Ausgebremst!

Wo begegnet man in Fulda Menschen mit Behinderungen? Im Stadtbus. Warum? Weil Menschen mit Behinderungen ewige Buspassagiere sind. 

Weil sie vom Individualverkehr ausgeschlossen bleiben. Man traut ihnen nicht zu, eigenverantwortlich und sicher ein Fahrzeug zu lenken, und lässt sie deshalb gratis mit dem Bus fahren.

„Ja, wozu sollen denn solche Menschen einen Führerschein machen, wo sie doch kostenlos Bus fahren dürfen?“ Weil sie ein Recht auf persönliche Mobilität haben, wie jeder andere auch. Würden Sie auf Ihren Führerschein verzichten, nur weil Sie umsonst Bus fahren dürfen?

Die Bundesrepublik Deutschland hat im Jahr 2008 ein Gesetz verabschiedet, wonach „wirksame Maßnahmen“ ergriffen werden sollen, damit auch Menschen mit Behinderungen „persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit“ genießen können. Sie sollen einen „gleichberechtigten Zugang“ zu Verkehrsmitteln haben und unterstützende Technologien bereitgestellt bekommen.

Wie „wirksam“ solche Maßnahmen ergriffen werden, musste Ulrich Büttner erfahren. Der junge Mann aus Ziehers-Süd wollte den Führerschein der Klasse S machen. Für ein kleines Auto also, ein sogenanntes „Leichtkraftfahrzeug“, welches nicht mehr als 45 km/h schnell ist und weniger als 6 PS hat. Damit hätte er von seinem Wohnort zu seinem Arbeitsplatz, dem Bauhof in Poppenhausen, fahren können. Doch er wurde nicht zur praktischen Prüfung zugelassen, obwohl ihm ein TÜV-Gutachter zweifelsfrei bescheinigt hatte, trotz seiner spastischen Lähmungen „den Anforderungen zum Führen“ solcher Fahrzeuge „gerecht zu werden.“

Doch der Reihe nach. Die Geschichte beginnt zunächst vielversprechend. Im Herbst 2010 wendet sich der junge Mann an die Fuldaer Fahrschule Krebs. Er kennt den Geschäftsführer Michael Krebs, weil dieser ihn als Zivildienstleistender beim Roten Kreuz gefahren hatte. Für Krebs ist die Bewerbung eine Herausforderung: „Weil ich es nicht einschätzen konnte, habe ich gesagt: ›Komm Uli, wir fahren mal ein paar Stunden, damit ich mir ein Bild machen kann: Macht das Sinn oder ist es eine Schnapsidee?‹“ Bei der ersten Fahrt durch einen Kreisel kommen Zweifel auf, ob er schnell genug umgreifen kann. Aber nach weiteren Fahrten klappt es trotz seines erheblichen Handicaps besser. „Nach einigen Stunden hatte ich keine Bedenken, dass wir mit dem nötigen Training die praktische Prüfung bestehen können“, sagt Krebs.

Doch bevor es richtig losgehen kann, muss eine große Hürde genommen werden. Wer im Antragsformular wahrheitsgemäß ankreuzt, dass „körperliche oder geistige Mängel“ vorliegen, hat sich einer Begutachtung durch einen medizinischen Sachverständigen zu unterziehen. 356,14 Euro sind dafür auf den Tisch zu legen. „Das war teuer“, klagt Ulrich Büttner, „aber es hat geklappt." Er wird zur Prüfung zugelassen.
Mit dem positiven Bescheid in der Tasche fassen er und die Fahrschule Mut. Ulrich büffelt Theorie, bekommt die Bögen mit den Grundfragen für den Computer. So kann er alleine lernen. Die Zusatzfragen liest ihm sein Vater vor, da kann er sich die Antworten nicht so gut merken. Er fällt beim ersten Versuch knapp durch. Daraufhin bekommt er auch die Zusatzfragen in digitaler Form und besteht im April 2011: „Der Prüfer hat ›Oh!‹ gesagt, weil er nicht damit gerechnet hat, dass ich das so gut kann.“

Nun geht´s ans Praktische. Im Fahrschul-BMW üben Michael Krebs und dessen Vater Günter mit ihm. Naturgemäß fallen sehr viele Fahrstunden an. „Wir sind von Anfang an offen damit umgegangen und haben gesagt: ›Uli, dieser Führerschein kann dich am Ende fünf-, vielleicht sechstausend Euro kosten, und wir können dir keine Garantie geben, dass du ihn jemals bekommen wirst.‹“

