Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden

Verena Bleuel aus Eckweisbach ist neunzehn, als sie schwanger wird und erfährt, dass ihr Kind mit einer Behinderung zur Welt kommen wird. Die Ärzte einer Fachklinik in Köln schlagen ihr vor, abzutreiben. 

Sie prognostizieren, dass das Kind ein 24-Stunden-Pflegefall werden könnte. Doch die junge Frau entscheidet sich gegen eine Abtreibung – eine Entscheidung, die sie nie bereut hat.

Mira ist heute 10 Jahre alt. Ein echtes Kamikaze- Kind, das alles ausprobieren muss, auch wenn´s weh tut. Wenn man ihr sagt: „Fass nicht mit der Hand an den Kamin!“, dann tut sie das auch nicht. Dafür lehnt sie ihre Stirn dagegen, um zu sehen, ob es wirklich heiß ist. Dabei bricht sie allerdings nicht in Tränen aus, sondern fragt ganz höflich nach einem Waschlappen, um die Haut zu kühlen.

Dass Mira einmal so eigenständig wird, war nicht selbstverständlich. Im dritten Schwangerschaftsmonat wurde Hydrocephalus diagnostiziert – ein Wasserkopf. Dies kann sich auf das Sprachzentrum, die Motorik und andere Bereiche des Gehirns auswirken. Verena und ihr Mann Kevin waren damals gemeinsam bei der Ärztin, als die Diagnose kam. „Meine erste Reaktion war: okay“, erinnert sich Verena. „Einfach nur ‚okay‘. Erst, als ich die Reaktion der Ärztin gesehen habe, wurde mir mulmig. Sie griff zum Telefon und sagte zum Kollegen: ‚Die Mutter sitzt hier und ist recht gefasst‘. Da habe ich gedacht: ‚Muss ich denn jetzt schockiert sein? Weinen?‘ Ich wusste es nicht.“ Die Eltern ließen sich nicht beirren. „Wir hatten vorher nie darüber nachgedacht. Aber wir wollten das Kind – in jedem Fall. Das Einzige, was ich nicht wollte, waren mitleidige Blicke.“

Von diesem Zeitpunkt an wird die junge Mutter vor schwierige Entscheidungen gestellt. Nicht nur was die Geburt, sondern auch, was die Therapien angeht. Die Ärzte behandeln sie oft von oben herab, geben ihr zu verstehen: „Du bist eben jung und überfordert. Lass uns entscheiden, was das Richtige ist.“ Doch das Richtige gibt es nicht. 

Verena und ihr Mann wollen das Beste für ihr Kind, stimmen aber nicht allen vorgeschlagenen Operationen und Therapien zu. Im Nachhinein hat sich oft herausgestellt, dass viele Dinge ohnehinwirkungslos gewesen wären. Dazu gehörenschwerwiegende OPs ebenso wie das Tragen vonOrthesen-Schuhen – feste Stützschuhe, in denen man sich kaum bewegen kann. Verena Bleuel hält nichts davon, hat aber nicht den Mut, es den Ärzten zu sagen. Später sagt man ihr, dass es besser war, sie nicht zu tragen.

Ohnehin beurteilen die Menschen im Umfeld vieles anders und sind schnell dabei, sich eine Meinung zu bilden. Jede Bewegung von Mira wird kritisch betrachtet. Wenn sie nicht schon in der errechneten Woche sitzen oder sich drehen kann, zeigen sie sich gleich betroffen. Sie orientieren sich an Skalen und Leistungsnormen. Vor allem: Sie vergleichen permanent.

