Dabei sein ist alles!

Social Media im Kuhstall

Erinnern Sie sich noch an Ihr altes Nokia-Handy? Das mit dem nervigen Klingelton? Beim Einschalten blinkte einem der Werbespruch des finnischen Konzernriesen entgegen: „CONNECTING PEOPLE“. Bescheuert, dachte ich 2006. Heute weiß ich es besser: Das war die Überschrift über ein ganzes Zeitalter.

Schauen wir nüchtern hin. „Connecting people“ in Neuhof: Am 4. September diesen Jahres vibriert in René Zenners Arbeitshose das Smartphone. „Futter anschieben“, steht da. Mehrere solcher Kurznachrichten empfängt er täglich von Michael Vogel, seinem Chef. Nichts Besonderes also. Wie gewohnt schnappt er sich die Gabel und marschiert zum Kuhstall, um das am Boden verteilte Silo rüber zu den Tieren zu schieben. Als er fast fertig ist, entdeckt er, dass gerade eine Kuh gekalbt hat. Normalerweise gibt es dafür eine spezielle Box, wo alles vorbereitet ist. Dieses Kälbchen aber kam zwei Wochen zu früh. Zenner wird aktiv, streut frisches Stroh ein, desinfiziert die Nabelschnur. Zuvor aber macht er ein Foto, versieht es mit einem Kurztext und schickt es an seine Kollegen, die gerade auf den Feldern beim Ernten sind:

Michael Vogel und Daniel Krimmel, der als gelernter Landwirt hier im Betrieb Hof Engelsburg arbeitet, sind verblüfft, und dies weniger über das frühe Abkalben von Kuh 84 als über die Nachricht selbst. Es ist das erste Mal, dass René Zenner von sich aus eine Kurznachricht mit Bild und Text versendet und so die beiden zu sich beordert. Hätte er nicht einfach anrufen können? Nein, denn der junge Mann ist gehörlos und hat infolgedessen das Sprechen nie erlernt.


Als Familie Vogel sich dafür entscheidet, es mit René Zenner als neuem Mitarbeiter zu versuchen, überlegt sie, wie sie den Arbeitsalltag für und mit dem jungen Mann organisieren kann. Niemand denkt an den Einsatz der neuen Medien. Allerdings spielen Bilder sofort eine Rolle. Ein Fotograf wird engagiert, der ca. 100 Arbeitssituationen festhält und im Anschluss oft den störenden Hintergrund wegretuschieren muss, damit René Zenner bei jedem Foto eindeutig den richtigen Arbeitsauftrag erkennen kann. Die Bilder werden einlaminiert, mit Klettverschluss versehen und nach Bedarf an ein Brett geheftet, welches im Umkleideraum hängt. Früh morgens kriecht Zenner dann in die Stallklamotten, wirft einen Blick auf das Brett und zieht los. „Unterstützte Kommunikation“ nennt man das in Fachkreisen.

Damit es sich aber nicht nur um Einbahnstraßen-Kommunikation handelt, bei der René Zenner „nichts zu sagen“ hat, wird zugleich der Einsatz eines Talkers ausprobiert. Das ist ein Apparat, in den man wie bei einer Schreibmaschine Worte und Sätze eintippen kann, die dieser dann mit einer künstlichen Stimme wiedergibt.

Mit diesen Mitteln gelingt es, Stabilität in den Tagesablauf zu bringen und einen gewissen Austausch zu pflegen. Doch schnell offenbaren sich Grenzen. Eines Morgens hängt der Chef das Bild „Silo abdecken“ ans Brett und fährt dann auf ein weit entferntes Feld. Plötzlich kommt ihm der Gedanke, dass Zenner die ganzen Planen vom Silo abdecken könnte und nicht nur den täglich benötigten Streifen. Also rast er mit dem Traktor zurück. Eine typische Situation. Zudem weist die Bildsammlung oft Lücken auf, weshalb doch wieder mit Händen und Füssen geredet werden muss. Vor allem aber: Bei unplanmäßig anfallenden Arbeiten kann der wichtige Mann nie eingebunden werden. Oft weiß keiner, wo er gerade steckt, und Rufe verhallen nun mal ungehört.

Der Talker begeistert auch nicht: Das Ding ist zu schwer und zu groß, um es immer mit sich herumzuschleppen. So liegt es meistens am Küchentisch, und nicht selten belastet die künstliche Stimme die ersehnte Mittagspause.

Eines Tages kommt Daniel Krimmel die Idee: „Warum nicht per Smartphone? Das Vibrieren in der Hose spürt er ja, und Bilder können wir damit selbst machen – je nach Situation.“ Gesagt, getan. Mit der Einführung dieser Technik kommt Schwung in die Bude. Ein Beispiel: Michael Vogel, der gerade in Fulda ist, schickt dem Helfer eine Luftaufnahme vom Hof und markiert auf dieser mit roten Strichen die Bereiche, die er mit der Motorsense mähen soll. Das Bild von der Motorsense fügt er noch hinzu. Zenner versteht sofort und legt los, doch nach einer halben Stunde muss er folgende Nachricht zurücksenden:

"Benzin leer"

Daraufhin ruft Vogel einen anderen Kollegen an, damit dieser ihm einen vollen Kanister bringen kann. Und als der Helfer schließlich den Auftrag erledigt hat, schickt er dem Chef noch ein Foto von der gemähten Wiese.

