Der Barrieren-Detektiv

Interview mit Uwe Theele, Behindertenbeirat der Stadt Fulda

Wenn Uwe Theele über den neugestalteten Uniplatz rollt, ermittelt er Tatbestände. Fast alle zehn Meter wird er fündig. Überhohe Mülleimer und Infotafeln. Bänke ohne Lehne. Busfahrpläne, vor denen Sitze montiert sind.

Blindenstreifen, die unterbrochen werden. Straßenüberquerungen ohne Null-Absenkung. Treppen ohne Geländer.

Als Mensch mit funktionierenden Füßen und Augen fällt einem das nicht auf. Logisch, denn Hindernisse existieren erst für denjenigen, der sie überwinden muss. Theele kennt die Opfer. Manchmal ist er selbst eines. Aber er kennt auch die Täter. Täter, die nicht böswillig, sondern unbedacht handeln: Stadtplaner, Architekten, Einrichter. Wenn sie etwas bauen, denken sie kaum an die vielen tausend Menschen, die mit Sehbehinderung, Lähmung oder Gebrechlichkeit leben müssen. Sie planen und bauen eine Stadt für Junge und Gesunde. Was wir aber brauchen, ist eine Stadt für alle.

SeitenWechsel: Guten Tag, Herr Theele. Wer in unserer Region Ihren Namen hört, denkt sogleich an den Aktivsten, der sich mit Biss für die Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzt. Doch fragen wir einmal persönlich: WER ist Herr Theele?

Uwe Theele: Mein Name ist Hanns-Uwe Theele. Hanns mit zwei "n" . Ganz selten. Bin 56 Jahre alt, verheiratet, habe fünf Kinder. Und bin seit 20 Jahren an multipler Sklerose erkrankt. Man nennt das die "Krankheit der tausend Gesichter", weil man unterschiedlich betroffen sein kann. Man kann erblinden oder, wie bei mir, nicht mehr richtig laufen. Es gibt Missempfindungen usw., also ganz vielfältig. Natürlich ist das keine schöne Sache, aber für mich als Vorsitzenden des Behindertenbeirats ist es auch eine Hilfe. Viele Probleme kenne ich von meiner Erkrankung her.

Wenn meine Kinder früher Eis oder Pizza essen gehen wollten, ging das nicht. Ich konnte zwar draußen sitzen, aber bei schlechtem Wetter nicht ins Lokal rein. Treppen gingen nicht, und ich möchte nicht immer jemand Fremden fragen, sondern selbstbestimmt leben. Was ich nicht selber kann, mache ich nicht. Deshalb habe ich schon damals mit Geschäftsleuten Kontakt aufgenommen, damit sie auch Menschen mit Behinderung Zugang ermöglichen. Das Verständnis war aber gering.

Deshalb haben wir ein lockeres Gremium aus Vereinen und Selbsthilfegruppen gebildet, die Interessengemeinschaft „Barrierefreies Fulda“. Die Gesprächsbereitschaft war gut, aber das Ergebnis nicht. So haben wir vor drei Jahren angefangen, einen Behindertenbeirat ins Leben zu rufen, gemeinsam mit der Stadt und über Parteigrenzen hinweg. Letztes Jahr wurde eine Satzung erlassen, die die personellen Bedingungen und Befugnisse regelt. Im September 2012 fand eine Sitzung statt, bei der sich der Behindertenbeirat etabliert hat. Seitdem ist es eine ganz andere Zusammenarbeit mit der Stadt.

Was sind denn die konkreten Ziele des Behindertenbeirats?
Es dreht sich hauptsächlich um den baulichen Bereich, weil da die meisten Defizite zu beklagen sind. Wir haben laut Satzung vielfältige Aufgaben, aber meist geht es um Parkplätze, Kopfsteinpflaster, Blindenleitsysteme oder Bänke. Wir schauen, was zurzeit gebaut wird. Was können wir noch retten, wo noch schnell eingreifen? Das hilft auch älteren Menschen.