Wer sich für ein Kind mit einer solchen Prognose entscheidet und dann noch seinen Weg eigenständiggestaltet, gerät schnell unter Rechtfertigungsdruck. Um das auszuhalten, brauchen Eltern viel innere Stärke. Im Letzten ist es eine Sache der Grundeinstellung, des Vertrauens in die Verwandlungskraft des Lebens. Das Leben wird „vorwärts gelebt“, und „rückwärts verstanden“, notierte der dänische Philosoph Sören Kierkegaard in sein Tagebuch. Wer alles schon im Vorhinein verstehen will, engt die Spielräume ein und beraubt sich der Möglichkeit, an etwas zu wachsen. Er wird sein sicheres Leben leben, aber im Nachhinein doch einsehen müssen, dass auch die größte Rechenkunst das Glück nicht erzwingen kann. Eltern, die ein Leben mit Behinderung wagen, gehen zwar einen steileren Weg, der sie aber auch in eine größere Höhe bringen kann.

Mittlerweile darf Mira auch mal mitreden, wenn es um ihre Therapien geht. Da die Zehnjährige meist von Erwachsenen umgeben ist, drückt sie sich sehr gewählt aus. „Ich würde gerne wissen, warum mein Tablet im Schlafzimmer lag“, sagt sie und sieht die Eltern streng an. Aber ihre Ausdrucksweise täuscht darüber hinweg, dass sie in vielen Dingen auf Hilfe angewiesen ist. Gelegentlich überschätzen die Leute sie deswegen und überfordern sie auch manchmal. 

Vor allem beim Gehen benötigt Mira Hilfe, auch wenn sie das geschickt überspielt. Um in die Förderschule zu kommen, braucht sie einen Rollstuhl. In ihrer Klasse ist sie das einzige Mädchen und hat daher auch keine Freundin. „Mein bester Freund ist Clinton“, erklärt sie und deutet auf einen großen, schwarzen Hund. Das gutmütige Tier ist ein ausgebildeter Assistenzhund. Wenn Mira hinfällt, bleibt er bei ihr liegen, wenn sie ruft, ist er sofort bei ihr. Trotzdem gibt es viele Situationen, in denen auch Clinton keine Hilfe ist. Auf dem Spielplatz ist Mira den anderen Kindern oft zu langsam und wird weggestoßen. Deswegen hat sie jetzt ihr eigenes Klettergerüst im Garten. Mira hat ihr eigenes Tempo. „Wir wissen natürlich, dass es nicht gut ist, sie zu isolieren. Aber es bringt nichts, künstliche Begegnungen mit anderen Kindern zu arrangieren. Mira wird ihren eigenen Weg gehen müssen.“

Weil Verena das Kind so jung bekam, musste auch sie erst lernen, ihren eigenen Weg zu gehen. Nach dem Abi spürte sie rasch, dass sie für die anderen erst mal gestorben war: „In ihren Augen hatte ich nichts mehr zu erzählen – ich war ‚nur‘ Mutter.“ In der Tat war sie anfangs stark auf sich alleine gestellt, auch weil ihr Mann unter der Woche auf Montage war. Doch bald bastelte sie wieder an ihrem eigenen Entwurf, machte eine Ausbildung zur Fachangestellten für Bürokommunikation und setzte noch ein Studium als Fachlehrerin drauf. Von ihren Eltern erhielt sie jede erdenkliche emotionale und praktische Unterstützung. Ihre Mutter war bereit, Arbeitsstunden zu reduzieren, um auf Mira aufzupassen. Außerdem boten die Eltern auch finanzielle Hilfe an, als der erhoffte Zuschuss für das barrierefreie Haus nicht genehmigt wurde.
Seit einem knappen Jahr hat Mira nun auch eine kleine Schwester. Durch sie ist Mira noch selbstständiger geworden. Manchmal überschätzt sie sich. Wenn sie ihre kleine Schwester hochheben will, müssen die Eltern eingreifen. „In den Armen hat sie enorm viel Kraft, aber die Beine machen nicht mit.“ Aber Mira will schnell sein. Als sie aus der Schule kommt, fliegt sie förmlich zum Telefon. „Was hast du denn da?“, fragt ihr Vater und nimmt ihr einen Zettel aus der Hand. „Das ist die Telefonnummer von meinem Freund. Stefan.“ „Soso. Stefan.“ Die Eltern sehen einander an. „Na dann.“

Anna-Pia Kerber

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