Aber Ulrich glaubt an sich. Auch das Umfeld macht ihm Mut: „Du schaffst das!“, hört er immer wieder. Und er wird besser: „Es war sensationell“, sagt Krebs. „Wo man zuvor gesagt hatte: ›Mit so einem Handicap, vergiss es einfach!‹, musste man jetzt einsehen: Das ist völlig falsch! Das kommt nur von der Blockade in den Köpfen der Menschen, weil die sich das nicht vorstellen können. Mit der Zeit ist es ein richtig gutes Fahren geworden.“

Um das wirtschaftliche und persönliche Risiko so gering wie möglich zu halten, bittet die Fahrschule die Sachbearbeiterin der Führerscheinstelle, sich selbst ein Bild zu machen und mitzufahren. Auch sie engagiert sich, um den jungen Mann am Autoverkehr teilnehmen zu lassen.

Doch plötzlich wendet sich das Blatt. Der Prüfer, der die Theorieprüfung abgenommen hat (ebenfalls ein Mann vom TÜV-Hessen), informiert die Zulassungsstelle darüber, dass Ulrich Büttner keine normale Computermaus bedienen kann. Er hatte die Antworten mündlich gegeben, und ein Assistent gab diese unter Zeugen in den Computer ein. Mit seiner eigenen Rollmaus hätte er selber das Kreuzchen setzen können, so aber nicht. Dies genügte dem Prüfer, um gegenüber der Führerscheinstelle Fulda die Fahreignung anzuzweifeln. Damit steht diese unter „Ermittlungszwang“: Ulrich Büttner bekommt – weitere acht Wochen später – einen Bescheid: Er muss eine sogenannte „Fahrprobe“ machen, also ein weiteres Gutachten erbringen. Noch einmal 150 Euro (zzgl. Fahrschulwagen), noch einmal Stress und Ungewissheit.

Normalerweise dient eine solche Fahrprobe dazu, festzustellen, ob spezielle Umbauten am Fahrzeug helfen können, ein Handicap zu kompensieren. Ulrich Büttner fährt aber nicht in einem umgebauten Fahrzeug, auch nicht in einem Leichtkraftfahrzeug, für das er sich bewirbt. Er fährt im normalen PKW. Und er weiß: Wenn er diesen Test nicht besteht, hat er ein Jahr umsonst gekämpft und einige tausend Euro vernichtet.

Bevor der Gutachter eintrifft, setzt er sich in den Wagen, um Sitz und Spiegel einzustellen. Doch der Gutachter lässt ihn gleich wieder aussteigen und fordert ihn auf, den Ölstand des Wagens zu prüfen. Noch nie hatte er das machen müssen. Büttner bekommt die Haube auf und findet auch den Ölstab. Aber er wird nervös. 45 Minuten muss er durch die Innenstadt fahren, einparken – alles wie bei einer richtigen Fahrprüfung. Dem Fahrlehrer zufolge ist er trotz seiner Nervosität nicht schlecht gefahren, aber dem Gutachter genügt es nicht. Das Spiel ist aus.

Ob der junge Mann die Führerscheinprüfung bestanden hätte, wissen wir nicht. Manche blieben skeptisch, die Mehrzahl derer, die mit der Sache zu tun hatten, haben es ihm zugetraut. Entscheidend aber ist die Art und Weise, wie mit Menschen umgegangen wird, die trotz ihrer Behinderungen ihr Recht auf „persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit“ geltend machen. Nach fast einem Jahr Ausbildung plötzlich ein zweites Gutachten zu fordern war nicht fair! Laut Pressestelle des Landkreises hat derselbe Gutachter, der Herrn Büttner am Anfang die Fahreignung zugesprochen hat, später das zweite Gutachten für „notwendig“ gehalten.

Warum hat er seine Bedenken nicht schon in das erste Gutachten hineingeschrieben?

Auch die Fahrschule ärgert sich und und betont, dass das kein Einzelfall ist. In Richtung TÜV-Hessen sagt sie daher: „Wenn ihr Menschen mit solchen Behinderungen nicht fahren lassen wollt, dann verhindert das gleich! Macht ihnen und den Fahrschulen keine falschen Hoffnungen! Erst die Sache laufen lassen, bis erhebliche Kosten angefallen sind, und wenn man sieht, die machen ja ernst, plötzlich ein weiteres Gutachten hinterherzuschieben, ist nicht sauber. In anderen Regionen wird das anders gehandhabt.“

Und tatsächlich: Die Rückfrage des Magazins "Seiten- Wechsel" bei der Führerscheinstelle in Hanau ergibt, dass die gesetzlichen Grundlagen hier behindertenfreundlich ausgelegt werden: Eine eigens angesetzte Fahrprobe gibt es dort nur, wenn dies vom ärztlichen Gutachten ausdrücklich gefordert wird. Und alle weiteren Aspekte eines Falles werden während der normalen Fahrprüfung geklärt. Gewinnt der Prüfer dort den Eindruck, dass der Bewerber es nicht kann, fällt er eben durch. Ganz einfach. Ein gesondertes Gutachten für 150 Euro muss er dort „aus Gründen der Verhältnismäßigkeit“ nicht machen.