So geht das nun die ganze Zeit. Und weil René Zenner jetzt eigenständig und in Echtzeit kommunizieren kann, kann man ihn mit Aufgaben betrauen, die vorher noch undenkbar waren. Man kann jetzt ein viel größeres Risiko eingehen, weil er ja Rückmeldung geben kann, wenn etwas nicht klappt oder kaputtgeht. So können sich alle auf dem Hof freier bewegen, und die lästigen Kontrollgänge – „Alles klar beim René?“ – fallen weg. So ist eine ganz neue Situation entstanden: Man kann ihn machen lassen! Und genau dies ist die Urvoraussetzung aller Entwicklung.

„Das hat seinem Selbstbewusstsein einen ordentlichen Kick gegeben. Man könnte fast meinen, das Smartphone ist sein Antriebsmotor“, stellt Kollege Krimmel fest. In der Tat entdeckt René Zenner durch dieses kleine schwarze Ding ungeahnte Möglichkeiten des Dabeiseins. Das beginnt schon am Montagmorgen, wenn er auf dem Display seinen Kollegen zeigen kann, was er am Wochenende auf der Schlepperausstellung gesehen hat: Mit zwei Fingern zoomt er das neue Fend-Modell ran.

René Zenner wäre auch ohne Smartphone vermutlich sein Leben lang irgendwo als Hofhelfer eingesetzt worden. Sein behutsames und aufmerksames Wesen sowie seine Herkunft aus einem landwirtschaftlichen Betrieb prädestinieren ihn dazu. Aber er wäre so eingesetzt worden, wie das früher in solchen Fällen möglich war: in einem eng beschränkten Bereich mit eng beschränkten Aufgaben. Er hätte nur abseits vom eigentlichen Überlebenskampf eines solchen Großbetriebes arbeiten können. Und sein großes Potenzial, welches er trotz seiner Gehörlosigkeit hat, wäre nicht ausgeschöpft worden. Vermutlich hätte man dann auch nach 25 Jahren in ihm immer nur den gehörlosen Hofhelfer gesehen und vermutet, dass sein beschränkter Wirkungskreis – immer nur Kehren und Misten – eine Folge seines Handicaps wäre. Aber genau damit hätte man völlig falsch gelegen.

Natürlich entscheidet nicht allein der Einsatz von Technik darüber, wie weit sich ein Mensch entwickeln kann. Das ganze Umfeld und die Einstellung aller Beteiligten müssen stimmen. René Zenner hat Glück gehabt, hier bei Familie Vogel zu landen, die ihn auch sonst unterstützt, ihn an die Maschinenarbeit heranführt und ihm auch beim Erwerb seiner Führerscheine (Traktor und Pkw) zu Seite stand. „Ich bin seit eh und je ein Teamplayer“, sagt Vogel. Er selbst hat den größten Spaß daran, wenn René Zenner wieder eine neue Hürde nimmt. Win-win also. Und dann sagt er noch den schönen Satz: „Erfolge allein einfahren ist langweilig. Gemeinsam Erfolge haben, das ist es.“ Aber eben: Um einen Erfolg gemeinsam empfinden zu können, müssen in entscheidenden Situationen alle die Möglichkeit haben, vor Ort zu sein. Also heißt es: „Schick dem René schnell eine Nachricht!“ Oder René meldet: „Geburt ein Kalb weiß Kuh 84.“

Mittlerweile sind die Anfangswehen vergessen, und Familie Vogel plant die weitere Zusammenarbeit mit René Zenner in Dekaden. Um das Spektrum an Kommunikationsmöglichkeiten noch zu erweitern, wird René Zenner in den kommenden Monaten die Gebärdensprache erlernen. Und damit das auf Hof Engelsburg auch richtig gelebt werden kann, hat sich Ute Vogel entschlossen, diesen Kurs ebenfalls zu besuchen. Denn im Gegensatz zu den Männern unterhält sich die Chefin weiterhin durch Gestikulieren und Mimik mit dem Mitarbeiter – sie hat kein Smartphone. Und das ist vermutlich auch gut so, denn würde man auf den Austausch vis-à-vis völlig verzichten und alles über Social Media abwickeln, bliebe vieles ungesagt: hier ein Lächeln, da ein Stirnrunzeln, dort eine Enttäuschungsmiene. Emotionen zeigen sich nun mal am unmittelbarsten und ehrlichsten im Gesicht, und nicht selten ersetzt ein bestimmter Blick seitenlange Erklärungen.

Dass Familie Vogel in diesen Mitarbeiter so viel Zeit und Energie investiert, hat natürlich auch etwas mit „mögen“ zu tun. Auf einem solchen Hof lebt man enger zusammen als in der übrigen Arbeitswelt. Täglich sitzt man bei Tisch zusammen, teilt Erfolge und auch mal Probleme. So ist es ein richtiges Bratkartoffelverhältnis geworden. Oder vielleicht passender: ein richtiges Schweineschnitzelverhältnis. „Connecting people“ in Neuhof eben.

Melanie Köhl und Arnulf Müller

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