Begleite mich, aber betreu´ mich nicht!
Auf den ersten Blick wirkt es wie Wortklauberei: Menschen sollen begleitet, aber nicht betreut werden.
„Haben die bei antonius denn keine anderen Sorgen? Ist doch dasselbe!“, mag der ein oder andere einwerfen. Ist es aber nicht. Obwohl der Ausdruck „betreuen“ herzlicher anmutet – schließlich klingt die Treue an –, verschleiert er häufig die alltägliche Fremdbestimmung. Denn Betreuung
kann sehr schnell in Bevormundung umschlagen. Wenn der Helfende stets besser weiß, was gut für den anderen ist, dann wird es für diesen immer schwerer, eine eigene Lebensperspektive zu entwickeln. Er lebt sein Leben im Horizont fremder Erwartungen, im schlimmsten Fall verfällt sein Ich zum Es. Wie demgegenüber Begleitung im Alltag aussieht und worauf es dabei ankommt,
wollen wir an drei Beispielen erzählen.
„Ich mache meine Arbeit gut, wenn ich nicht mehr gebraucht werde“
Kai Heinemann bringt im Mediana Wohnstift den Müll runter, geht in der Küche zur Hand, reicht Essen an und unterstützt Kollegen bei der Pflege einer Bewohnerin. „Ich bin Mädchen für alles“, sagt er stolz. Seit zwei Jahren schon ist er als Hilfskraft tätig. Er selbst bewohnt ein Appartement im begleiteten Wohnen auf dem Campus von antonius. Hier kommt und geht er, wie er will. Es gibt dort zwar einen Gemeinschaftsraum, aber beispielsweise kein gemeinsames Telefon. Es ist keine WG. Deshalb gibt es auch keine vorgeschriebenen Aktivitäten wie das gemeinsame Essen zu bestimmten Uhrzeiten. Jeder versorgt sich selbst, nur etwa der Gebrauch der Waschmaschine oder Putzdienste müssen arrangiert werden. Dadurch „erziehen“ sich die Etagenbewohner gegenseitig: Wer stänkert, wird kein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn haben. Gelebte Normalität.
Für Heinemanns Begleiter Patrick Curth hat das Motto „Tausche Betreuer gegen Begleiter“ im Arbeitsalltag einen kleineren Stellenwert. Schließlich ging es von Anfang an bei seiner Tätigkeit darum, selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. „Ich mache meine Arbeit gut, wenn ich nicht mehr gebraucht werde“, sagt er lachend. „Das Motto ist dennoch wichtig, denn es vermittelt Denkanstöße. Begleiter zu sein, heißt immer auch, passende Rahmenbedingungen zu schaffen.“ Heinemann ergänzt: „Ein Begleiter versetzt sich besser in uns hinein und kommt nicht so oft wie ein Betreuer.“ Und natürlich ist er froh, in seinem Begleiter auch jemanden zu haben, mit dem er seinen Alltag besprechen kann. Als das erste Mal an seinem Arbeitsplatz im Mediana ein Bewohner starb, war Curth für ihn ein wichtiger Gesprächspartner.
Einige Stunden pro Woche unterstützt der Begleiter ihn beim Wäschewaschen, Aufräumen und Putzen. Auch das Gestalten der Freizeit gehört dazu. „Einkaufen kriege ich alleine hin.“ Eine Putzkraft würde Heinemann zwar schon gefallen, aber er sieht ein, dass er das selbst machen muss. Schließlich will er mal außerhalb von antonius wohnen, am liebsten in einer großen Stadt. Er kommt zwar vom Dorf, sieht sich aber als Großstadtkind. Mit Freunden zieht es ihn für ein Konzert von Rammstein schon mal nach Berlin, manchmal verreist er für mehrere Tage.