Wir fragen auch beim TÜV-Hessen nach: Warum muss jemand bei einer solchen „Fahrprobe“ beweisen, dass er den Ölstand messen kann? Das kann ein Mensch mit Gehbehinderung doch genauso gut an einer Tankstelle machen lassen. Die Antwort: „Die Ausgestaltung der Fahrprobe liegt im Ermessen des amtlich anerkannten Sachverständigen.“ Ach so. Und wir dachten naiv, dass sich die Ausgestaltung am Prüfungszweck orientieren sollte, nämlich die Fahreignung festzustellen ...

Und wir fragen bei der Führerscheinstelle in Fulda nach. Hier räumt man ein, dass dieser Fall unglücklich gelaufen sei. Dass so etwas passieren könne, liege aber an der Art des Verfahrens. Dem Gesetz nach könnten jederzeit Eignungszweifel durch Sachverständige ausgesprochen werden. Stelle das ärztliche Gutachten am Anfang die Fahreignung fest, werde der Bewerber zur Prüfung zugelassen. Es könne aber Fälle geben, bei denen später wiederum Zweifel aufkämen, sodass die Zulassung wieder zurückgenommen werden müsse.
Das heißt im Klartext: Ein Bewerber mit Behinderung geht ein erhebliches Risiko ein, weil er jederzeit damit rechnen muss, aufgrund seiner Behinderung ausgebremst zu werden – selbst wenn es eine Woche vor der praktischen Prüfung ist. Es gibt keine Beratungsstelle, an die sich ein Bewerber wenden kann, keine Instanz, die mal einen Tipp gibt und das Risiko abschätzen hilft. So, wie das Verfahren derzeit läuft, ist es für die Betroffenen intransparent, unkalkulierbar und im Einzelfall knallhart. Ulrich Büttner musste das bezahlen: seelisch und in bar.

Auch sein Chef, Poppenhausens Bürgermeister Manfred Helfrich, betont: „Die zuständigen Stellen hätten gerade in einem solchen Fall mehr Verantwortungsbewusstsein und Sensibilität zeigen müssen.“ Weil man ihm „zunächst starke Hoffnungen gemacht“ habe, sei er umso mehr enttäuscht worden. „Ich hoffe für Uli, dass er sein Selbstbewusstsein und seinen Optimismus behält.“ 

Christian Saleta, ein Mann aus Erding, hatte da mehr Glück. Auch er hat starke spastische Lähmungen, und auch ihm hatte das damals keiner zugetraut. Aber man ließ ihn vor über 15 Jahren seinen Führerschein machen. In München. Ein extrem schnelles Auto fährt er sogar, eine Corvette mit Gangschaltung (http://www.youtube.com/watchv=eSuGxk2dav0). Über sich selbst sagt er, dass er mittlerweilen nichts so gut könne wie Autofahren: „Irgendwie ist das Auto für mich so eine Art ›Prothese‹. Indem ich sozusagen in den ›Körper‹ Auto schlüpfe, gibt es praktisch keine Behinderung mehr. Wenn ich unterwegs bin, kommt keiner auf die Idee, dass der Fahrer irgendeine Behinderung haben könnte. Durch das Auto kann ich meine Behinderung einfach mal zu Hause lassen.“

Ulrich Büttner darf seine Behinderung nun nicht „einfach mal zu Hause lassen.“ Vielleicht sehen Sie ihn ja bald einmal, wenn er sich wieder zu Fuß über die Straße kämpft. Wohin? Ja, zum Wartehäuschen an der Bushaltestelle natürlich.

„Ich hoffe immer noch, dass es eine Möglichkeit gibt. Im Gutachten steht ja nicht ›überhaupt nicht‹, sondern ›im Moment nicht‹. Im Oktober will ich es nochmal probieren. Da muss ich aber nochmal komplett neu anfangen. Ich habe den Wunsch, dass ich dann im nächsten Jahr im Mai fahren darf.“

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