Da steckt Arbeit in der Tüte

Der junge Mann ist tief über seine Arbeit gebeugt. Er ist ganz bei sich, ganz beim Malen. Sein Talent bringt eindrucksvolle Ergebnisse zutage.

Mal sind es farbenfrohe, mal düstere, mal kontrastreiche Bilder. Sie zieren Papiertüten, die der Fuldaer Sneaker Store 43einhalb nutzt, um die trendigen Turnschuhe für seine Ladenkunden zu verpacken. Doch die Taschen sind mehr als bloßes Verpackungsmaterial. Hinter ihrem Entstehungsprozess steckt eine Geschichte – eine Geschichte, die zeigt: Jeder kann was.  

Der Mann, der die Bilder schafft, ist Markus Kümmel. Er arbeitet bei antonius im GestaltenWerk Bereich Holz. Dass er das schafft, haben viele anfangs nicht für möglich gehalten. Der 25-Jährige hat umfassende geistige und körperliche Einschränkungen. Das zeigt sich auch in Koordinationsstörungen. Einmal eine Arbeit aufnehmen zu können, stand für ihn lange Zeit außer Frage. Den Tag mit Beschäftigung in einer Tagesförderstätte zu verbringen  ̶  das schien der vorgegebene Weg zu sein. „Das wäre für einen Menschen mit seinem Grad an Behinderung der typische Werdegang“, sagt Arne Godfrey. Er ist der Leiter dieser Abteilung, in der Markus Kümmel nun schon seit fast fünf Jahren zur Arbeit geht.

„Arbeit“ ist der entscheidende Begriff. Die Bilder, die Kümmel tagtäglich malt, entstehen nicht bloß zum Zeitvertreib, damit er beschäftigt ist. Sie sind Teil eines Produktionsprozesses. An dessen Ende steht ein fertiger Artikel: Eine bemalte Papiertüte. Sie hat einen Wert. Sie wird verkauft. Sie wird in einem Geschäft an die Kunden weitergegeben. Die Kunden tragen damit ihren Einkauf durch die Stadt nach Hause.

Damit aus Markus Kümmels Begabung ein Arbeitsplatz wurde, war viel Erkennen, Mitdenken und Umdenken gefragt. Marek Saalfeld, der Leiter des GestaltenWerks, war Teil dieses Prozesses. Er erinnert sich: „Markus hat sich 2011 bei uns im GestaltenWerk beworben, nachdem er die Startbahn besucht hatte. Bei seinem Vorstellungsgespräch – was einer Art Talenterforschung gleichkommt  ̶  saß er mit uns am Tisch und malte. Als wir uns sein Bild anschauten, stellten wir fest: ,Das ist gut! Da kann man was draus machen‘“. Kümmels Bilder weisen eine besondere Textur auf. Denn er malt mit beiden Händen, wechselt die Wachsmalstifte zwischen rechter und linker Hand. Vor allem, wenn er Flächen schraffiert, entstehen sehenswerte Effekte. Eine leicht glänzende Oberfläche ist das Ergebnis.

Sein Talent war erkannt. Das Team des GestaltenWerks schuf daraufhin einen maßgeschneiderten Arbeitsplatz für ihn. Anfangs bemalte er Tüten, die das antonius LadenCafé in der Fuldaer Altstadt seinen Kunden aushändigte. Er bemalte aber auch Holzplatten, aus denen seine Kollegen der Holzwerkstatt zum Beispiel Vögel ausschnitten, um daraus Deko-Artikel zu bauen. Und seit Anfang des Jahres gestaltet er nun die Tüten für 43einhalb, einen angesagten Sneaker Store am Peterstor.

Kollegial im Einsatz für 43einhalb: Eintüten...

Kollegial im Einsatz für 43einhalb: Eintüten...

 

 

Zu dem Auftrag kommt es, weil 43einhalb bereits mit dem GestaltenWerk zusammenarbeitet: Die Firma, die die meisten Turnschuhe über ihren Online-Shop vertreibt, lässt dort Kuverts mit Aufklebern und Info-Zetteln bestücken, die allen Päckchen beigelegt werden. Die Geschäftsführer Oliver Baumgart und Mischa Krewer kennen also antonius, wissen wer dort arbeitet und wie dort gearbeitet wird. Elena Seuring, die gerade ein antonius Jahr absolviert, kommt auf die Idee, dass Markus Kümmel doch Tüten für diesen trendigen Laden bemalen könnte. Nach einigen Wochen, um Erfahrungen zu sammeln, steht fest: Markus Kümmel bekommt den Auftrag. Er hat einen echten Job.

Wobei: Auch wenn seine Tätigkeit bei antonius als Arbeit gewertet wird, hat Kümmel offiziell noch keinen Arbeitsvertrag nach den Richtlinien der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in der Tasche. Der junge Mann gilt für den Kostenträger, den Landeswohlfahrtsverband, nach wie vor als Mensch, der in einer Tagesförderstätte richtig aufgehoben wäre. Deshalb erhält er nur Förderung im Rahmen der „Hilfe zur Gestaltung des Tages“. Das heißt: keinen Lohn, keine eigene Krankenversicherung, keine Rentenansprüche. Das ist weit weg vom dem, was gemeinhin als Arbeit verstanden wird.

