Alles im Eimer

Anfang März und kein Ende in Sicht. Der Winter hat sich festgebissen. Im Augenwinkel nehme ich eine Bewegung am Waldrand wahr. Bitte nicht!

Doch das klapprige Fahrrad mit den schäbigen Eimern am Lenker lässt keinen Zweifel: Ulrich Stegmann kommt. Jetzt schon. Zufällig liegt die Kamera auf dem Tisch; ich schieße zwei, drei Fotos durchs Küchenfenster.

Ulrich will erst mal bleiben, hat es nicht mehr ausgehalten im Obdachlosenheim am Niederrhein. Kommt mit dem Fahrrad quer durch Deutschland in die Rhön, wie jedes Jahr. Aber warum so früh? Ist halt so. Der mächtige Bart schützt ihn vor Kälte, die festgeschnürte Plastikfolie über dem Kopf vor den Tränen des Himmels. Dass der Himmel tüchtig weint bei diesem Anblick, darf man annehmen. Meine Frau, unerschrocken und lösungsorientiert, durchforstet den Kleiderschrank, schenkt ihm eine ausgediente Fleecejacke und Wollsocken. Er bedankt sich artig und schleicht davon. Wie immer wohnt er nicht direkt auf unserem Hof, sondern im 150 Meter entfernt stehenden Waldarbeiterfrühstückswagen von Hessenforst. Der Förster überlässt ihm für ein paar Wochen den Schlüssel, das hat Tradition. Schon bald quellen kleine Wölkchen aus dem Blechschornstein.

Ulrich Stegmann besucht nicht wirklich uns. Er mag keine Menschen. Tiere mag er. Eigentlich alle, außer Fliegen, Mücken und Mäusen. Die piesacken ihn. Wie die Menschen.

Am nächsten Morgen, kurz vor halb sieben, weckt uns die Türglocke. „Was meinst du? Ich könnte ein Feuer machen, jetzt wo es so kalt ist.“ Der Hof ist zwar noch Baustelle und auf ein paar Rußflecken kommt es nicht an. Doch die Frage nervt, besonders um diese Uhrzeit. Missmutig zeige ich ihm einen Platz abseits vom Wohnhaus und auch, welche Bauholzreste er nehmen darf. Warum er den warmen Fleece nicht anhat, möchte ich wissen. „Nicht tief genug geschnitten“, gibt er zurück. „Da kriegt man´s an die Nieren. Da sind die zu blöd zu!” Nach dieser Kurzkritik in Richtung Bekleidungsindustrie zieht er gottlob weiter Richtung Dorf, um seine Katzen zu begrüßen – gewonnene Freunde der Vorjahre.

Ich habe ihn schon vergessen, als ich mittags auf den Hof zurückkehre. Schwarze Rauchwolken drängen durchs Tal, verdächtig grüne Flammen schlagen mir entgegen. Weil das Holz zu nass war, hat er in der Gelben Tonne nach Brandbeschleunigern gesucht. Plastik brennt prima. Meine Halsschlagader schwillt, es kracht. Ich reiße das Feuer auseinander, werde laut. Ulrich beginnt, furchtbar zu schimpfen. Doch seine Tiraden richten sich nicht gegen mich, sondern gegen die „blöden Affen“, die ihm immer die Luft aus dem Fahrrad lassen, gegen Zahnärzte, ja überhaupt gegen Ärzte aller Fakultäten. Erst später habe ich begriffen, dass seine Hasspredigten eine Art Ventil sind, wenn er unter Druck gerät. Es genügt, wenn Menschen ihn kritisch mustern. Und Ulrich ist sein ganzes Leben unter Druck geraten.

Solche Konflikte gehen mir nach. Dem armen Teufel sein wärmendes Feuer zu verbieten! Doch was heißt Teufel? Nicht eher „der Geringste seiner Brüder“? So steht er fortan des Öfteren in der Küche, wo meine Frau ihm heißen Kaffee und Kartoffelreste vom Vortag reicht. Ich gönne ihm ja sein Dasein draußen auf dem Hof. Da kann er basteln und mit den Kühen sprechen, solange er will. Auch Monate. Aber dass er aus und ein geht, ohne zu klingeln, geht so wenig wie Plastik verbrennen. Ich hadere.