„Mädchen für alles“: Kai Heinemann als Helfer im Mediana
Sein Begleiter kann auch nerven, etwa wenn er Heinemann zur Hausarbeit drängt. Dass er an seine Pflichten erinnert werden muss, liegt an seiner Bequemlichkeit, gesteht Heinemann verschmitzt. Ziel ist, dass er sich künftig selbst aufrafft. Wenn seine Zukunftspläne Wirklichkeit werden sollen, muss er das können.
Seinen Auftrag, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, kann Begleiter Curth nur erfüllen, wenn es ihm gelingt, sich zurücknehmen. Er selbst könnte die notwendige Hausarbeit in Heinemanns Appartement viel schneller erledigen, und es ist nicht immer leicht, die nötige Geduld aufzubringen, besonders wenn der nächste Termin drückt. „Freiheiten zu gewähren und loszulassen, ist ein Lernprozess für alle Beteiligten.“ Das Recht auf Selbstbestimmung steht heute an erster Stelle und es wird nur eingeschränkt, wenn Schaden droht. „Von außen betrachtet sieht es nach leichter Arbeit aus, weil wir als Begleiter eine eher passive Rolle haben“, so das Fazit von Curth. „Die Kunst ist aber dieser Spagat: Wie weit kann ich mich rausziehen, und wann muss ich tätig werden?“
Begleiten und begleitet werden: Heinemann kennt beide Seiten
Bitte keine Märchen!
Auf das Motto „Begleiter statt Betreuer“ hat Peter Mohr nicht gewartet. Und doch ist er froh, dass es in der Tauschkampagne von antonius – Netzwerk Mensch so klar ausgesprochen wird. Dass er damit richtig liegt, war ihm schon während seines Praktikums vor mehr als 30 Jahren klar. Entgegen der damaligen pädagogischen Überzeugung suchte er mit Menschen, die man als Autisten bezeichnete, öffentliche Plätze auf und schuf Anlässe für ungezwungene Begegnungen mit anderen Menschen. Tatsächlich hat ihnen der Kontakt mit Fremden gut getan. Sie entwickelten spürbar mehr Lebensfreude.
Heute ist Mohr dankbar für den Rückenwind seiner Vorgesetzten. Bei allen Entscheidungen steht die Frage nach einem selbstbestimmten Leben im Fokus. Mohr leitet die Wohngemeinschaft Kamillus, in der elf mehrfach schwer behinderte Menschen leben, von denen sieben fest im Rollstuhl sitzen. Ihre Bedürfnisse können sie verbal kaum oder gar nicht äußern. Aber Mohr versteht die Kunst des Begleitens. Aus Signalen und Reaktionen der Bewohner liest er ihre Wünsche ab. Dabei muss er sein eigenes Denken und seine Wertvorstellungen oftmals zurückstellen: „Man muss viel beobachten und über seinen Schatten springen, um nicht die eigene Lebenskultur den anderen überzustülpen.“ Damit formuliert er einen wichtigen Unterschied zum Betreuen: Die Person des Begleiters ist im gewissen Sinne bedeutungslos. Nur die Begleitung als solche ist wichtig, denn es geht stets um die Person, die begleitet wird, um ihre Wünsche, ihre Anliegen und Vorlieben.
Ebenso wichtig: Wenn Menschen nicht sprechen können, wenn man ihnen das Essen anreichen und Windeln wechseln muss, fallen viele Helfer unwillkürlich in die Haltung des Bemutterns. Wer einen anderen bemuttert, zeigt aber, dass er ihm nichts zutraut. Indem er vorauseilend alle Hürden beseitigt – „Lass doch, ich mach das mal eben schnell“ –, verwehrt er dem anderen die Chance, sich auszuprobieren und an Erfahrungen zu wachsen.
