Das Leben muss ein bisschen schief sein
von Anna-Pia Kerber
Vertrauen ist ein Pfarrer Fried- Wilhelm Kohl am wichtigsten. Aber er weiß: Auch Zweifel gehören zum Glauben. Nicht verurteilen, nicht bevormunden, nicht gängeln - das scheint das Konzept zu sein, mit dem Kohl die Jugendlichen fängt. "Ich will sie gar nicht fangen", wiederspricht er mit einem Augenzwinkern. "Ich will ihnen etwas geben, das ihnen hilft und sie begeistert."
Pfarrer Kohl ist seit 25 Jahren in der evangelischen Christuskirche in Fulda tätig. Neben seinen Aufgaben als Pfarrer betreut er derzeit acht Schulen, verschiedene Kindergärten und Pfadfindergruppen. Mit seiner Weltoffenheit und Toleranz kommt er bei den Jugendlichen sehr gut an. So gut, dass sich daraus ein Netzwerk gebildet hat: Einige seiner Schüler leiten später selbst Kurse, übernehmen Verantwortung und helfen anderen auf den Weg. Stolz ist Pfarrer Kohl selten auf das, was er geleistet hat – dafür umso mehr auf seine Schützlinge.
Sie sollen etwas bekommen, das jeder Mensch umsonst haben sollte: Grundvertrauen. Vertrauen – ein Thema, das ihm sehr am Herzen liegt. Vertrauen in sich selbst, Vertrauen in die Welt. Ohne dafür eine Leistung erbringen zu müssen. Und ohne fromme Sprüche. Pfarrer Kohl gelingt es, eine Konfirmationsstunde abzuhalten, ohne auch nur einmal das Wort „Gott“ in den Mund zu nehmen. Pastorale Sprache? „Die habe ich mir schon lange abgewöhnt. Mit dieser Sprache kann niemand etwas anfangen.“
Trotzdem sind die Jugendlichen in seinen Stunden dem Thema Gott besonders nah. Wie das geht? „Man muss mit dem anfangen, was man hat. Und Wörter aus ihrer Erlebniswelt gebrauchen.“
„Ich will, dass sie sich groß fühlen“
Dafür geht er viele neue Wege, veranstaltet Kunstausstellungen, Konzerte und hat auch mal eine Tattoo-Künstlerin in den Konfirmationsunterricht eingeladen. Gemeinsam mit ihr durften die Jugendlichen ihr ganz persönliches Zeichen für den Glauben entwerfen – wie einen Vogel oder einen Avatar aus dem gleichnamigen Film. Natürlich haben sie dabei auch gelernt, dass man so ein Zeichen nicht unbedingt auf der Haut tragen muss, damit es an Bedeutung gewinnt. „Früher hätte man die Metapher mit dem Hirten oder der Burg gebracht. Und auswendig gelernt. Aber diese Bilder sind überholt“, weiß Pfarrer Kohl.
Überhaupt ist dem geschulten Redner das Thema Sprache sehr wichtig. Nicht nur als Mittel zur direkten Kommunikation, sondern als persönliche Meinungsäußerung, als Ausdruck und zur Identitätsstiftung. „Ich möchte die Jugendlichen sprachfähig machen. Und sie sollen sich ausdrücken dürfen, ohne dafür zensiert zu werden.“
Dafür gibt er ihnen nicht nur Zeit, sondern auch einen geschützten Raum. Einen buchstäblich leeren Raum ohne schwülstige Verzierungen. „Ich will die Jugendlichen nicht domestizieren. Sie sollen sich den Raum zu eigen machen.“ Zu eigen machen, indem sie ihn als Bühne nutzen – zum Singen, Theaterspielen, oder einfach zum Gespräch.
Er sagt: „Ich will, dass sie sich groß fühlen.“
Als Vater kann er sich gut in Familiendynamiken hineindenken
Und er verteidigt seine Schützlinge vehement. Zum Beispiel gegen die Behauptung, sie würden nur wegen der großzügigen Geldgeschenke zur Konfirmation gehen. „So eine Behauptung ist gemein und hinterhältig“, findet er. Für ihn sind Jugendliche nicht anders zu behandeln als Erwachsene. Deswegen lässt er ihnen Freiraum, kontrolliert nicht, wenn sie in eine Freizeit fahren. „Sie wissen, dass sie bei mir keinen Alkohol mitnehmen dürfen. Das klappt, auch wenn ich niemals ihre Taschen kontrollieren würde.“ Was ihn im Gegenteil erschreckt, ist die Disziplin, mit der sich die Jugendlichen zeitweise selbst im Weg stehen. „Es macht mich traurig, dass manche nicht mit in die Freizeit fahren, weil sie Angst haben, etwas in der Schule zu verpassen.“ Aber auch dafür findet er eine Lösung.