Am nächsten Morgen hat er tatsächlich den Fleecepulli an, allerdings sieht dieser um Jahre gealtert aus. Am Rücken baumelt nun ein angenähter Schurz herab. Ulrich hat ihn wie alles, was er in die Finger bekommt, „optimiert“. Bevor ich zurück ins Haus flüchten kann, spinnt er schnell einen seiner berüchtigten Gesprächsfäden: „Die Sonne geht im Osten auf. Scheint so. In Wirklichkeit steht sie fest, und der Globus dreht sich. Deswegen sieht es so aus, als ob die Sonne aufgeht. Man weiß ja nie. Links oder rechts, nicht wahr? Links ist da, wo der Daumen rechts ist, aber wenn man die Hände umdreht, ist es genau umgekehrt. Man weiß es nie.“ Ein typischer Stegmann mit Stirnrunzelgarantie. Ulrich ist – wenn er sich nicht in eine Wutrede hineinsteigert – taktvoll, sein Ausdruck gewählt. Dass er eine größere Dosis Bildung genossen haben muss, blitzt immer wieder auf. Was schiefgelaufen ist, haben wir nie herausbekommen. In Böhmen geboren verschlägt es ihn nach dem Krieg nach Frankfurt. Er schafft das Gymnasium nicht, macht eine Ausbildung zum Zimmermann, kann sich aber im Beruf nie behaupten: Fast jeder Mitmensch wird zum Stolperstein.

Aus seinem Bedürfnis, sich auf unserem Hof nützlich zu machen, erwachsen neue Probleme. Einmal findet er Motoröl in der Werkstatt. Damit macht er Türschlösser und Scharniere gangbar. Leider glänzen und triefen auch Türgriffe und Fußböden. Manchmal kocht er für uns auf seinem Kanonenofen unter fragwürdigen hygienischen Umständen fragwürdige Delikatessen: Fichtennadeltee, gebackene Fladenpampe, verdächtige Pilzgerichte. Aus dieser Nummer kommt man nur mit List heraus. Klar, er will etwas zurückgeben. Aber gerade so bringt er uns an unsere Grenzen. Und nicht zuletzt mit manch anderer Eigenart: Als es später im Jahr heiß wird, läuft er stets splitternackt herum. Dass wir gerade Kindergeburtstag im Garten feiern, stört ihn nicht im Geringsten. Wir grübeln, was die Kinder wohl zu Hause erzählen werden. Stegmanns früher Besuch in 2006 war wohl der schwierigste. Aber auch derjenige, bei dem mir klar wurde, dass mein Unbehagen gar nicht von seiner Gegenwart herrührte, sondern von meiner Unfähigkeit, mit der Situation umzugehen. Aus falscher Rücksichtnahme und unpassendem Mitleid hatte ich klare Absprachen und feste Regeln vermieden. Um nicht unhöflich zu wirken, hatte ich mir seine Schimpfkanonaden länger angehört, als es gesund ist. Von da an begann ich Uhrzeiten für seinen morgendlichen Auftritt festzulegen, ihm meine Werkstatt zu verbieten, ihm im Gegenzug festes Werkzeug und einen Ort für seine Basteleien zuzuweisen, und gebot ihm, wenigstens eine Unterhose zu tragen. Auch verbat ich mir, seine Tiraden anhören zu müssen. Er akzeptierte alles ohne zu murren, und ich spürte rasch, um wie viel entspannter ich mich plötzlich auf eigenem Grund und Boden bewegte. Auch für ihn wurde der Aufenthalt berechenbarer.

Seitdem fällt es mir auch leichter, ihn zu bewundern. Ulrich ist ein Genie der Improvisation. Aus Fichtenästen, blauen Plastikschnüren, Folienresten und ein paar krummen Nägeln baut er sich in wenigen Wochen eine ganze Welt: ein Zelt, ein Treibhaus, perfekt geeichte Sonnenuhren, sogar Flugzeuge. Letzteres ist sein Hauptzeitvertreib. Bei jedem Besuch kreiert er im Stile Leonardos Flugobjekte, von denen manche sogar einen Antrieb haben: die Muskelkraft. Mit einer ausgeklügelten Mechanik sind sie versehen, um die Flügel nach Art der Vögel zu bewegen. Das sieht abenteuerlich aus, allerdings steckt eine Menge aerodynamisches Wissen dahinter. Und wenn er nach Wochen beharrlicher Arbeit die Hebel in Bewegung setzt, ist man schlagartig überzeugt, dass es im Prinzip funktionieren könnte! Doch wie bei Leonardo reicht auch bei ihm die Kraft nicht aus. Was bleibt, ist das Basteln selbst und die damit verbundene Hoffnung, irgendwann einmal abzuheben und all dies hinter sich zu lassen.

Im Supermarkt ist Ulrich auf der unteren Regalebene zu Hause. Für 5 Euro schleppt er beträchtliche Berge in seinen Bauwagen: Mehl für 29 Cent, Tortenböden, Billiglimo. Aber keinen Alkohol. Ulrich trinkt nicht, Ulrich raucht nicht. Ulrich ist strikter Vegetarier. Alles, was er besitzt, passt in seine zwei Eimer. Ulrich geht mit der Sonne schlafen und steht mit ihr auf. Ulrich geht nie zum Arzt. Ulrich wird hundert. Bestimmt.