Aber nur wenn man nach Hilfe gefragt wird. WIR wissen, was für uns gut ist. Wenn mich jemand fragt „Wie soll ich denn Hilfe anbieten?“, dann sag ich immer: „Gar nicht.“

Sie betonen die baulichen Maßnahmen. Aber welche Rolle spielt das Thema „Geistige Behinderung“?

Wir nehmen uns aller Themen an, aber soweit ich mich erinnere, sind diesbezüglich noch keine Anfragen gekommen. Sie müssen auch bedenken: Wir sind seit ca. neun Monaten in Amt und Würden. Ein großer Katalog muss abgearbeitet werden. 

Welche Rolle spielt Inklusion im Behindertenbeirat?

Ich muss jetzt aus Sicht der körperlich Behinderten sprechen. Wenn wir bei Gehweg-Absenkungen bleiben, ist das praktische Inklusion. Jedes Detail ist für mich ein Teil der Inklusion.

Wir machen oft die Erfahrung, dass die hartnäckigsten Barrieren in den Köpfen stecken. Viele Menschen, die mit Behinderung konfrontiert werden, gehen gleich auf Distanz. Gibt es auch Überlegungen, mehr Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen?

Das kann der Behindertenbeirat bestimmt, aber bei uns gibt es Prioritäten. Ich kann Inklusion nur als Beispiel vorleben. Ich sehe mich selbst als großen Teil der Inklusion, indem ich offen auf Menschen zugehe und jeden Tag über die Problematik spreche. Damit tue ich jeden Tag mehr, als der Behindertenbeirat in einer monatlichen Sitzung machen kann.

Wir versuchen, durch Events und durch unser Magazin die Menschen auf Inklusion vorzubereiten. Wie viel gibt es in Fulda noch aufzuholen?

98 % sind noch nicht inklusiv. Ein ganz aktuelles Beispiel: Der neue Uni-Platz. Der lässt sich wunderbar mit dem Rollstuhl befahren, aber hätten wir schon damals einen Behindertenbeirat gehabt, hätte es den Platz in dieser Form nicht gegeben. Nehmen wir als Beispiel den Baum-Hain. Der ist schön, aber wieso muss er von Treppen umringt sein? Das war ein gestalterisches Element, aber in einer barrierefreien Gesellschaft kann man das so nicht begründen. Die Gefahr, auch für ältere Menschen, hinzufallen, ist zu groß. Es muss ästhetisch und barrierefrei sein. Das schließt sich nicht aus.

Ab sofort bekommen wir die Pläne Jahre vor dem Bau und haben die Möglichkeit, Kommentare abzugeben. Wir machen Vorschläge, und soweit es möglich ist, arbeitet das Bauamt diese ein. Die Frage, die mich ständig beschäftigt, ist: Wie kann man es schnellstmöglich hinbekommen, dass sich etwas in den Ämtern tut? Ich bin ein Mensch, der gerade und drängend ist. Einmal bin ich persönlich betroffen, das ist meine Motivation. Dann bin ich Widder vom Sternzeichen, ein Charakter, der Sachen gern nach vorne bringen und durchsetzen will. Sonst lässt mir das keine Ruhe. Wenn ich überzeugt bin, dass es richtig und möglich ist, scheitere ich nicht. Das gibt es nicht.

Sind Sie davon überzeugt, dass bauliche Barrieren automatisch verschwinden, wenn sich im Kopf etwas ändert?

Nicht alles geht dann automatisch, aber ein großer Teil. Wenn wir es schaffen, dass die zuständigen Leute uns Menschen mit Behinderungen als Freunde und Geschäftspartner wahrnehmen, haben wir eine inklusive Gesellschaft, dann sind 98 % erledigt.

Darf ich Sie noch mal fragen, inwieweit Ihr Lebenslauf für Ihr Engagement eine Rolle spielt? Sie haben ja auch einen SeitenWechsel erlebt. 

Ja, das spielt eine große Rolle. Ich kenne beide Seiten. Auch die davor, mit meinem Berufsleben etc. Dann war ich plötzlich mit der Krankheit konfrontiert. Das prägt natürlich. Deshalb ist es für mich schwierig, zu begreifen, warum ich manchmal mit dem, was ich rüberbringen will, nicht ankomme. Dann werde ich in der Gangart etwas heftiger und öffentlich kritisiert. Auch von der „Fuldaer Zeitung“, die nach meiner Wahl schrieb, dass ich „spalte“. Wo gab es denn so etwas schon?

