ZeitenWechsel: „Gut, dass es diese Zwangssituation gab!”

Ende der 80er Jahre machte der Fuldaer Musiker Frank Tischer seinen Zivildienst in der Landwirtschaft des Antoniusheimes. Unfreiwillig. Nach einem Vierteljahrhundert zieht er Bilanz: Besser hätte es nicht kommen können.

Ein Gespräch mit einstigen Gefährten über gewagte Kühlerfiguren, den Bullen „Willi“ und die gewonnenen Einsichten. Und natürlich über Romy Schneider.

Frank Tischer: Ursprünglich wollte ich gar nicht Zivildienst machen, sondern zur Bundeswehr. Die Zivildienstzeit war damals länger als die Bundeswehrzeit, und ich wollte das schnell hinter mich bringen. Aber dann hat sich bei mir eine Wandlung vollzogen. Während meiner Bewerbung für die Armee wurde ich Pazifist. Ich wollte keinen Kriegsdienst mehr machen, auch nicht Schreibstube. Da hab ich überlegt: Okay, ich will Musik machen und dafür vor Ort bleiben. Mein Schlagzeuger, der Martin Hasenauer, machte gerade Zivildienst im A-Heim. Da war es naheliegend, ihn zu fragen, ob noch ’ne Stelle frei ist. 

Joschi Wahler: Auf alle Fälle war es so, dass Ende der 80er die Arbeit in der Landwirtschaft beständig zunahm. Zugleich wuchs der Anspruch, durchgängig die Betreuung unserer Mitarbeiter zu gewährleisten. Da bot es sich an, einen Zivildienstleistenden zu nehmen. Und unser Wunschkandidat war dann der Frank.

Frank Tischer: Na ja, ich war halt da ...

Joschi Wahler: Nein, wir kannten uns schon durch den Martin Günzel.

Frank Tischer: Es hat sich halt wunderbar gefügt. Aber ich muss gestehen: Ich hatte vorher keinerlei Berührungspunkte mit sogenannten Behinderten, hatte auch eine gewisse Hemmschwelle und Vorurteile. Irgendwie hab ich gedacht, hier im A-Heim laufen alle mit Papierhelmen herum und halten sich für Napoleon. Ha! Das musst du dir mal überlegen: Habe gedacht, die halten sich für Napoleon, und komme her, und dann hält sich der Karl-Heinz für Captain Kirk ... So viel anders war’s eigentlich nicht ... [Gelächter]. Eine grandiose Geschichte gab‘s gleich zu Beginn ...

Karl-Heinz Hubmann: Oh ja, erzähl!

Frank Tischer: Wie gesagt, ich hatte vorher keine Kontakte mit Behinderten. An meinem ersten Arbeitstag stehe ich um halb acht allein auf dem Hof und warte auf meinen Chef. Da kommt eine junge Frau auf mich zu und sagt: „Bist du der Neue?“ „Ja, sag ich, und wer bist du?“ „Ich bin Romy Schneider.“ Da antworte ich: „Hallo! Und ich bin Elton John“. Dann sagt sie: „Ich bin aber wirklich Romy Schneider“, „Ja, und ich Elton John“. Da wurde sie fuchsteufelswild und dampfte davon. Dann kam der Chef und sagte: „Ah, du hast ja schon die Romy kennengelernt!“ Die hieß halt wirklich Romy Schneider. Da hatte ich noch nicht angefangen und war schon ins Fettnäpfchen getreten.

Joschi Wahler: Eigentlich bestand ja Tischers Leistung als Zivi nicht unbedingt in der Arbeit, sondern mehr im Entertainment! Er brachte den Jungs gute Stimmung, da wurde sehr oft gelacht.

Frank Tischer: Das klingt ja so, als hätte ich nicht gearbeitet!

Joschi Wahler: Na ja, du hast natürlich gearbeitet, aber ... keine Angst, Frank, im Magazin wird bestimmt nicht geschrieben, wie du auf dem Lenkrad vom Schlepper eingeschlafen bist und der Erwin sich rangeschlichen und die Hupe betätigt hat. Solche Dinge haben natürlich zur Belustigung beigetragen.
Frank Tischer: Jetzt möchte ich aber eine entscheidende Frage stellen: War nachher das Feld bestellt, waren die Steine gelesen oder nicht?

