Aufhören oder nicht aufhören?

Menschen erzählen aus ihrem Leben

Manchmal ist das eine Frage, manchmal keine. 6 Menschen haben Reinhold Jordan erzählt, wie es ihnen in ihrem Leben mit dem Aufhören ergangen ist.



„Öfter mal was Neues!“

Charlotte Schnath erinnert sich noch gut daran, dass ihre Mutter oft zu ihr als Kind sagte: „Du fängst Tausend Dinge an und bringst nichts zu Ende!“ Das war auch so, sagt sie heute. „Ich war jemand, der immer alles ausprobieren musste. Einfach um herauszufinden, ob es was für mich ist.“ Und wenn nicht? Es wieder aufzuhören. Dabei hat sie vieles in ihrem Leben initiiert. Sie gründete als junge Mutter gemeinsam mit anderen das Mütterzentrum Die Mütze, als Künstlerin organisierte sie ein Gemeinschaftsatelier und mit einer Freundin das Atelier aller- ART in Fulda. Auch in ihrem Beruf als Sozialpädagogin war es so. Oft hat sie „begonnen und aufgehört“. Entweder war die Stelle von vorneherein befristet oder sie hatte, nachdem die Aufgabe erfüllt und sich alles eingespielt hatte, wieder Lust auf etwas Neues. Selbst bei Kleinigkeiten sei das so, sagt sie lachend. Ist zum Beispiel ein Marmeladenglas leer, freue sie sich schon auf das neue. Und ja, auch Freundschaften können aufhören. Als junge Mutter hatte sie zum Beispiel ganz innige Verbindungen zu anderen jungen Müttern. Als die Kinder dann älter wurden, verlor man sich aus den Augen. Irgendwie hat alles seine Zeit. Und wenn sie vorbei ist, ist sie vorbei. Da sei sie ziemlich unsentimental. Die Befürchtungen ihrer Mutter haben sich allerdings nicht bestätigt. Denn zwar hat sie sehr vieles in ihrem Leben angefangen, aber auch vieles zu Ende gebracht. Was bei ihr bis heute allerdings nicht aufgehört hat, ist die kindliche Neugierde und die Lust auf neue Erfahrungen.

 

„Damit hört keiner freiwillig auf“

„Den Chefsessel zu räumen, ist keine so leichte Sache“, sagt Harald Jörges, der 20 Jahre Leiter der Fliegerschule Wasserkuppe war – so lange wie noch niemand vor ihm. Als dann das erste Mal das Chef-Telefon klingelte, ohne dass er gemeint war, war das ganz schön komisch. Aber die Entscheidung des 65-Jährigen war wohlüberlegt. Zum einen schaut er auf insgesamt 50 Berufsjahre zurück und zum anderen war es ihm enorm wichtig, seinen Nachfolger aus den eigenen Reihen gemäß der weltweit einzigartigen Tradition der Fliegerschule Wasserkuppe zu begleiten und einzuarbeiten – auch wenn der Schritt für ihn kein leichter war. „Schon gewöhnungsbedürftig, nicht mehr die wichtigen Entscheidungen zu treffen“. Aber er ist ja nicht aus der Welt. Steht zur Seite mit all seiner Erfahrung. Viel Dankbarkeit erfahrt er dafür. Und seine geliebte Arbeit als Fluglehrer macht er auch weiter. Ja, das Fliegen überhaupt, das ist seine große Leidenschaft. Glücklich ist er darüber, sein Hobby zum Beruf gemacht zu haben. Damit ebenfalls aufhören? Im Moment absolut undenkbar für ihn. Niemand, den er kennt – und er kennt viele Flieger –, hört freiwillig damit auf, sagt er. Was ist es? Wahrscheinlich eine Droge. Aber eigentlich findet er kaum Worte dafür. Unterwegs zu sein in diesem großen Luftozean, wie er es nennt, ganz auf sich gestellt, im Kampf mit den unvorhersehbaren Kräften der Natur, jeder Moment riskant, abenteuerlich, herausfordernd, immer hellwach sein, immer die Kontrolle behalten – man muss es wohl selbst erlebt haben. Trotz seiner unglaublichen 15.000 Flugstunden und 45.000 Flugstarts, die er bis heute hinter sich hat – seine Faszination für das Fliegen wird wohl niemals aufhören.