Wenn das bei dem Herrn vom Ausländerbeirat so gewesen wäre, hätten wir Demonstrationen in Fulda gehabt. Beim Behindertenbeirat macht man das, das ist für mich natürlich sehr schade. Nur weil ich ein starker Kritiker bin und mich deutlich ausdrücke.

Glauben Sie, dass ein scharfer Ton immer der richtige ist, um Menschen zu erreichen?

Manchmal habe ich den Eindruck, dass man gerade dadurch Türen einrennt, weil man sagt: „Damals war ich genau in deiner Situation und hatte auch einen solchen Job.“ Mit dieser Erfahrung kann ich mehr Dinge erreichen als jemand, der nicht selbst betroffen ist.

Gibt es keine Alternativen, um Betroffenheit zu erzielen? Oder ist es einfach Ihr Weg zu sagen: „Ich kenne die eine Seite, bin jetzt auf der anderen und schlage Alarm, damit die anderen Leute merken, was für Barrieren ich überwinden muss“?

Ich nehme jetzt einmal das Stichwort „Alarm“ auf, das heißt ja auch Rebellion. Das kann ich als Vorsitzender des Behindertenbeirats natürlich nicht machen. Ich repräsentiere ein Gremium von elf Personen. Das muss ich auf eine ordentliche Art und Weise machen. Aber als private Person kann ich weiterhin Alarm schlagen, und das tue ich auf meine Art. Da sagen viele, ich sei zu emotional, zu laut, zu fordernd. Ich muss das abgrenzen, was ich als Vorsitzender sein darf und was ich als Person bin.


Aber das zu trennen ist nicht immer leicht.

Das stimmt. In mir drin ist ja derselbe. Deswegen bin ich immer froh, wenn die Sitzungen vorbei sind und ich wieder ich sein darf. Das war bei der Wahl interessant. Ich wurde vorher gefragt, wie ich als Vorsitzender meine Meinungen vertreten würde. Da habe ich ihnen vorher mitgeteilt: „Ich werde immer Herr Theele bleiben. Wenn ich eine Meinung gegenüber städtischen Gremien vertreten muss, stehe ich natürlich hinter dem Behindertenbeirat. Aber ich werde immer ich bleiben und nicht so sein, wie ihr euch vielleicht einen Vorsitzenden vorstellt.“ Deshalb habe ich mich so gefreut, dass ich mit großer Mehrheit gewählt wurde, obwohl ich vorher alle gewarnt hatte.

Abschließend: Was ist in zehn Jahren in Fulda anders?

Ich bin davon überzeugt, dass wir inklusiv einen kleinen und barrierefrei einen großen Schritt vorangekommen sein werden.

Im Kopf nur einen kleinen Schritt?

Leider. Ich habe jahrelange Erfahrung und musste erkennen, wie langfristig man denken muss. Bis sich in den Köpfen was ändert, wird es länger dauern, als wir uns das wünschen.

Wie kann man es dann überhaupt schaffen, etwas in den Köpfen zu verändern?

Vorleben. Da appelliere ich auch an die Betroffenen. Auch wir müssen lernen, auf die anderen zuzugehen. Wenn mich Leute komisch anschauen, fahr ich direkt auf sie zu und frage: „Darf ich etwas für Sie tun? Sie haben mich so angestarrt, und ich habe den Eindruck gehabt, Sie haben eine Frage.“ Die Leute sagen dann meistens nichts, aber über diese Schocktherapie kommt man meistens gut ins Gespräch.

Noch mal abschließend zur Inklusion: Ich treffe mich immer mit ein paar Damen samstags zum Kaffee, und einmal ging das Gespräch ganz allgemein um Rollstuhlfahrer. Irgendwann haben wir alle angefangen zu lachen, weil uns dann erst bewusst geworden ist, dass ich ja auch im Rollstuhl sitze. Das war schön, das war Inklusion.

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