Die Gedanken sind frei

von Anna-Pia Kerber

Zwei Inhaftierte, zwei bewegte Leben: Wie ist das, wenn man plötzlich aus seinem Leben gerissen wird? Steht die Zeit im Gefängnis still – oder zwingt sie dazu, innezuhalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren? Herr Q. lernte seine heutige Lebensgefährtin auf der Flucht vor der Polizei kennen und erlitt während der Verhaftung einen Herzanfall. Herr W. heiratete seine Frau im Gefängnis. Beide haben sich seit ihrem Einzug in die JVA Hünfeld intensiv mit der Zeit beschäftigt und Wege gefunden, damit umzugehen.

 

Die Gedanken sind frei

Die Gedanken sind frei

 

 

 

Die schwere Eingangstür schließt sich hinter mir mit einem endgültigen Klicken. Meine Tasche wird durchleuchtet, die Jacke muss ich ablegen. Es ist ein ähnliches Prozedere wie im Flughafen, mit dem Unterschied, dass ich nichts mitnehmen darf, nicht einmal die Autoschlüssel. Jedes technische Gerät musste ich im Vorfeld anmelden, mein Handy ausschalten. Dann werde ich in einen Zwischenflur entlassen. Weitere schwere Türen öffnen sich vor mir – und schließen sich wieder. Dumpfe Stille.

Wer sich der JVA Hünfeld mit dem Auto nähert, sieht schon von Weitem das Glänzen des Stacheldrahts auf den Mauern. Die Anstalt erhebt sich wie eine langgestreckte, flache Festung auf einer Anhöhe, der Blick wird von dem umliegenden Grün abgelenkt, harte Mauern zwischen sanften Hügeln. Von innen kann man den Ausblick nicht genießen.

Wie ist es, wenn man hier einsitzt? „Du darfst nicht auf die Uhr sehen.“ Herr Q. hebt die Schultern. Aus seiner Stimme klingt ruhige Gelassenheit. Er hat akzeptiert, dass er die Situation nicht ändern kann und versucht, das Beste daraus zu machen. „Man lernt, in kleineren Etappen zu denken. Und sich auf Kleinigkeiten zu freuen. Zum Beispiel auf das Frühstück.“

In den Zellen selbst befinden sich keine Uhren – nur auf den Fluren. Zeit vergeht hier anders als draußen. „Draußen geht das Leben weiter.“ Doch auch für meine Interviewpartner ist das Leben weitergegangen. Beide befinden sich wegen Betruges in der JVA Hünfeld. Beide werden im Oktober dieses Jahres entlassen.

Herr W. hat seit seinem Einzug ins Gefängnis sogar geheiratet – in der gefängniseigenen Kapelle. „Wenn man sich liebt, ist der Ort egal. Wir halten zusammen, egal wo.“

Auf die Liebe konnte er sich verlassen. Obwohl sie viel aushalten musste. „Unser erstes Baby ist gestorben. Danach bin ich ziemlich abgestürzt. Ich hätte mehr für meine Frau da sein müssen.“ Für das verlorene Mädchen ließ er sich ein Tattoo stechen: ein fröhlicher Hello-Kitty-Katzenkopf. Ein Zeichen gegen das Vergessen. Inzwischen ist er wieder Vater geworden. Vater eines gesunden Mädchens. Rosig und süß sieht das Baby aus auf dem Foto in seiner Zelle.

Seit er hier ist, schreibt er seiner Frau Briefe. „Das ist viel romantischer, als WhatsApp-Nachrichten zu verschicken.“ Von digitalen Medien und Facebook hält er nicht viel. „Zu viel Stress.“ Im Gefängnis gibt es sowieso keinen Internetzugang. Wo die meisten jungen Leute die Zeit mit ihrem Smartphone verbringen, sucht er sich andere Beschäftigungen. Momentan liest er „Der Spieler“ von Dostojewski. Der große russische Schriftsteller beschreibt darin eindringlich seine Spielsucht. Eine Sucht, die auch Herr W. allzu gut kannte. Um sie zu finanzieren, bestellte er auf fremde Namen Handys und verkaufte sie.

Ob das jemandem geschadet hat? „Ich hätte niemals auf den Namen meiner Freunde einkaufen dürfen“, bedauert er. Im Hier und Jetzt habe er gelebt, ohne an die Zukunft zu denken. Vielleicht auch, ohne an die Zukunft zu glauben. Selbst der Telefongesellschaft gegenüber fühlt er sich schuldig.

Der junge Mann lebt nach Überzeugungen, die er sogar sichtbar auf dem Körper trägt. „Nur Gott kann mich richten“ ist in seinen Nacken tätowiert. Keine leere Phrase.

