielleicht einen Stift oder eine Dose, zum Rappen seine Stimme. Und es ist eine Sprache, die überall verstanden wird. Auch wenn ich kein Englisch sprechen könnte, würde ich in New York mit meinen Bildern verstanden. Das ist, wie wenn man in den Senegal kommt, nichts über die dortige Kultur weiß, aber durch gemeinsames Musizieren erreicht, dass ein Zusammenhalt zwischen Menschen entsteht, die sich zuvor fremd waren.

 

Graffiti auf ausrangiertem U-Bahn-Wagen (Kunstaktion in New York, 2013)

Graffiti auf ausrangiertem U-Bahn-Wagen (Kunstaktion in New York, 2013)

 

 

 

Nochmal zurück: Dass die Jugendlichen versuchen, sich in einer als kalt empfundenen Umwelt zu behaupten, kann man verstehen, aber es bleibt doch eine Sachbeschädigung. Du gibst auch Workshops, da kannst du doch niemanden zur Straftat ermuntern.

Richtig, ich muss aufpassen. Aber in meiner eigenen ethisch-moralischen Überzeugung bin ich relativ gefestigt. Ich kenne viele Akteure, die Probleme mit der Justiz hatten. Es gibt auch Differenzierungen beim angerichteten „Schaden“: Wenn jemand die Bremsnummern auf einem Zug übersprüht, ist es eine gemeinschädliche Sachbeschädigung, wenn ich etwas auf eine Betonwand sprühe, eine einfache. Trotzdem muss ich mich auch da fragen: „Ist mir die Sache wirklich so wichtig, um die Konsequenzen zu tragen?“ Deswegen kläre ich vor jedem Workshop auf, dass das kein Spaß ist und bis zu zwei Jahre Gefängnis auf einen zukommen. Nicht zu vergessen die zivilrechtlichen Folgen. Die Deutsche Bahn will vielleicht 30.000 Euro für die Reinigung eines Zuges und der Titel besteht noch nach Jahrzehnten, auch wenn die Tat strafrechtlich verjährt ist. Manch einer musste seine Jugendsünde teuer bezahlen. Er hat sich ans Existenzminimum gemalt.

 

Erkennt ihr, wer da etwas auf den Zug geschrieben hat?

Geübte Augen schon, aber da viele Aktive überregional unterwegs sind und sich Stile oft sehr ähneln, ist das schwierig. Aber wer es war, ist auch sonst nicht einfach nachzuweisen. Bei Urkundenfälschung kann ein Graphologe einen Betrüger recht sicher überführen. Bei gesprühten Graffiti nicht, weil viele Komponenten fehlen wie zum Beispiel der Druck mit dem Stift aufs Papier. Beim Sprühen gibt es keinen Kontakt mit der Fläche.

 

Fuldas legale Graffitiwand an der Jugendkulturfabrik in der Weimarer Straße

Fuldas legale Graffitiwand an der Jugendkulturfabrik in der Weimarer Straße

 

 

 

Sprühen manche, um hässliche Architektur zu übermalen?

Individuell sicherlich. Manche sehen sich abgekoppelt von irgendwelchen Szenen und haben einen politischen oder ganz eigenen ästhetischen Anspruch. Das muss nicht negativ sein. Man kann ja auch sagen: „Ich möchte das bereichern, ihm etwas hinzufügen.“ Viele malen gern an verfallenen Industrieanlagen, weil das Marode einen eigenen Reiz hat.

 

Wie ist das hier an den Wänden der Kulturfabrik?

Das ist die einzige öffentliche Fläche in Fulda, die frei für jeden bemalbar ist. Mir persönlich reicht das, wenn es nur ums Bild an sich geht. Natürlich bin ich auch mal bestrebt, woanders zu malen, nicht nur weil es die oder die Stadt ist, sondern weil die jeweiligen Flächen ein anderes Surrounding mit anderer Wirkung haben. Ich sehe es für mich auf der Künstlerebene. Das ist weniger rebellisch, aber der Impuls hat sich einfach verändert. Ich kenne niemanden, der auf dem Punkt seiner Jugend stehen geblieben ist. Es geht darum, sich weiterzuentwickeln. In Zentren wie Berlin oder Hamburg bewegen sich manche Graffitisprüher beispielsweise im Galeristenumfeld. Viele nehmen die Entwicklung nicht wahr und sagen: „Wann willst du endlich mal damit aufhören?“ Die sehen nicht, dass das jetzt auf einer anderen Basis betrieben wird.

 

Wenn Jugendliche das heute in einem Workshop ausprobieren, ist das dann eher so wie Plätzchenbacken?

Genau. In der Jugendkulturfabrik bieten sie das z. B. im Rahmen von Ferienfreizeiten oder beim Schüleraustausch an. Die Farben sind dann da und es ist ja auch immer attraktiv. Aber am zweiten Tag ist Holzwerkstatt oder Klettern dran, am dritten etwas anderes. Das ist heute eben so.

 

Hat das Internet die Situation verändert?

Das Internet bietet schon viele Möglichkeiten. Man kann dort zigtausend Bilder anschauen. Du kannst innerhalb von einem halben Jahr einen Stil entwickeln, was bei uns vielleicht acht Jahre gedauert hat. Vieles wird vorgegeben, was man nur aufgreifen muss, durchaus gleich auf hoher Qualitätsebene, etwa durch Youtube-Tutorials. Aber man hat nicht mehr so den Entdeckergeist oder den Impuls, aus sich selbst zu schöpfen.

 

Und keine Szene mehr?