Ein weiteres Problem ist, dass auch heute noch Helfer mit Menschen, die ein Handicap haben, manchmal wie mit Kleinkindern sprechen. Statt aus der Zeitung wird dann bevorzugt aus einem Märchenbuch vorgelesen. Dabei können die Betroffenen ihr wahres Alter oft sehr gut einschätzen und spüren genau, wann man sie ernst nimmt und wann nicht. „Wir kommen weg vom Betreuen“, so Mohr, „wenn wir Menschen altersgerecht behandeln.“
Jeder einzelne hier trägt seine Geschichte mit sich herum, und in dieser spiegelt sich immer auch das Berufsverständnis derjenigen Menschen wider, die mit der Person zu tun hatten. Einem älteren Mann in der Wohngemeinschaft etwa merkt man die Überbehütung während seiner frühen Jahren deutlich an. „Jahrelang hat man an seinen Defiziten herumgebastelt, ohne dass sich viel verbessert hätte. Klar, dass seine Motivation immer weiter sank.“ Deshalb konzentriert sich Mohr lieber auf Aktivitäten, die Freude bereiten: Ein Besuch in der Eisdiele oder ein Abstecher in die Kneipe. Bei solchen Gelegenheiten offenbart er überraschende Verhaltensweisen und Talente. Durch die sozialen Kontakte hat sich etwa sein Sprachvermögen gebessert.
Er erkennt sofort, ob ihn jemand ernst nimmt
Bei einem anderen Mann spürt man, wie sein Selbstwertgefühl wächst, wenn fremde Menschen ihn begrüßen. Er erkennt sofort, ob ihn jemand ernst nimmt. Soll er sich mit Bauklötzen beschäftigen, tippt er sich an die Stirn. Wer sein Zimmer betritt, entdeckt nur Chaos, aber für ihn selbst ist alles in schönster Ordnung. Wenn Reinigungskräfte versuchen, endlich mal „klar Schiff“ zu machen, stellt er alle Dinge kurz darauf wieder an ihren gewohnten Platz. „Wir lassen ihm einfach seine Ordnung, in der er sich wohl fühlt.“ Generell vertritt Mohr den Ansatz, die Umgebung an die Menschen anzupassen und nicht umgekehrt.
Eine junge Frau hat Hummeln im Hintern. Unablässig saust sie durch die WG, alles muss gesichert werden, damit sie es nicht von den Wänden abhängt. „Sie verfügt über großen Einfallsreichtum“, sagt Mohr – und nimmt’s mit Humor. Würde man ihren Bewegungsdrang mit Zwang unterbinden, würde sie sich verzweifelt die Hände dick schlagen. Deshalb lässt man sie herumstreunen, wobei man sie im wörtlichen Sinn begleitet. Nötige Kurskorrekturen werden ihr liebevoll vermittelt.
Im Alltag kann Mohr nicht immer auf alle Wünsche eingehen. Etwa ein Drittel der Arbeitszeit geht für pflegerische Aufgaben drauf. Wenn aber die Personaldecke hinreichend bemessen ist und niemand krankheitsbedingt ausfällt, gelingt es, Freiräume für die Erfüllung individueller Bedürfnisse zu schaffen. Solche Chancen zu nutzen und immer mal aus dem Alltagstrott auszubrechen, ist ein bleibendes Anliegen von Mohr, wofür er auch seine Kollegen zu begeistern sucht.
