Corona und die Folgen für antonius

von Arnulf Müller

Rainer Sippel im Gespräch

Wenn wir sagen, ein Mensch ist behindert, sprechen wir ungenau. Richtig müsste es heißen: Er wird behindert. Durch andere nämlich, die ihn aufgrund seiner Merkmale aus vielen Lebensbereichen ausschließen. „Der kann das ja eh nicht“, heißt es schnell, und das war's dann mit Ausbildung, Arbeit und eigenständiger Lebensgestaltung.
Um solches Behindertwerden zu bekämpfen, verfolgt antonius ein bewährtes Konzept: das der Begegnung von Mensch zu Mensch. Vorurteile lösen sich auf, wenn man sich persönlich kennenlernt, wenn man gemeinsam arbeitet, gemeinsam lacht. Dann wird aus „dem Behinderten“ auf einmal „der Christian“, und schon wird vieles möglich, was undenkbar schien. Deshalb spinnt antonius seit Jahren tausende Fäden in die Gesellschaft, um Menschen zu verbinden und Chancen zu eröffnen. So weit, so gut – wäre da nicht Corona, dieses Biest, das diese ganzen Fäden auf einen Schlag durchbeißt und die Menschen zurück in die Isolation zwingt. Ein Gespräch mit Rainer Sippel, dem Geschäftsführer von antonius – Netzwerk Mensch, über die Frage, wie das Virus antonius bedroht.


Gestaltet maßgeblich die Geschicke von antonius seit 1995: Geschäftsführer Rainer Sippel

Herr Sippel, wie erleben Sie das Ganze?

Für mich ist das alles sehr befremdlich. Es macht mich ehrlich gesagt auch traurig. Wir leben ja von der Begegnung. Ich bin selbst auch jemand, der gerne in Kontakt mit Menschen ist und Nähe sucht. Bei den Menschen, die bei antonius wohnen, nehme ich das genauso wahr. Abstand ist natürlich das Gegenteil. Wir haben in den letzten Jahrzehnten mühsam versucht, die Isolation aufzuheben. Wir haben die Zäune abgerissen, Wände durchbrochen, viele Aufbrüche hin zur Gesellschaft gestartet. Und auch die Bürger aus der Region sind offen, sie bewegen sich immer mehr auf antonius zu. Doch jetzt ist es ein Stück weit Déjà-vu ‒ zurück in die 90er.


Es fühlt sich also wieder an wie ein Heim?

Im Moment ja. Und man merkt sofort, wie das alte Denken wieder an Kraft gewinnt. Es besteht die Gefahr, das man sich an die Schutzmaßnahmen gewöhnt. Die Öffnung von antonius ist ja eine große Herausforderung für viele Menschen. Das ist auch anstrengend. Durch die Kontaktverbote erlebt man, dass es manchmal bequemer ist, sich in die gewohnten Räume zurückzuziehen. Aber das widerspricht natürlich unserem Konzept. Da müssen wir aufpassen.


Welche Maßnahmen wurden ergriffen, als sich die Lage zuspitzte?  

Bei antonius leben auch Menschen, die zur Hochrisikogruppe gehören. Da mussten wird entschieden handeln. Die Eltern mussten sich entscheiden: Entweder holen sie ihren Angehörigen nach Hause oder er bleibt die nächsten Wochen hier und es besteht Besuchsverbot. Das war für viele eine sehr harte Entscheidung, die wir auch begleitet haben. Wir haben es dann aber strikt durchgeführt. Das Kerngelände, der Campus, ist ein isolierter Bereich, kein Externer darf rein oder raus. Auch die Wohngemeinschaften dürfen untereinander keinen Kontakt haben. Sie wechseln sich z.B. mit dem Spaziergang ab. Pfingstsonntag hatten wir einen Fenster-Gottesdienst: Die Leute schauten aus dem Fenster und der Pfarrer stand im Innenhof, auf der Bleiche.


Gab es in den Wohngemeinschaften Probleme?

Da muss sich sagen: Respekt! Ich hatte große Befürchtungen, aber die Menschen, die dort wohnen, machen das großartig. Es gibt eine große Geduld. Das hat mich überrascht, denn über viele Wochen isoliert zu sein, zum Teil auch in einem Doppelzimmer zu leben, nicht mehr arbeiten dürfen, nicht in die Cafeteria gehen zu können oder in die Stadt, das ist schon bitter.
Dass es so gut klappt, liegt natürlich auch an unseren Assistenten, die sehr große Flexibilität bewiesen haben, sich auf ein anstrengendes Wechselschichtsystem eingestellt haben und sehr kreativ neue Strukturen geschaffen haben.


Hat jemand einen Koller bekommen?

