Der Zug fährt Richtung Stadt
von Arnulf Müller
1903 wurden die ersten Steine aufeinander gelegt heute ist es ein kleiner Stadtteil mit eigenem Flair: das Areal von antonius. Wer eine Behinderung hat und nicht zu Hause leben kann, wird hier begleitet und gefördert oft während aller Lebensphasen. Damit es den Menschen an diesem Ort an nichts fehlt, gibt es neben dem Wohnraum so ziemlich alles, was zu einem Leben dazugehört: einen Kindergarten, eine Schule, Arbeits- und Bildungsstätten, Laden und Café, eine Kapelle und sogar einen kleinen Friedhof.
Und doch ist dieser Ort, der inzwischen Campus genannt wird, keine abgeschottete Welt. Menschen abzusondern, war nie das Ziel. Hinter der Einrichtung standen und stehen die Fuldaer Bürger. Ohne sie wäre antonius längst abgewickelt. Dabei spenden sie nicht nur, sie suchen auch persönlichen Kontakt. Wer sich auf Begegnungen an diesem Ort einlässt, bei dem wirken die erlebte Herzlichkeit und Offenheit lange nach.
Solches zu fördern und die Situation der Menschen zu normalisieren, war das große Ziel der letzten Jahrzehnte. Was an ein typisches Heim erinnerte, wurde auf den Prüfstand gestellt und in seiner Struktur geöffnet. Heute finden hier Konzerte und Märkte statt, der Laden mit Bio-Schwerpunkt ist ein etabliertes Geschäft von Fulda, Hochzeitspaare mieten die Festscheune, weil man den schönsten Tag des Lebens auch hier verbringen kann.
Alles gut also? Ja. Weiter so? Ja und nein. Wer die Entwicklung von antonius verfolgt, wird bemerkt haben, dass der Zug inzwischen öfter auch in eine andere Richtung rollt. Richtung Stadt nämlich. antonius ist mit vielen Projekten in der City präsent, vor allem was die Arbeitsplätze betrifft: im Ladencafé (Severiberg), im antons meat & eat (Robert-Kircher-Straße) oder auf dem Frauenberg. In vielen Schulmensen und Firmenkantinen sind Menschen mit Behinderung im Service eingebunden, viele Fuldaer Unternehmer haben ihre Betriebe geöffnet. Dass Menschen mit geistiger Behinderung sich bei entsprechender Unterstützung in regulären Jobs sehr wohl bewähren können, war vor einigen Jahren noch undenkbar. Vor allem zeigen die Erfahrungen: In einem normalen Arbeitsumfeld entwickeln sich die meisten Menschen weit besser als in „beschützenden Werkstätten“. Der Grad der erreichten Selbstständigkeit ist wesentlich höher, und in der Folge davon steigt die Lebenszufriedenheit.
Hierdurch bestärkt weitet antonius nun auch das eingestreute Wohnen in der Region aus. Es braucht neben Angeboten auf dem Campus noch mehr Alternativen als bisher, und zwar nicht nur für eine ausgesuchte Gruppe der Stärkeren, sondern für jeden unabhängig davon, wie viel Assistenzleistung er benötigt. Niemand sollte automatisch und zwangsweise an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Form leben. Früher, als man Behinderung als eine „Krankheit“ verstand, wurde man gleichsam „auf Station“ unterbracht. So etwas gibt es nicht mehr. Allerdings verlangen menschliche Lösungen auch den passenden Wohnraum mitten unter uns. Nicht jeder möchte in einer WG leben, nicht jeder im Zentrum einer Einrichtung. Und nicht jeder, der z.B. in Neuhof wohnt, will nach Fulda ziehen, wenn seine Eltern als Betreuer irgendwann ausscheiden. Auch Menschen mit Behinderung haben das Recht, Wohnform und Wohnort zu wählen. Hinzu kommt, dass die Wohnsituation auf dem Campus trotz der vielen Baumaßnahmen der letzten Jahre in Teilbereichen weiterhin angespannt ist. Noch immer gibt es mehr als 30 Doppelzimmer, d.h. etwa 70 Menschen haben noch kein eigenes Zimmer, das erinnert noch an ein Heim.
Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, muss und will antonius Wohnraum erschließen, nicht nur im Zentrum von Fulda, sondern ebenso in den Ortskernen der Gemeinden des Landkreises. Das ist keineswegs einfach. Fulda hat nicht genügend Wohnraum für Menschen mit Anspruch auf Wohnhilfe, schon gar keinen barrierefreien. Jedes Jahr reißen sich tausende Studenten um bezahlbare Buden. Hinzu kommt: Viele Wohnviertel sind nicht nur zu teuer, sie sind ohne Führerschein kaum zu erreichen. Andere Stadtteile verfügen über keine Läden oder Freizeitangebote. Was übrig bleibt, sind in der Regel die typischen Problemviertel. Doch genau das muss vermieden werden, wenn die Menschen in ihr Umfeld eingebunden sein und sich wohlfühlen sollen.