Ich bin dann mal kurz weg
Orangefarbenes Kleid, schmucker Gürtel, dazu eine leuchtend gelbe Mütze mit der Aufschrift „Hedi“. Hedwig Jäkel fällt auf, wenn sie alleine durch den Supermarkt streift. Dass sie dies überhaupt tut, scheint nicht erwähnenswert. Doch war es eine echte Überraschung, als sie nach einem Friseurbesuch aus heiterem Himmel verkündete: „Ich gehe jetzt ins tegut.“ Mit ihren 59 Jahren war sie noch nie alleine einkaufen. Nicole Hilgert, Leiterin der Wohngemeinschaft Lioba, stutzte in diesem Moment, ließ sie allerdings ziehen. Vom Kopf her war ihr klar, dass man als Begleiter loslassen können muss, damit sich Menschen weiterentwickeln. Aber nach einer halben Stunde wurde ihr mulmig: Wo bleibt sie? Ist etwas passiert? Als Jäkel wieder in der Tür stand, verkündete sie stolz: „Das war der tollste Tag in meinem Leben. Das mache ich jetzt öfter!“ Und Hilgert fragte sich: „Warum erst jetzt?“
Spricht man heute Hedwig Jäkel auf das Einkaufen an, kehrt sie die Routine heraus: „Is’n Katzensprung. Da jeh ich hinten die Treppe runter, da kommste an tegut. Brauchste keine Hauptstraße“, und legt in schönstem Niederrheinisch nach: „Ich jeh lieber alleine einkaufen. Dat macht doch jeder!“ Nur an- und abmelden muss sie sich. „Sonst werden wir jesucht, und dann hammer det Theater.“
Ihre neue Freiheit genießt sie sichtlich, auch dass sie sich bei ihren Ausflügen kleiden kann, wie sie möchte. „Früher hätten wir niemanden mit orangefarbenem Kleid und gelber Mütze vom Gelände gelassen. ‚Was sollen die Leute denken?‘, hat man da immer gesagt.“ Aber Hilgert und ihre Mitarbeiter verstehen sich nicht mehr als Betreuer, sondern als Alltagsbegleiter. Sie helfen, wo es nötig ist, achten aber genau darauf, nicht ohne Not über andere zu bestimmen.
Mit 59 Jahren das erste Mal alleine ins tegut: Auch Erwachsene wollen ihre Freiräume ausdehnen
Ein selbstbewusster Mensch wie Hedwig Jäkel bricht da mitunter verkrustete Strukturen auf. „Wenn sie etwas nicht tun möchte, frage ich mich selbstkritisch, warum ich das jetzt eigentlich von ihr will. Sie kann doch selbst bestimmen, ob und um welche Uhrzeit sie duscht.“ Statt kategorisch zu verbieten, heißt es, ins Gespräch zu kommen. Natürlich darf jeder Volljährige Alkohol trinken, aber unter der Woche besser nicht oder nur in Maßen. „Den Sinn von Regeln kann man vermitteln“, ist sich Hilgert sicher. Es ist nur zeitaufwendiger.
Jede Gemeinschaft braucht Regeln, aber nicht alle waren und sind sinnvoll. So hieß es früher etwa: „Kein Kaffee nach 17 Uhr“, „Wer nicht pünktlich zum Abendessen erscheint, geht leer aus“, und: „Gespräche vom Fenster in den Hof sind untersagt“. „Ich habe einen alten Zettel gefunden, da stand noch drauf, dass Besuch angemeldet werden muss.“ Hilgert schmunzelt.
Doch auch heute gibt es noch Mitarbeiter, die starre Regeln begrüßen, weil sie Risiken scheuen und deshalb zum Bestimmen neigen. „Es ist natürlich auch nicht leicht“, räumt Hilgert ein, „den Wünschen aller 14 WG-Bürger gerecht zu werden.“ „Bürger“ sagt sie, denn „Bewohner“ klingt zu sehr nach „Heimbewohner“, und vom Heim mit allem, was dazugehört, will man hier weg. Selbst der Begriff „Wohngemeinschaft“ trifft es nicht wirklich, denn die 14 Leute verschiedenen Alters haben sich ja nicht freiwillig hier eingefunden. Sie leben zusammen, weil jeder ein Handicap hat und weil Menschen mit Handicap an vielen anderen Orten nicht willkommen sind.
Äußerlich betrachtet sind es nur kleine Schritte, um vom Betreuen zum Begleiten zu kommen. Doch diesen müssen große Schritte im Denken und Fühlen vorausgehen. Ob man eher zum Betreuen oder zum Begleiten neigt, entscheidet sich letztlich daran, welchen Grad an innerer Freiheit man selbst erreicht hat. Es mag skeptisch klingen, aber wirklich lernen lässt sich das Begleiten nicht. So wenig wie eine heitere Wesensart.