Das Bürgersteigballett: Wir alle tanzen mit

Mitten in der Stadt, zwischen unseren Häusern und Wohnungen, gibt es eine Bühne, auf der wir alle täglich Inklusion leben: der öffentliche Raum.

Hier auf den Bürgersteigen, Plätzen und Grünflächen gehen wir unseren Wegen nach: morgens Pendler und Schüler, später Rentner und Eltern mit Kleinkindern, nachmittags erwartungsvolle Jugendliche, dazwischen Touristen, Müßiggänger, Obdachlose und zum Schluss Menschen, die die Nacht zum Tag machen.

Wir alle sind Teil des öffentlichen Raums, meist unbewusst im Nebenbei. Mal sind wir Statisten, mal spielen wir die Hauptrolle. Wir nicken einander zu, manchmal ist es nur ein kurzer Blick. Wir kommen über Kinder oder Hunde ins Gespräch, erhalten Auskunft, wenn wir nach dem Weg fragen. Im öffentlichen Raum treffen wir auf Menschen, ohne uns zu verabreden, reden mit Leuten, mit denen wir sonst nicht sprechen würden. Dabei werden wir oft überrascht – im Positiven wie im Negativen. Die Bühne vor unserer Tür bietet eine einfache Möglichkeit, aus unseren familiären und sozialen Grenzen herauszutreten.

Jane Jacobs, eine amerikanische Journalistin und Architekturkritikerin, hat das Leben im öffentlichen Raum als vielgestaltiges Bürgersteigballett beschrieben. Ein gut funktionierendes Bürgersteigballett wiederholt sich nie und wird stets neu mit Improvisationen angereichert. Plätze und Grünflächen, Fußgängerzonen und Bürgersteige sind Orte, an denen „Fremde“ einander begegnen, und je belebter sie sind, desto leichter fällt es, in einer fremden Stadt Fuß zu fassen.

Doch begünstigen die Freiräume unserer Stadt tatsächlich ein Miteinander ohne Ausgrenzungen? Schauen wir uns um: Auch in den kleinen Städten verdrängen große Ketten den Einzelhandel. Sie kühlen die soziale Atmosphäre ab, mindern die Aufenthaltsqualität der Geschäftsstraßen. Vielfalt geht schleichend verloren. Einige Grünflächen sind monofunktional als Spielplätze gestaltet, andere Flächen wirken verwahrlost und zugewachsen. Hier ziehen sich Menschen zurück, die mittendrin sein wollen, aber dennoch nicht gesehen werden möchten. Abseits vom Trubel der Innenstadt gibt es Plätze, die von Jugendlichen frequentiert werden. Andere Plätze oder Vorplätze, etwa die von großen Geschäften und Banken, sind hochwertig gestaltet: Blumenbankette, aufwendige Wasserspiele, Skulpturen oder abstraktes Mobiliar prägen das Bild.

Was wir vorfinden, sind Inseln, die jeweils von nur einer sozialen Gruppe genutzt werden – weil nur diese sich dort eingeladen fühlt. Dies ist kein neues Phänomen: Menschen bilden „Lebensstilgruppen“, suchen ihresgleichen. Der vermeintliche Vorteil: Kinder können geschützt spielen, Angestellte verbringen im schmucken Rahmen ihre Mittagspause, Außenseiter bleiben unter sich, ihr Anblick stört nicht. Doch im Anschluss an solch einseitige Nutzungen wendet sich das Blatt: Fußgängerzonen sind nach Geschäftsschluss schlagartig trist, der Spielplatz ist in den Abendstunden ein verwaister Ort. Flächen, auf denen Obdachlose sich zurückziehen, sind für Passanten bedrückend, werden gar zu Angsträumen. Plätze, wo Jugendliche sich hemmungslos gehen lassen, werden gemieden und müssen regelmäßig von der Ordnungsbehörde aufgesucht werden.

Ein Plädoyer für den gemischten öffentlichen Freiraum

Einen gut gestalteten Platz hingegen kann jeder nutzen, ob mit oder ohne Geld, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Der Platz selbst gibt nichts vor: Er lädt alle ein. Lediglich die Bereitschaft, aufeinander Rücksicht zu nehmen, wird vorausgesetzt. Natürlich prallen auch Interessen aufeinander, doch Konflikte sind ein wichtiger Teil des Schauspiels. Sie befeuern die Kommunikation, schulen Toleranz. Auf einem solchen Platz finden über den Tag verteilt viele Nutzungen neben und nacheinander statt: Spaziergänger frequentieren die Wege, Passanten verweilen auf Bänken und Rasenflächen. Vormittags spielen Kindergartengruppen, nachmittags picknicken Jugendliche, Erwachsene spielen Boule. Abends treffen sich Verliebte zum Stelldichein, und manch einer schlürft sein Bier. So wird der mehrfach genutzte Freiraum zum öffentlichen Wohnzimmer der Stadt. Da viele verschiedene Menschen unterwegs sind, ist der Ort unterhaltsam und der gegenseitige Schutz hoch. Auch wenn solche Kontakte meist trivial sind, in der Summe sind sie nicht im Geringsten trivial. Durch sie verwandelt sich die Atmosphäre, die Menschen werden füreinander zugänglich, der Einzelne genießt den geringen Abstand zwischen sich und der Welt.

Einfach und offen

„Das Leben zwischen den Häusern ist komplizierter zu planen als irgendein vermeintlich großartiges Stück Architektur“, schreibt der dänische Architekt Jan Gehl. Das Problem besteht darin, dass zu viel vorgeben wird. Eine sensible Freiraumplanung hält sich angenehm zurück, stößt nur leicht an. Ein paar schirmende Bäume, einige schützende Hecken oder Mauern und wohlüberlegte Materialien für die Plätze. Vielleicht der eine oder andere gestalterische Akzent, hier und da Einladungen zum Spielen und Sitzen – jeweils abgestimmt auf den Ort und seine Geschichte. Freilich gibt es in Fulda einige gelungene Freiräume. Unsere Stadt bewegt sich – und das ist gut so. Wir begreifen immer mehr, dass das Bürgersteigballett nicht aufgrund von aufsehenerregendem Design und gestalterischen Finessen gelingt. Ein Zuviel davon steht einem leichtfüßigen Tanz entgegen. Ein gelungener öffentlicher Freiraum ist ein Stück gelebte Inklusion.

Tatjana Heil, Landschaftsarchitektin mit Büro in Fulda

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