 

„Der Fluss kennt den Weg“

Im Alter von 32 Jahren hörte Matthias Jordan auf, ein „normales“ Leben zu führen. Nach einem Urlaub in Thailand und einem Meditationsseminar in einem buddhistischen Kloster beschloss er, sein altes Leben als Garten- und Landschaftsbauer aufzugeben. Etwas hatte ihn gepackt, etwas tief berührt. So etwas wie die Sehnsucht nach Wahrheit, sagt er. Jedenfalls waren es keine rationalen Beweggründe, sondern eine innere Stimme, ein Gefühl, dem er folgte. Er brach seine Zelte ab und wollte für ein Jahr in ein Kloster. So der Plan. Gut erinnert er sich noch an den Abend vor der Abreise, als er durch die Straßen der Stadt fuhr, durchdrungen von einer großen Aufgeregtheit, sich auf etwas ganz und gar Neues und Unbekanntes einzulassen. Da ahnte er noch nicht, dass aus einem Jahr zwölf Jahre werden würden. Solange lebte er als buddhistischer Mönch in verschiedenen Klöstern und Einsiedeleien in Thailand, Sri Lanka, Kanada und Europa. Und dann? „Dann war es wieder ein Gefühl“, sagt er. Irgendwie nicht mehr am richtigen Ort zu sein. „Doch natürlich lag es nicht am Ort, sondern daran, dass er für mich nicht mehr passte.“ So kehrt er zurück in die „normale“ Welt. Behalten hat er seinen buddhistischen Mönchsnamen „Dhammavaro“, der auf Deutsch soviel bedeutet wie: der Wahrheit zugeneigt. Bereut hat er es nie. Alles hat so gestimmt. Er wurde Vater, fand eine Lebenspartnerin, gibt heute Seminare, schreibt Bücher. „Ich glaube,“ sagt er rückblickend, „dass letztlich immer das Leben entscheidet, also eine größere Kraft als wir selbst“. Oder anders ausgedrückt: „Der Fluss kennt den Weg“, so einer seiner Lieblingssätze.

 

„Obwohl ich aufgehört habe, hat es nicht aufgehört!“

Während Monika Kremer auf ihrem Balkon sitzt, die Sonne genießt und eine leckere Tasse Cappuccino vor ihr steht, ist der Moment eigentlich perfekt. Eigentlich. Denn irgendwie fehlt etwas. Ach genau: eine Zigarette. Genau das waren sie immer: diese typischen Momente, in denen sie sich genüsslich eine ansteckte. Früher.
Und obwohl sie schon vor drei Jahren aufgehört hat, hat das nicht aufhört. Wird es wohl auch nicht. Ob bei einem Kaffee, nach einem guten Essen oder in geselliger Runde, kommt es immer wieder angeflogen, dieses Verlangen nach einer Zigarette. Kennt ja fast jeder, der mal geraucht hat. Und geraucht hat sie wirklich gerne, sagt sie. Obwohl sehr sportlich und ein “Geruchsmensch“. Passt eigentlich gar nicht. Stimmt! Pause. Keine Erklärung. Verstehen tut sie es selbst nicht. Frischen Zigarettenrauch liebt sie jedenfalls bis heute. Angefangen zu rauchen hat die Mutter von drei erwachsenen Töchtern schon als Teenie, und nur einmal zwischendurch aufgehört, aber für lange Zeit. Während der Schwangerschaften ihrer Töchter bis die Jüngste im Kindergarten war. Dann wieder angefangen. Warum? Weiß sie auch nicht so genau. Wie das halt so ist. Dabei lief sie sogar Marathon und machte Triathlon. Und warum jetzt wieder aufgehört? Nach über 20 Jahren? Den besten Grund, den es geben kann! Dabei war der Entzug schlimm, sagt sie. Als verliere sie einen guten alten Freund. Schwitzen, Schmerzen, alles! Und der Grund? Heißt Sam. Ihr erster Enkel. Die Vorstellung, dass ihr Enkel sie als rauchende Oma kennenlernt und er als Baby in ihrem Arm Rauchgeruch in der Nase haben würde, fand sie unerträglich. Kurz vor seiner Geburt hat sie es dann gerade so geschafft. Und wer Sam aus dem Film „Herr der Ringe“ kennt, nach dem ihr Enkel benannt wurde, weiß: Einen besseren Freund findet man nicht!