Doch, weil die Dinge dort von einem riesigen Publikum geteilt werden. Man hat schnell Erfolg und kann seine Likes abgreifen. Aber es wird viel kopiert. Irgendwann läuft der Ruhm ins Leere, weil man auf der Stelle tritt. Wir mussten früher noch experimentieren, welche Caps, also welche Sprühaufsätze die richtigen sind, um eine ganze feine oder ganz dicke Linie zu ziehen.

 

Wie habt ihr das gemacht?

Irgendwann wusste ich, dass für das, was ich machen will, die Düsen auf den Loreal-Deo-Dosen die Richtigen sind. Dann sind wir in den Kerbersch Koall [Kaufhaus Kerber, heute Galeria Kaufhof – Anm. d. Red.] und haben eine Kosmetikfachverkäuferin bequatscht, dass sie uns die Caps von den Loreal-Dosen abzieht und dafür andere draufmacht. Für jemanden, der sich mit Deo einsprühen will, ist es ja egal, ob es etwas weiter streut, aber für mich war der saubere Strahl essentiell!

 

Sind die heutigen Dosen anders als in deiner Jugend?

Die sind nicht vergleichbar, das sind heute spezielle, industriell gefertigte Sprühfarben. Damals bei den wässrigen, nicht deckenden Autolacken war die Qualität mies – was allerdings geholfen hat, seine Malfähigkeiten zu entwickeln. Mit den neuen Dosen kann jeder malen, aber das macht natürlich auch Sinn für Anfänger.

 

Malt man so ein Bild ganz intuitiv an die Wand?

Für Anfänger funktioniert es meist nicht, gleich mit der Dose an die Wand zu gehen. Man muss das erst am Papier trainieren, vorarbeiten, Schriften ausprobieren, Entwürfe machen. Dann fängt man an, es zu übertragen, was natürlich schwierig ist von 20 x 30 cm auf 6 x 8 m. Aber das ist Übungssache. Bei mir war es in den Neunzigern so, dass ich gemerkt habe, ich brauche die Vorzeichnerei nicht mehr und kann direkt an die Wand gehen. Ich muss auch nicht alle zwei Sekunden nach hinten gehen, um das Gesamtbild zu haben. So direkt zu arbeiten, macht mir zumindest viel mehr Spaß.

 

Ist Fulda ein idealer Ort für Grafftiti?

Nein – obwohl, wenn ich einen Haken weiter denke: irgendwie schon. Als Jugendlicher hat man oft wenig Geld zum Reisen und von Fulda aus kommt man leicht in alle Ballungsgebiete, sogar nach Paris oder Prag. Da findest du alles vor, tolle Flächen, überall Sprühdosenläden. Hier ist man gezwungen, mehr Eigeninitiative aufzubringen. Man hat nicht allzu viele neue Eindrücke, man hat seine Ruhe und es gibt keinen Szeneneid. Trotzdem hat Fulda immer Nachwuchsschwierigkeiten. Viele, die hier gut waren, sind in andere Städte gezogen. Nur drei oder vier Leute sind am Ball geblieben und betreiben die Sache langfristig ernsthaft.

 

Was machst du eigentlich beruflich?

Hauptamtlich arbeite ich bei der AWO als Sozialarbeiter und coache dort Langzeitarbeitslose. Ursprünglich habe ich Gärtner gelernt, aber nach ein paar Jahren gespürt, dass es mich nicht ausfüllt, am Autobahnhang Bäume zu pflanzen. Ich hatte da schon mit der Kunst angefangen, wollte das aber nie verbinden. Viele Graffitileute sind zum Beispiel Grafikdesigner geworden. Da hatte ich immer Angst, dass die Anforderungen des Berufs die Kreativität und den Spaß auffressen. Deswegen habe ich Beruf und Kunst getrennt und Sozialpädagogik studiert.

 

Haben Graffitibilder bevorzugte Inhalte?

Eigentlich nicht. Aber wenn man Graffiti sagt, denkt man sofort an kunterbunte, durcheinandergewürfelte Bilder mit allen Komplementärfarben. Doch es gibt auch pastellige Bilder oder welche, die sich in nur einem Farbschema bewegen. Man findet fotorealistische Arbeiten, sogar Dürer-Drucke werden auf die Wand gebracht. Thematisch gibt es keine Grenzen. Die auf Züge angebrachten Bilder sind oft mit großer Geschwindigkeit gemacht und auf schnelle Wirkung angelegt. Man benutzt poppige Farben, damit es richtig rausknallt. Das prägt vielleicht das Klischee.

 

Graffitikunst ist ziemlich vergänglich, oder?

Ja, es ist sofort sterblich. Es kann sein, dass ich mich zwei Tage an die Wand stelle und einen Tag später übermalt jemand das Bild. Damit muss jeder in dem Metier leben. Ein Foto, und das war's. In Berlin oder Hamburg geht das an exponierten Stellen schnell. Es gibt ja nicht viele legale Flächen. Gerade in Fulda ist es schwer, Eigentümer zu finden, die sich dafür öffnen. 

 

Es kann sein dass ich mich zwei Tage an die Wand stelle und einen Tag später übermalt jemand das bild

"Es kann sein dass, ich mich zwei Tage an die Wand stelle und einen Tag später übermalt jemand das Bild"

 

 

 

Gibt es auch richtige Aufträge?

Hin und wieder. Manch einer will seine Garage bemalt haben oder ein Geschäft möchte das Firmenlogo auf die Fassade bringen. Von solchen kunsthandwerklichen Sachen bin ich aber weitgehend weggekommen. Man macht zwar seine Profession zu Geld, das ist natürlich nicht schlecht, aber künstlerisch erfüllt es nicht. Da gebe ich lieber Geld aus für Reisen oder Farben und mache, was ich will.

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