Doch für Marek Saalfeld steht fest: Markus Kümmel arbeitet. Der 25-Jährige ist montags bis freitags im GestaltenWerk. Arbeitsbeginn: 8:00 Uhr. Feierabend: 16:00 Uhr. „Er bringt sein Können in einen Arbeitsprozess ein. Er tut zielgerichtet etwas, gestaltet ein Produkt, das wir verkaufen“, sagt Saalfeld. Ein Kriterium, um einen Werkstätten-Vertrag zu erhalten, ist, dass „ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ erbracht wird. „Wenn wir das als Maßstab nehmen, fällt Markus Kümmel in die WfbM-Kategorie“, sagt Saalfeld. Deswegen soll ein neuer Integrierter Teilhabe-Plan (ITP) mit dem Kostenträger aufgestellt werden: „Damit beantragen wir dann, dass er als normaler Mitarbeiter zu betrachten ist.“

Doch zur Arbeit gehört ja nicht nur, dass man ein Gehalt bekommt und etwas für die Rente anspart. Zum Arbeitsleben gehört es, Kollegen zu haben. Die Arbeit strukturiert den Tag, bringt Bewegung ins Leben und ermöglicht neue Erfahrungen. Frühstücks- und Mittagspausen gehören dazu. All das erlebt Markus Kümmel.

An seinem Fensterplatz ist er ganz ins Malen versunken. „Klack, klack“ – dieses Geräusch dringt von dort immer wieder in den Raum. Es entsteht, wenn der junge Mann mit festem Druck seinen Wachsmalstift vom Rand des Holzgestells, in das die Tüten gespannt sind, aufs Papier knallen lässt. Eine solche Befestigung der Papiertüte ist notwendig, denn einen Rand würde er nicht lassen, die Tasche vollständig bemalen. „Markus würde auch auf dem Tisch weitermachen“, erklärt Elena Seuring, die Kümmel donnerstags und freitags begleitet. Das Holzgestell hat aber noch eine zweite Funktion: Die Tüten für den Sneaker-Laden 43einhalb sollen natürlich auch das Logo des Unternehmens zeigen. Deswegen ist in der Holzwerkstatt eine Matrize angefertigt worden, die beim Einspannen in die Tüte hineingelegt wird. Wenn Markus Kümmel dann mit den Stiften übers Papier fährt, bleibt die Logo-Fläche unbemalt. Klar und deutlich hebt sich die unterstrichene 43 von der bunten Fläche ab.

Fast eine Stunde lang kann sich der junge Mann mit einem Bild beschäftigen. Und würde das wohl noch länger tun, wenn Seuring nicht immer mal eine neue Tüte einlegen würde. Das lässt Kümmel nur unter Protest geschehen. „Nein!“ ruft er, als seine Begleiterin ankündigt, es sei Zeit für einen Tüten-Wechsel. Als Markus Kümmel die Aktion zu lange dauert, fordert er lautstark „Malen! Malen!“ ‒ und fängt schon mal an, das Holzgestell zu verschönern.

Mal die rechte, mal die linke Hand: Die Technik macht den Unterschied

Mal die rechte, mal die linke Hand: Die Technik macht den Unterschied

 

 

Kümmels Bilder sind so unterschiedlich, wie die Launen eines Menschen eben sind: mal knallbunt, mal in zarten Tönen gehalten, mal dunkel, mal ein großes Durcheinander, mal klar strukturiert. Gemeinsam ist ihnen allen: Sie sind ausdrucksstark und einfach schön. Das sehen die Turnschuh-Experten von 43einhalb genauso. Tobias Preußer, der als Verkäufer in dem kleinen Laden am Peterstor 7 arbeitet, findet die Taschen „richtig geil“. Zwar hat die Firma auch anderes Verpackungsmaterial – schlichte schwarze Papiertüten mit weißem Schriftzug: „Aber im Vergleich zu den Tüten von antonius sehen die ja langweilig aus“, sagt er. Auch Robert Hennig, der für das Lager des Online-Shops und die Materialwirtschaft zuständig ist, ist begeistert: „Jede Tüte ist anders, jede ein kleines Kunstwerk. Die heben sich vom Standard ab. Für den Laden ist das optimal.“ Der stylishe Store, der ganz in Weiß mit ganz reduzierten Formen gestaltet ist, bringt die Strahlkraft von Markus Kümmels Bildern richtig zur Geltung. Die bunten Tüten wirken in der stark designorientierten Atmosphäre schick und hochwertig. Und sorgen immer wieder für Nachfragen: „Den Kunden fallen die Tüten natürlich auf, und dann entwickelt sich oft ein Gespräch. Wir erzählen dann, wo die Tüten herkommen und wer sie gemacht hat. Das finden die meisten richtig gut“, berichtet Tobias Preußer. Unter die Leute gebracht werden die Tüten nach dem Prinzip „Was weg ist, ist weg“. 43einhalb bestellt keine feste Stückzahl, sondern nimmt einfach die Menge an Tüten ab, die Markus Kümmel eben schafft. Es ist also Glückssache, ob man als Kunde eines der Unikate ergattert.

Toller Kontrast: Die handbemalten Tüten im coolen Sneaker-Store

Toller Kontrast: Die handbemalten Tüten im coolen Sneaker-Store

 

 

Dass die Taschen mehr als nur Verpackung sind, weiß Robert Hennig aus eigener Erfahrung: Er brachte seiner Mutter einmal eine der Tüten mit. Sie fand sie so schön, dass sie sagte: „Die werfe ich aber nicht weg. Dafür ist sie viel zu schade.“ Robert Hennigs Mutter wusste da allerdings noch nicht, welche Geschichte sich hinter der Tasche verbirgt. „Jetzt, wo sie das weiß, behält sie die Tasche bestimmt noch viel länger“, sagt er.

von Anne Kramer

Zurück