Der Nachbar riecht den Braten
von Arnulf Müller
Manche Schlagzeilen begleiten einen das ganze Leben. „Nachbarschaftsstreit eskaliert“ oder „Nachbarschaftsstreit endet tödlich“ zum Beispiel. Regelmäßig stolpern wir darüber und verschlingen solche Meldungen – geben wir es zu – mit heimlichem Vergnügen. Während ein Mord im Drogenmilieu recht weit weg von unserer Alltagserfahrung ist, ahnt jeder, wie schnell ein alltäglicher Zwist ins Extreme kippen kann. Das befeuert unsere Phantasie, zumal jeder einen Nachbarn hat.
Doch vielleicht rührt die leise Lust daran auch vom Stolz her, dass wir selbst die Sache weit besser im Griff haben. Schließlich haben wir es mit unserem Nachbarn auch nicht immer leicht: wenn sein Hund jeden Fußgänger anbellt, sein Besuch wiederholt vor unserer Garage parkt oder seine Helene Fischer atem- und pausenlos durch die Wand röhrt. Es sind banale Geschichten, aber sie verlangen uns eine Menge ab. Gut, dass wir gelernt haben, unsere Emotionen auszupegeln.
In der Regel beherrschen Menschen diese Kunst. Auch deshalb funktioniert Nachbarschaft, und zwar weit besser, als wir es vermittelt bekommen. Selten nur begegnen sich Nachbarn im Gerichtssaal. Und wenn, dann stehen dem unzählige Beispiele von freundlichem Austausch und erbrachten Hilfeleistungen gegenüber. Natürlich gibt es Wohnanlagen, in denen Menschen füreinander weder Zuneigung noch Hass – und auch nichts dazwischen empfinden. Man kennt sich einfach nicht. Der eine oder andere mag eine solche Anonymität suchen, die Mehrheit aber bevorzugt gesunden Austausch. Letztlich hängt unser Wohn- und damit unser Wohlgefühl davon ab.
Woher kommt es aber, dass wir trotzdem ein wenig zwiespältige Gefühle hegen, wenn wir über Nachbarschaft nachdenken? Was ist das Besondere an dieser Art von Beziehung?
Nachbarschaft ist Schicksal. Mit der Wahl eines Wohnortes handele ich mir die Nähe von Menschen ein, ob ich sie mag oder nicht. Ich wähle ein Viertel, ein Milieu, aber den einzelnen finde ich vor. Er steht da, wenn mein Möbelwagen vorfährt. Mit ihm muss ich klarkommen. Vielleicht für die Dauer meines Lebens. Zudem ist er jemand, der mit der Zeit manches von mir weiß, was Freunde und Verwandte nicht wissen.
Der Nachbar ist in vielen Situationen Zeuge meines Lebens: Er sieht mich, wenn ich zur Arbeit gehe, die Hecken schneide oder den Briefkasten leere. Er weiß, wer kommt, wer geht. Er weiß, welche und wie viele Bierkisten ich ins Haus trage. Er weiß, wann bei mir die Lichter an- und ausgehen. Er hört unfreiwillig mit, wenn ich im Garten oder am Balkon telefoniere. Er hört mich mit meinem Partner lachen, aber auch streiten. Er ahnt, wie es um meine Familie steht. Er riecht den Braten – auch im wörtlichen Sinne. Und wenn es den dritten Tag in Folge Fertigpizza gibt, dann riecht er das auch. Nachbarn entwickeln mit der Zeit ein feines Gefühl für den anderen: für das schwankende Maß an Gesprächsbereitschaft, für Muster des ausweichenden Antwortens, für Stimmungsschwankungen. Mit einem Wort: Der Nachbar ist der Wissende. Und wo er das nicht ist, ist er was noch schwerer wiegt der Deutende. Das von der Polizei zu Sicherheitszwecken verteilte Schild „Vorsicht, wachsamer Nachbar“ lässt sich auch ganz anders lesen.
Nein, das reine Wohlwollen vermuten wir bei unserem Nachbarn nicht immer. Wir wissen ja nicht, was er mit all dem Gesehenen und Gehörten anstellt, auch wenn es nette Begegnungen sein mögen. So versucht man hin und wieder, das Bild im Kopf des anderen zu beeinflussen: „Komm gegen 21:00 Uhr, aber park´ deinen Wagen nicht vor dem Haus, der Nachbar muss ja nicht alles wissen!“ Umgekehrt genießt man dessen Blicke durch den Vorhang, etwa wenn prominenter Besuch mit einem dicken Wagen vorfährt: „Da hat er aber schön geschaut, der Nachbar!“
Gleichwohl: So tragisch ist das alles nicht! Nachbarschaft unterscheidet sich nicht wirklich von anderen Beziehungen. Im Letzten besteht jedes Verhältnis von Mensch zu Mensch aus einer Mixtur von Wohlwollen und Distanzgefühlen: Niemand ist mir derart unsympathisch, dass mich nicht doch sein schweres Schicksal rühren könnte; umgekehrt kennt auch die innigste Freundschaft eine Grenze der Annäherung. Wie viel Nähe jeweils angemessen ist, muss immer neu austariert werden. Nachbarschaft bildet da keine Ausnahme. Das Besondere ist nur, dass aufgrund der geringeren Beziehungstiefe die gegensätzlichen Gefühle greifbarer sind und ihr Wechsel häufiger erlebt wird. Und genau deshalb will der Kontakt zum Nachbarn besonders gepflegt sein.