 

„Übergänge sollte man bewusst gestalten“

36 Jahre war Reinhart Wachter evangelischer Pfarrer, 18 Jahre davon in Gersfeld. Letztes Jahr hat er aufgehört, seinen Talar für immer abgelegt – vor dem Ende seiner eigentlichen Dienstzeit. Obwohl er vieles im Leben hat auf sich zukommen lassen: Diesen Schritt hatte sich der 63-Jährige vorher lange und gut überlegt. Er wollte aufhören, bevor vielleicht Ungemach des Alters oder Krankheiten ihn einholen. Auch Platz machen für Neues. Und Zeit haben für „alles und nichts“. Wie war das letzte Mal auf der Kanzel? Einen Moment der Wehmut gab es schon, sagt er. Nach seiner letzten Predigt, noch im Gottesdienst, zog er dann vor allen Gottesdienstbesuchern den Talar aus. Ein spontaner Impuls. Um zu zeigen: Jetzt bin ich auch nur noch ein einfaches Gemeindemitglied wie alle. Anschließend wurde vor der Kirche gefeiert. Abschied sollte auch ein Fest sein, sagt er. Er mag Bilder und Symbole. So steht im Vorgarten gegenüber seinem Hauseingang – manche mögen das etwas makaber empfinden – schon sein fertiger Grabstein. Was hat es damit auf sich? Schon immer habe er sich mit dem Tod beschäftigt, sagt er. Und es gehe ihm darum, Abschiede und Übergänge aktiv und bewusst zu gestalten – auch den Letzten. Er verbildlicht dies mit den Fußbodenschwellen, die in früheren Zeiten zwischen den Wohnräumen die Übergänge bildeten. Wenn man nicht aufpasste, stolperte man. So ist es auch im Leben. Besonders wenn etwas aufhört oder neu beginnt, sollten wir den Schritt bewusst tun. Das gilt aus seiner Sicht auch für den letzten Übergang. Deshalb der Grabstein. Seinen Namen hat er noch nicht einmeißeln lassen, aber ein Satz aus der Bibel schmückt die Umrandung: „... und siehe ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Matthäus 28/20)

 

„Jetzt reicht es auch langsam“

„Ich höre auf“, steht ganz unprätentiös in der Betreffzeile der Abschiedsmail, die Rosemarie Müller, seit 4 Jahren Koordinatorin Ehrenamt bei antonius, versandt hat. Sie hört auf zu arbeiten. Ganz! Nach 46 Jahren Berufsleben, 32 davon bei antonius. Das vorherrschende Gefühl? Freude. Keine Wehmut? Nein. Kann man das glauben? Ja. Denn sie erzählt von einem erfüllten und abwechslungsreichen Berufsleben als Erzieherin. So viele Stationen, so viele Erlebnisse, so viele Herausforderungen – alleine bei antonius. Doch trotz ihrer Liebe zur Arbeit und ihrem leidenschaftlichen Engagement für andere kam ihr vor knapp einem Jahr das erste Mal der Gedanke: „Na, jetzt reicht es auch langsam“. Denn es gibt ja auch noch was anderes! Gar keine großen Dinge. Denn Erfüllung fand sie in ihrem Wirken in den verschiedenen Leitungspositionen und Projekten sowie aus den sich daraus ergebenden reichen, vielfältigen Kontakten. Ebenso in ihrer Verbundenheit zu den Benediktinerinnen der Abtei zur Hl. Maria als Oblatin. Doch jetzt: Endlich mal Zeit haben, die Wohnung zu renovieren. Und und ihr Herzenswunsch: Endlich in einem Chor mitsingen! Wie war es eigentlich sonst so in ihrem Leben mit dem Aufhören und Neubeginnen? „Oft hatte ich Glück!“, sagt sie. „Meistens kam jemand auf mich zu und machte mir ein Angebot. So war das Aufhören meist leicht, begleitet von Vorfreude und Neugierde. Und so ist es auch jetzt!“ Endlich kann sie sich ihren Herzenswunsch erfüllen. Denn die 66-Jährige hat nicht nur die Zeit dazu, sondern auch das nötige Alter. Gerade mal eben. Endlich kann sie in einem ganz besonderen Chor mitsingen, dem Caritas-Chor 65plus, der von einer Fuldaer Benediktinerin geleitet wird. Hört sie wirklich ganz auf? Na ja, fast. Ein bisschen wird sie wohl im Ehrenamt bei antonius weitermachen. Dachte sich wohl schon der ein oder andere.

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