Eigentlich nicht. Aber wir mussten viel erklären. Pater Thomas hat viele Gespräche geführt, auch die Schwestern. Elmar Möller, der bei antonius für Freizeitangebote zuständig ist, hat sich viel einfallen lassen. Wir mussten schon ein paar Ventile schaffen. Wir haben auch Schutzmasken genäht, die wir bis nach Frankfurt verkauft haben, aber auch für unseren Eigenbedarf.

Worin lagen die organisatorischen Schwierigkeiten?

Es galt herauszufinden: Wo liegt die wirkliche Bedrohung? Sind es nur die Leute, die im Ausland im Urlaub in Ischgl waren? Wer kann das Virus hereintragen? Und was hilft? Ist es die Maske oder nicht? Als Geschäftsführer habe ich ja auch eine persönliche Haftung. Wir tragen eine große Verantwortung für viele Menschen, die hier leben. Da will ich auch persönlich Schutz bieten. Und wenn man mit so viel Unsicherheit umgeben ist, liegt man nachts wach und überlegt sich: Haben wir alles richtig gemacht?


Wie schwer wiegen die wirtschaftlichen Folgen für antonius?

Wir haben erhebliche Ausfälle, etwa in der Gastronomie oder in den Schulcafeterien. 80 Leute sind in Kurzarbeit. Es gab Verdachtsfälle, wo wir Quarantäne verhängen mussten. Wir haben auf den Wohngemeinschaften 10-Tages-Dienstpläne aufgestellt. Es ist alles sehr aufwendig. Die 330 Ehrenamtlichen dürfen derzeit nicht in die Betriebe von antonius oder in die Wohngemeinschaften. Sie fehlen uns massiv.


Es fehlen also nicht nur Einnahmen, es entstehen auch höhere Personalkosten?

Richtig. Den Wegfall der Freiwilligen müssen wir ja kompensieren. Das ist alles andere als einfach. Wir haben auch deutlich weniger Anmeldungen für das antonius Jahr. Viele junge Menschen entscheiden sich wegen der großen Unsicherheit gegen ein freiwilliges Jahr bei uns. Und natürlich ist auch das Spendenaufkommen auf einem ganz niedrigen Niveau.


Fehlt in schwierigen Zeiten die Solidarität?

Das kann man so nicht sagen. Aber die Menschen spenden heute meist aufgrund eines Anlasses. Man wird zu einer Veranstaltung wie dem Frauenberger Sommer oder zum Frühlingsmarkt eingeladen. Da kommt man hierher, lernt Menschen kennen, sieht, was vor Ort geschieht, und kann sich persönlich von der Sinnhaftigkeit des Ganzen überzeugen. Da spendet man gerne etwas. Heute wird kaum noch anonym oder ohne Anlass gespendet. Aber diese ganzen Anlässe fallen derzeit weg. Es fehlt also nicht die Solidarität, aber wir müssen eben andere Anlässe schaffen. Da sind wir auf der Suche nach neuen Wegen.
Wir rechnen auch mit erheblichen Ausfällen von der öffentlichen Hand. Der soziale Bereich muss wahrscheinlich mit Einbußen rechnen, weil Subventionen und Zuschüsse jetzt eher an die Wirtschaft gehen.


Also wäre gerade jetzt die Unterstützung durch die Bürgerschaft wichtig?

Richtig! Wir freuen uns über jeden, der jetzt wieder bei uns im Laden oder der Gärtnerei einkauft. Oder der unsere Gastronomieangebote am Frauenberg, im antons, im LadenCafé oder auf dem Campus nutzt.


Und wie sind sie persönlich durch die Krise gekommen?

Bei aller Schwierigkeit nehme ich die Zeit auch als unglaubliche Entschleunigung wahr. Ich hatte plötzlich einen ganz anderen Terminkalender. Die Abend- und Wochenendveranstaltungen fielen alle weg. Man hat viel mehr Zeit für das Wesentliche, Zeit zum Nachdenken: Was ist eigentlich wichtig? Wer sind meine wirklichen Freunde? Was mache ich mit der freien Zeit? Schaue ich nur fern? So geht es vermutlich vielen. Bei uns zu Hause haben wir zum Beispiel die Tischtennisplatte mal wieder aufgestellt.
Bei antonius hatten wir an einem Dienstag eine Beerdigung. Da stand der Sarg auf der Bleiche und fast alle haben Abschied genommen. Alle hatten Zeit. Man spürte viel Kraft. Es war nicht wie sonst, die Hektik im Rücken und immer am Handy.

Wird die Normalität bald zurückgekehrt sein?

Ich habe die ganze Zeit gedacht, es gibt bald ein Zurück zur Normalität. Aber im Leben gibt es kein Zurück, es geht immer nur vorwärts. Die kommende Zeit wird anders sein, aber wir wollen diese Zeit mitgestalten. Wir denken nach, was das jetzt alles für uns bedeutet. 

Das Gespräch führte Arnulf Müller

 

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