Karl-Heinz Hubmann: Oder als er auf dem Traktor stand und so gemacht hat ...

Joschi Wahler: ... oh ja, stimmt! Du solltest mal mit der Truppe Steine lesen. Ich bin später vorbeigekommen
zum Kontrollieren, und von weitem hat man schon ein Wahnsinnsgelächter gehört. Steine sammeln ist ja die schlimmste Arbeit, weil’s nie aufhört.

K.-H. Hubmann: Haben wir jedes Jahr gemacht!

Joschi Wahler: Ich kam um die Kurve und sah den Schlepper im Kriechgang. Die Jungs haben mit ihren Schüppen die Steine hochgeworfen und sich dabei vor Lachen nicht mehr eingekriegt, weil der Tischer vorne auf der Kühlerhaube stand und verschiedene Figuren dargestellt hat!

Karl-H: Die Autofahrer sind langsamer gefahren!!

Joschi Wahler: Vielleicht war das die Zeit, wo er noch nicht wusste, ob er lieber in die Musik-, oder in die Ballettrichtung gehen wollte ... Nein, im Ernst, die Laune, das war eine ganz wichtige Sache. Alle sind mit Freude an die Arbeit gegangen. Was auch wichtig war, dass wir als Leitung die ganzen Sachen wie die Feldbestellung machen konnten. Wir hatten jetzt jemanden, dem wir die ganze Truppe an die Hand geben konnten. Das war eine Erleichterung. Und was ich noch beobachtet hatte in dieser Zeit: Vorher suchte sich jeder Mitarbeiter so eine Nische: Der eine hat am Strohacker rumgehackt, der andere hat irgendwo gekehrt. Jeder hatte seinen „Parkplatz“ und war nicht richtig eingebunden. Durch den Zivi war das anders. Der hat die Gruppe als Ganzes bewegt. Ab da konnten wirklich Aktionen gemacht werden.

Frank Tischer: Jeden Vormittag sind wir nach Rodges in den Stall. Da wurden Kühe und Kälber gefüttert, dann wieder heim. Für den Mittag gab´s dann eine Tagesaufgabe. Die war immer anders. Ich hatte die Truppe, und die Truppe hatte mich. 

Karl-Heinz Hubmann: Was wichtig war, war einfach die Menschlichkeit, die Beziehung.

Frank Tischer: Stimmt. Die Kontakte sind heute natürlich nicht mehr so eng, aber wenn man sich sieht, ist´s immer herzlich. Das Ganze begleitet mich nach wie vor. Ich habe aufgrund der damaligen Erfahrungen zwar nicht mein Leben geändert. Ich bin nun mal Musiker geworden. Aber es hat meine Sichtweise auf behinderte Menschen geändert. Und dadurch, dass ich in der Landwirtschaft gearbeitet habe, bin ich sensibler für den Wert von Tieren, Pflanzen und Lebensmitteln geworden. Man bekommt mehr Achtung davor. Ohne diese Erfahrung wäre mir heute die Bedeutung von Bionahrung nicht so bewusst, da würde ich mir immer noch an der Autobahn einen Burger holen, wenn ich auf Tour bin. Es war auch schön, einen engen Umgang mit Tieren zu haben. Einmal kam ein Anruf, dass auf dem Theresienhof ein Kalb kommt. Da waren wir Geburtshelfer. Ein beeindruckendes Erlebnis. Werde ich nie vergessen. Einmal hat ein Kälbchen quer gelegen, das war dann ein sehr schlimmes Erlebnis, zu sehen, wie das Muttertier das tote Kälbchen wahrnimmt. Das hat mich fast zerrissen. Es gab sehr emotionale Momente. Oder mit dem Willi.

Karl-Heinz Hubmann: Oh ja, der Willi Müller ...