Weil Nachbarn je nach Wohnsituation ohnehin viel voneinander wissen (oder zu wissen glauben), ist es klug, ihnen mit vorauseilender Offenheit zu begegnen. Es empfiehlt sich gleichsam, den Lauscher an der Tür direkt hereinzubitten. Wo Vertrauen vorgeschossen wird, ergeben sich zunächst die bekannten praktischen Vorzüge: Das Leben verläuft reibungsloser,wenn das heiß erwartete Päckchen in meiner Abwesenheit treuhänderisch entgegengenommen, der vergessene Mülleimer an die Straße gestellt wird oder die leere Eierriege im Kühlschrank nicht das endgültige Aus für das Sonntagsessen bedeutet. Von solchem Austausch profitiert jeder. Besonders, wenn man nicht mehr so mobil oder gesund ist. Doch ein Nachbar ist noch viel mehr.
Ich treffe ihn en passant. Meist hetze ich an ihm vorbei, weil ich permanent zu spät dran bin. Doch manchmal ergibt es sich, da bleiben wir stehen, verhaken uns in ein Thema. „Bierchen?“ „Warum nicht!“ Beim Nachbarn gesessen, Zeit vergessen.
Wieder zu Hause stelle ich erstaunt fest, wie sehr ich das gerade genossen habe. Vielleicht, weil dieses Verhältnis nicht so schrecklich tief ist, weil es eine gewisse Leichtigkeit hat. Es bestehen keine überhohen Erwartungen, die enttäuscht werden könnten wie es manchmal unter Freunden ist. Es lauern keine unbewältigten Geschichten im Hintergrund, die plötzlich hervorbrechen wie es manchmal in der Familie ist.
Mit dem Nachbarn kann ich plaudern. Einfach nur plaudern. Über die Dauerbaustelle vor unserer Nase, den Leerstand des Hauses gegenüber, über den ewigen Fußball und meinetwegen auch über Politik. Da darf er sogar Dinge äußern, die ich meinen Freunden nicht so ohne Weiteres durchgehen lassen würde. Mit meinem Nachbarn bin ich nachsichtig, da bohre ich nicht erbarmungslos nach. Und wenn seine Ansichten allzu krude sind, wechsele ich einfach das Thema. Ich lasse ihn und bleibe gelassen. Denn ich weiß ja: Mein Nachbar ist anders. Wir haben nicht eine gemeinsame Welt durchlaufen, nicht zusammen studiert und keinen gemeinsamen Urlaub verbracht. Wir sind keine Briefmarkenfreude und spielen in keiner Band zusammen. Der Nachbar ist und bleibt: der Andere. Ein Mensch mit einem anderen Hintergrund. Aber das macht ihn auch interessant. Manchmal aber eröffnet mir das Gespräch mit ihm neue Perspektiven. Sein Denken eröffnet mir neue Perspektiven. Das ist erfrischend, schließlich zeitigt der Umgang nur mit seinesgleichen auch eine gewisse Blindheit.
Mit dem Nachbarn auf gute Weise zusammenzuleben, erfordert also, mit dem unauflöslichen Rest an Fremdheit leben zu lernen. Mehr noch: diesen zu achten und nichts erzwingen zu wollen. „Liebe Deinen Nachbarn, aber reiße den Zaun nicht ein“, lautet ein kluges Sprichwort.
Ja, der vielzitierte Zaun – DER symbolische Ort für Nachbarschaft! Oft sieht man in ihm nur Abgrenzung, oft ist er dem einen oder anderen ein Ärgernis aus Maschendraht oder Holz. Aber ein Zaun trennt nicht nur, er verbindet auch. Ein Gespräch findet über den Zaun statt, man kann sich dran anlehnen, etwas darüber reichen. Man winkt über den Zaun, man baut und streicht ihn vielleicht gemeinsam. Er gibt Handlungssicherheit. Würde er fehlen, traute man sich gar nicht, den eigenen Garten bis an die Grenze hin zu nutzen. Er schützt auch mal vor Blicken, klärt Besitzverhältnisse, weist Räume zu: dort du, ich hier. Das ist eine gute Basis. Lassen wir ihn also stehen. Und wenn´s überraschend gut läuft, bauen wir ein Türchen ein.