So bleibt nur die Option, gezielt Häuser aufzukaufen und entsprechend herzurichten. Doch da braucht es Glück. Am Kronhof etwa gelang es, drei Immobilien in perfekter Lage sozial umzunutzen: Sowohl die Innenstadt als auch der Campus sind zu Fuß zu erreichen. Das neueste Projekt ist nun ein großes Wohnhaus in der Langebrückenstraße. Es bietet beste Voraussetzungen: Wer dort lebt, ist mittendrin. Acht Appartements für betreutes Wohnen und zwei größere Einheiten für gemeinschaftliches Wohnen sind geplant.
Doch bei der Realisierung solcher Projekte hat antonius mit zwei Vorurteilen zu kämpfen: Manch ein Fuldaer denkt: „Jetzt kaufen die schon wieder ein Haus!“ Dabei spukt das Bild eines Unternehmens im Kopf herum, welches auf Expansionskurs ist. Doch darum geht es überhaupt nicht. Zum einen sucht antonius stets nach Lösungen, die nach jeweiligem Erkenntnisstand die besten für die Menschen sind. Zum anderen sind solche Investitionen nur deshalb zwingend, weil sich der private Wohnungsmarkt nicht für Inklusion öffnet: Wohnraum muss auch in Fulda maximale Rendite bringen da gibt es keine Willkommenskultur.
Das zweite Vorurteil lautet: „Jetzt müssen die armen Behinderten in die Stadt ziehen! Die hatten es doch so gut da oben“. Zum einen wird niemand gezwungen, den Campus zu verlassen. Wer sich mit seinem Wunsch nach mehr Selbstständigkeit überschätzt hat, kann jederzeit zurückkehren. Zum anderen muss man sich grundsätzlich fragen: Ist die Forderung nach speziellen Zentren für Menschen mit speziellen Merkmalen überhaupt mit dem Prinzip einer sozialen Stadt vereinbar? Auch wenn Einrichtungen gut geführt werden, sind solche Bündelungen immer nur die zweitbeste Lösung. Wenn hier die Alten leben, dort die psychisch Kranken, da die Flüchtlinge und drüben Menschen mit geistigen Einschränkungen, zerfällt die Gesellschaft in einzelne Teile. Das ist ungesund und unsolidarisch. Dann prägen allein die Starken, die Macher das Gesicht einer Stadt, und die tatsächliche Vielfalt des Lebens wird ungreifbar. So verlieren am Ende alle.
Wie also müssen wir uns antonius in 2040 vorstellen? Es wird weiterhin das Zentrum auf dem Münsterfeld geben. Sein Charakter wird noch mehr den eines urbanen, gemischten Viertels haben. Menschen mit und ohne Behinderungen werden dort wohnen und arbeiten. Fuldaer Bürger werden dort Geschäfte, Gastronomien, Büros und Kultureinrichtungen unterhalten. Man genießt den Ort, weil es ein lebenswerter Stadtteil ist. Behinderung wird eine untergeordnete Rolle spielen, obwohl es viele Fördereinrichtungen gibt und auch viele Menschen mit Behinderung dort leben. Aber durch die alltäglichen Begegnungen wird sich der Blick auf auffällige Merkmale verloren haben. Es wird ein normales nachbarschaftliches Miteinander geben. Umgekehrt wird es viele regionale Stützpunkte in Stadt und Land geben, die von antonius geprägt sind, aber nicht in allen Fällen von antonius alleine betrieben werden. Die Modelle, wie sie in Eichenzell, Poppenhausen und Hosenfeld erfolgreich laufen und wie sie in Neuhof gerade am Start sind, werden dann Schule gemacht haben. antonius wird in Kooperationen mit der lokalen Politik, mit Verbänden und mit der Bürgerschaft vor Ort agieren. antonius wird Brückenbauer sein, Netzwerkarbeit betreiben und Assistenzleistungen vor Ort erbringen. Und die Städte und Gemeinden stellen den sozial begünstigten Wohnraum zur Verfügung - weil es ihre Aufgabe ist. Die örtlichen Vereine öffnen sich, das Kulturgeschehen ist so gestaltet, dass niemand per se ausgeschlossen ist. So wird antonius auf lange Sicht nicht mehr wachsen müssen, sondern sich in manchen Bereichen sogar entbehrlich machen können. Und das, was heute auf dem Campus so geschätzt wird, wird dann in den kleinen Zellen in den Gemeinden und in den Stadtvierteln erfahrbar sein: die Kultur des solidarischen Miteinanders, der individuellen Förderung und der menschlichen Wärme. Das wird bleiben, auch in 2040.