Frank Tischer: ... nein, der Willi, das Vieh, das Rind! Das war mein Lieblingsbulle. Der wurde von den anderen oft gepiesackt. Dem hab ich immer Extra-Schrot gegeben und Streicheleinheiten. Er war mir halt ans Herz gewachsen. Eines Tages sagt Joschi: „Frank, pass´ auf, der Willi muss zum Schlachthof. Du musst es nicht machen, aber wenn du willst, kannst du es machen.” Ich habe öfter damals Tiere zum Schlachthof bringen müssen. Da hab ich gesagt: „Ich möchte den Willi auf seinem letzten Weg begleiten.” Es ist nicht schön, Tiere da hineinzubringen. Man muss manchmal schieben, drücken – die wollen da nicht rein. Beim Willi war das so: Da gibt es einen langen Schlangenweg aus Gittern, wo dann einer nach dem anderen lang muss. Da stand ich mit dem Bullen. Er tat mir so leid. Ich hab ihn in den Arm genommen, hab mich bei ihm entschuldigt. Ich ließ ihn wieder los, dann ging diese Klappe auf, und dieser Bulle ist ohne mein Zutun alleine da hineingegangen. Irgendwie tapfer, würdevoll. Das war völlig ungewöhnlich. Ich hab Rotz und Wasser geheult. Vielleicht gehören solche Erlebnisse dazu. Leben zu erleben bedeutet, auch den Tod zu erleben. Werde ich nie vergessen. Ach ja, ein paar Monate später gab’s in der Mensa Gulasch, und einer von meinen Jungs sagt: „Weißt du, wer das ist? Das ist der Willi!” Da konnt´ ich nicht mehr weiter essen.

Joschi Wahler: Aber Vegetarier bist du nicht geworden.

Frank Tischer: Stimmt, aber das lag eher an den Grünkernbratlingen, die es damals im A-Heim gab ...

Joschi Wahler: Solche Erfahrungen in der Landwirtschaft, wie du sie beschreibst, Frank, sind immer noch möglich. Statt des Zivildienstes gibt es heute das „Antoniusjahr”. Und das kann man auch im „grünen Bereich“ machen: im Gemüseanbau oder in der Landwirtschaft. Und die Seite der Betreuung, die deinen Blickwinkel auf Behinderung verändert hat, kann man in allen Bereichen kennenlernen. Der Unterschied ist halt: Heute muss man sich aus freien Stücken dafür entscheiden!

Frank Tischer: Klar, mit dem Zivildienst hatte ich damals das kleinere Übel gewählt. Rückblickend bin ich aber froh, dass es diese Zwangssituation gab, sonst hätte ich diese Erfahrungen nicht machen können. Dass ich im A-Heim Zivildienst gemacht habe, war ein Glücksfall. Du lachst, es ist so! Ich kann jedem empfehlen, so eine Tätigkeit mal zu machen, es bereichert das Leben enorm. Ich hatte Vorurteile, hab dann aber schnell gelernt: Es gibt den Begriff der Behinderung, der ist zwar sachlich richtig, aber eigentlich auch falsch. Es ist einfach eine Laune der Natur, könnte man sagen. Es geht nicht darum, Behinderung zu leugnen, sondern darum, zu sehen, dass es da keine Abstufungen im Menschsein gibt.

K.-H. Hubmann: Es sind alles wertvolle Lebewesen. Deshalb ist auch besser zu sagen: Jeder ist anders.

Frank Tischer: Da hast du einen guten Satz gesagt: „Es sind alles wertvolle Menschen.”

Karl-Heinz Hubmann: Deswegen ist es wichtig, alle, die im Antoniusheim leben, zu achten.

Frank Tischer: Genau das hab ich hier gelernt: dass es keine „kranken” Menschen sind. Man darf nicht sagen: „Ach Gottchen!”, sondern muss einen ganz normalen Umgang pflegen. Man muss sie auch mal anschnauzen, wenn sie Mist machen. Man kann sie aber auch mal in den Arm nehmen, das ist völlig ok. Aber das musste ich erst lernen. Und es wirkt nach bis heute.

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