Als wir neulich über die Jagd sprachen – Ulrich hasst Jäger –, kam er auch auf Jesus zu sprechen. „Der Jesus war genau so ein Lausbub. Hat zu den Fischern gesagt: Hier müsst ihr eure Netze auswerfen! Auch ein Mörder. Seine Mutter wollte ihn ja gar nicht haben. Hat ihn den Kühen in die Krippe zum Fraß vorgeworfen. Aber die Kühe wollten ihn nicht, weil er in seine Windeln gemacht hatte. Dann hat ihn sein Vater Joseph halt zum Schreiner ausgebildet. Ja, so war das. Ich bin nun mal ein alter Bibelforscher.“

In einer Zeit, in der immer mehr Menschen immer mehr dasselbe sagen, tut einer wie Ulrich gut. Auch wenn es nicht selten barer Unsinn ist, so ist es doch erfrischender Unsinn. Stegmann ist ein Beispiel dafür, dass man die Welt auch ganz anders betrachten kann. Irgendwie ein Verrückter, irgendwie ein Sokrates, irgendwie ein Geschundener, irgendwie ein wahrhaft freier Mensch.

In den letzten Jahren ist er milder geworden. „Blöd sindse, kannste nix machen“, urteilt er zwar noch immer über die Mitmenschen. Doch mit versöhnlichem Lächeln fügt er hinzu: „Vielleicht hab ich mich an ihre Unverträglichkeit gewöhnt“.

Jetzt ist er 84, und eine Unterhaltung mit ihm ist einfacher als am Anfang seiner Besuche. Und ich muss zugeben, dass ich ihm in diesem Sommer das erste Mal wirklich zugehört habe. Er hatte schon oft von seinen großen Seereisen erzählt, die er vermutlich antrat, weil er in seinem Beruf nicht mehr zurechtkam. Dass er in Geographie jeden Kreuzfahrttouristen in die Tasche steckt, hat er oft bewiesen. Als er diesmal aber detailliert von den Südseeatollen Manihiki und Rakahanga berichtet, will ich es genau wissen und entfache eine regelrechte Google-Schlacht. Tatsächlich! Ich finde den Schiffsnamen in einem Register sowie Hinweise auf die erwähnte Frachtschifffahrts-Gesellschaft. Als Krönung entdecke ich ein Buch, welches Ulrichs damaliger Chef im Rückblick auf die Pionier-Jahre der Südsee-Handelsschifffahrt geschrieben hatte. „Schnürsenkelverschiffung im Südpazifik“ lautet der originelle Untertitel. Es hat sogar mehrere Auflagen erlebt. Ich treibe es in einem englischen Antiquariat auf und halte es drei Wochen später in den Händen. Im entscheidenden Passus auf S. 85 schildert der Unternehmer, wie er 1964 per Zeitungsanzeige Seeleute gesucht hatte, um das neue Schiff von der Werft in Hongkong zu den Cook Islands zu überführen. „Ein buntes Völkchen stellte sich vor, aber nur einer, ein arbeitsloser deutscher Seemann namens Ulrich, hatte einige Erfahrung vorzuweisen. Ich stellte ihn als Schiffszimmermann ein, und er entpuppte sich als ein geschickter kleiner Kerl“.

Welch ein Fund! Begeistert zeige ich ihm die Stelle in ihm völlig unbekannten Buch und drucke noch ein Schwarzweißfoto von „seinem“ Schiff aus. Ich erlebe Ulrich das erste mal gerührt. Und stolz. Diese zwei Jahre, deutet er an, waren die glücklichste Zeit in seinem Leben.

Erstmals tauchte Stegmann 1991 in der Rhön auf, wahrscheinlich wegen der Fliegerei auf der Wasserkuppe. Er schellte am Forsthaus bei meinem Försterfreund und bat darum, im Waldarbeiterwagen übernachten zu dürfen. Nächstes Jahr wird es 25 Jahre her sein. Eine Gästeehrung mit Gruppenfoto samt Bürgermeister und Tourismusmanager wird es wohl nicht geben. Verdient hätte er es. Und auch wenn wir immer erleichtert sind, wenn er nach zwei aufreibenden Monaten wieder abreist, so fürchten wir doch das Frühjahr, an dem er einmal nicht mehr kommen wird.

Wie Stegmanns Fluggerät in Bewegung aussieht, können Sie auf Youtube bestaunen:

https://www.youtube.com/watch?v=zBLctU434aA

von Arnulf Müller

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