Besser als sein Ruf

von Anna-Pia Kerber

Windmond, Nebelung oder gar Schlachtemonat – die Bezeichnungen des Novembers verheißen nichts Gutes. Aber man sollte nicht vorschnell urteilen. Entgegen seines finsteren Rufs hat der November durchaus gute Seiten – sie sind bloß weniger offensichtlich.

Das Wort November stammt von dem lateinischen Begriff novem und bedeutet neun, da der November vor unserer heutigen Zeitzählung dem neunten Monat entsprach. Der Begriff „Schlachtemonat“ wurde vor allem in Holland gebraucht, wo zu jener Zeit die Schweine zum Schlachten geführt wurden. Das ist Vergangenheit, und doch hat man für den November kaum freundlichere Bezeichnungen gefunden. Allgemein sind die meisten Menschen in unseren Breitengraden nicht besonders gut auf den November zu sprechen – man fürchtet das nasskalte Wetter, die frühe Dunkelheit und das Stimmungstief. Dass der November etwas sehr Wichtiges ermöglicht, wird dabei übersehen. Denn dieser Monat gilt – vor allem im Kirchenjahr – als die Zeit der Besinnung. Nach dem geschäftigen und ereignisreichen Sommer spielt sich das Leben nun mehr im Haus ab. Es ist die Zeit, in der man zur Ruhe kommt. Und die Zeit, in der man Gelegenheit zum Reflektieren hat. Warum brauchen wir den November? Weil er eine Ruhepause bietet. Weil er uns Einhalt gebietet, nachdem wir so lange gerannt sind, um unsere Ziele zu erreichen. Und sollten wir in die falsche Richtung gerannt sein, ist nun der Moment gekommen, um es zu erkennen – und einen neuen Plan zu machen. Denn nur, wenn man ab und zu anhält, kann man den Überblick über sein Leben behalten. Diese Zwangspause passt nicht allen. Wer will schon anhalten, um einmal genauer hinzusehen? Beginnt man sich zu fragen, ob der Weg bis hierher Sinn gemacht hat, könnte man eine unbequeme Antwort erhalten. Ist die Richtung noch immer die richtige? Ist das, was ich will, wirklich das, was mir guttut? Und gibt es etwas Schöneres, als sich im Nebel einmal vor der Welt zu verstecken und ganz mit sich allein zu sein, um es herauszufinden? Im November geht es um all das, was man nicht sehen kann.Die Farben in der greifbaren Welt verblassen, dafür treten Erinnerungen, Wünsche und Geister in den Vordergrund. Der zweite November etwa, Allerseelen, ist gänzlich den Verstorbenen gewidmet. Rund um die Welt wird dieser Feiertag begangen – mal sehr bunt und fröhlich, mal still und ernst. In Mexiko gibt es zum Beispiel ein großes Fest, und die Familien backen Brote und legen den Verstorbenen Küchlein und Zuckerwerk auf die Gräber. Sie wollen nicht in der Trauer stehen bleiben, sondern für die Zeit dankbar sein, die sie mit ihren Lieben verbringen durften. Dankbar sein für all die schönen Erinnerungen, die man sich jetzt wieder ins Gedächtnis rufen darf. Nicht sehen lassen sich auch die Heiligen, derer am ersten November gedacht wird. Im Kirchenjahr ein wichtiger Tag, da die Heiligen Schutz und Trost spenden – unsichtbar, aber das gesamte Jahr hindurch. Unsichtbar wie die Hoffnungen und Träume. Und trotzdem sind Erinnerungen, Hoffnungen und Träume eben so lebendig, wie wir sie sein lassen. So bunt, wie wir sie malen. Es ist an uns, Farbe in die Tage zu bringen und sie zu nutzen, um das zu tun, was wir uns schon lange vorgenommen haben.Was wäre, wenn es diese Pause nicht gäbe? Weiterrennen? Jagen? Blindlings arbeiten bis ans Ende der Kräfte? Täten wir das, wären wir leer. Wir würden nur aus Handlungen bestehen. Zusammenhangslos, haltlos, ruhelos. Aber zum Glück gibt es den November. Zum Glück gibt es eine Zeit, um alle Handlungen in einen Zusammenhang zu bringen: um ältere Verwandte zu besuchen, um zuzuhören, aufzuschreiben. Um aus dem zu lernen, was vor uns war. Wir brauchen nicht alle dieselben Fehler zu wiederholen. Wir können uns die Vergangenheit ansehen – aus sicherer Entfernung – und dann selbst entscheiden, ob wir es genauso machen wollen. Damit wir ruhiger in das nächste Jahr gehen können. Und stärker.Denn wenn das Jahr sich neigt, heißt das nur eines: Jedem Ende wohnt ein neuer Anfang inne, und über diesen hat wohl Hermann Hesse, nachdem er eine lange Krankheit überwunden hatte, die tiefsten Zeilen geschrieben:

 

„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

 

(Auszug aus dem Gedicht „Stufen“, 1941)

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