„Zur Not setze ich mich mit ihnen eine Stunde am Tag hin und helfe beim Lernen.“
Er ist nämlich nicht nur neutraler Beobachter, sondern gibt auch praktische Lebenshilfe – etwa indem im Unterricht Alltagssituationen nachgestellt werden. Und er vermittelt zwischen Eltern und Kindern, wenn es Probleme gibt.
Literatur, Philosophie, Reisen, Kunst: Pfarrer Kohl ist ein Mensch, der sich begeistern kann.
„Zweifel muss man auch zulassen dürfen“
Seine eigenen Söhne sind inzwischen 26 und 28 Jahre alt, der ältere studiert Theologie und Islamwissenschaften, der jüngere möchte den Studiengang noch einmal wechseln. Ob man auch den eigenen Söhnen gute Ratschläge geben kann? „Ich mache das genauso falsch wie jeder Vater“, sagt er. „Ich weiß, wie schön die Theorie klingt und wie falsch man in der Realität liegen kann.“ Überhaupt seien ihm Menschen, die nieZweifel hegen, eher suspekt. „Zweifel gehören schließlich zum Glauben. Er sagt: „ haupt gibt es einiges zu entdecken in diesem Raum, in dem er nicht nur Familien berät, sondern auch Hochzeiten plant oder Trauernden hilft. Es gibt ein Foto aus seiner Studienzeit in Amerika. Noch heute schwärmt er von der Weite des Landes und der Schönheit der Natur. Beinahe hätte er sich entschlossen, dort zu bleiben. Viele interessante Begegnungen hat er gehabt, und er war fasziniert davon, wie dort Redner für die Kirche geschult werden. „Ein Mann sagte zu mir: Euer Produkt ist erstklassig. Aber eure Vermarktung ist Scheiße.“ Auch er ist der Meinung, dass sich die Kirche mehr für das Alltägliche öffnen sollte und auch mal Werbung machen darf. „Aber ohne diesen Event-Charakter“, räumt er ein. Von christlichen Influencern und sozialen Medien hält er sich lieber fern. „Wir haben heute eine Inflation von Bildern, die Menschen lesen nicht mehr viel.“ Bedauerlich für jemanden, dem das Wort so wichtig ist. Literatur ist für ihn auch Erholung und Unterhaltung.
Unterhalten, ohne dabei die Kernbotschaft aus den Augen zu verlieren – das gelingt Pfarrer Kohl in jeder Konfirmationsstunde. Und Glaube ist mehr als Unterhaltung. Und es gibt Themen, um die man in seinem Unterricht nicht herumkommt. „Ich spreche mit den Jugendlichen grundsätzlich auch über Selbstmord. Und sie wissen, dass sie Tag und Nacht zu mir kommen können.“
Wie gelingt das: Anderer Leute Probleme lösen, zerrüttete Familien kitten und sterbende Menschen auf dem letzten Weg begleiten – ohne selbst daran zu zerbrechen? „Ich ziehe mich um, bis zu drei Mal am Tag. Mit der Kleidung lege ich die Funktion ab. Aber natürlich bin ich trotzdem zu jeder Zeit erreichbar.“
Neben dem Vertrauen möchte er den Jugendlichen vor allem dies mit auf den Weg geben: Haltung. Und es gibt Dinge, denen er ganz klar gegenüber Haltung einnimmt – und wo seine Toleranz endet. „Als es eine rechts-orientierte Demonstration in der Straße gab, habe ich die Glocken läuten lassen – so laut, dass die Demonstranten fast übertönt wurden. Damit hätte ich mir fast eine Anzeige eingehandelt. Aber das war es wert.“
Seine Schützlinge lernen, dass Haltung nicht gleichbedeutend ist mit Meinung. Sie erfahren, dass Haltung mehr mit Würde und Achtung einhergeht.Und für Pfarrer Kohl ist es eine große Freude, wenn die Jugendlichen gerne in den Unterricht kommen. „Sie müssen sich für mich entscheiden. Und gerne wieder kommen, obwohl ich da bin“, erklärt er. An Selbstironie mangelt es Pfarrer Kohl nicht. Vielleicht hält er sich in diesem Punkt an seinen Lieblingsschriftsteller Boyle: Komik ist meine Art, mit Tragik und Verzweiflung umzugehen. Aber das Wort Him-melskomiker träfe nicht auf Pfarrer Kohl zu.
Denn bei allem Witz und Mut zur Offenheit ist er vor allem eines: irgendwie echt.