Der gelernte Schreiner engagierte sich jahrelang bei der freiwilligen Feuerwehr. Gerne wäre er professioneller Feuerwehrmann geworden, „aber der Sporttest – vor allem das Schwimmen und Tauchen – waren zu heftig für mich. Das habe ich nicht geschafft.“ Von sich selbst sagt er, er habe zwei Gesichter: Auf der einen Seite wolle er Menschen helfen, auf der anderen habe er ihnen geschadet.

Zwei Gesichter hat auch Herr Q. Seine damalige Frau hatte bis zu seiner Verhaftung nicht gewusst, auf welche Weise er ihr gemeinsames Leben jahrelang hatte aufrechterhalten und finanzieren können. Inzwischen sind die beiden nicht mehr zusammen. Aber 28 Jahre gemeinsames Eheleben verbinden und seine Ex-Frau wird ihn kommende Woche in der JVA besuchen. Wie sie damit umgeht, diese andere Seite ihres Manns nicht gekannt zu haben? „Das müssten Sie sie wohl selbst fragen“, findet Herr Q. Für einen Augenblick wirkt er nachdenklich.

Jeder zeigt bestimmten Menschen eine ganz bestimmte Seite. Manchmal entsteht ein Ungleichgewicht. Am Ende mag es schwer sein, sich von einer Rolle zu lösen. Als Freiberufler war Herr Q. ständig in ganz Deutschland unterwegs. „Ich bin ein Einzelkämpfer.“ Er sprach damals mit niemandem darüber, dass alles entglitt. Lange Zeit hatte er sich das nicht einmal selbst eingestehen können.

„Ich habe früher immer von einem Fehler gesprochen. Aber wir sind ja nicht unschuldig hier. Ich habe eine Straftat begangen, habe gelogen und betrogen.“ Geld habe er sich geliehen und nie zurückbezahlt. Viel Geld. Und wozu? „Um den Status aufrechtzuerhalten.“ Dieses Mal kommt die Antwort ohne Zögern. „Ich musste die Dinge einfach am Laufen halten.“ Vor den Nachbarn, die alle schwere Wagen fuhren. Die erwarteten, dass man drei Mal im Jahr in den Urlaub fuhr. Die sich in ihrem bequemen Leben eingerichtet hatten, in ihrem Prestige. Und in ihrer vermeintlichen Sicherheit.

„Ich wollte einem Freund eine Chance geben, als das sonst niemand mehr tat“, erzählt Herr Q. „Er war Alkoholiker. Man hatte mich gewarnt, dass ich ihm keinen Job geben soll. Ich hab’s trotzdem getan. Und bin prompt reingefallen. Ich kannte auch nur seine gute Seite.“

Für Herrn Q. schien die Zeit im Gefängnis anfangs kein Ende zu nehmen. Er, der zuvor beruflich ständig unterwegs gewesen und durch das gesamte Land gefahren war, war nun in einem winzigen Raum eingesperrt. „23 Stunden in der Zelle und eine Stunde Hofgang – das ist schwer auszuhalten.“ Inzwischen hat er einige Aufgaben wie den Küchendienst übernommen und darf sich frei auf dem Flur bewegen. Eine Erleichterung.

Auch Herr Q. beschäftigt sich lieber mit Lesen als mit Fernsehen. „Wenn ich fernsehe, bin ich noch immer im Bildschirm gefangen. Beim Lesen kann ich die Zelle verlassen.“ Die Gedanken sind frei.

Dass er überhaupt ins Gefängnis gehen könnte, war für ihn überhaupt keine Option. Selbst als der Haftbefehl gegen ihn ausgesprochen worden war, glaubte er dem Urteil entgehen zu können. „Ich befand mich auf der Flucht – und lernte dabei meine jetzige Lebensgefährtin kennen.“ In einer Pension ist er ihr begegnet, nicht fern seiner Heimat. Allerdings lebt seine Partnerin im hohen Norden. „Es war klar, dass ich sie wiedersehen muss. Dann trat ich morgens aus der Tür der Pension und wurde von Beamten in Zivil erwartet.“ Sie hatten ihn über das Handy geortet. Während der Verhaftung erlitt er einen Herzanfall.

„Das war nicht der erste, deswegen konnte ich die Zeichen sehr genau deuten. Ich bat um einen Arzt. Man warnte mich. Wenn ich das vortäuschen würde, müsse ich den Krankenwageneinsatz selbst bezahlen. Aber das Geld war mir in diesem Augenblick völlig egal.“ Der Arzt bestätigte seine Vermutung und ließ ihn ins Krankenhaus bringen. Von dort aus ging er ins Gefängnis.

 

Knaststuhl mit Ermutigungslehne – frei nach Joh. 16,33

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Dass sein Leben innerhalb kürzester Zeit so viele Wendungen nehmen konnte, hat ihn getroffen. Trotz allem strahlt er Stolz aus. Herr Q. hat ein bewegtes Leben geführt. Ein Leben, das ein gesamtes Buch füllen könnte. Und auch für ihn wird es weitergehen. Draußen. Und der Status? „Es gibt wichtigere Dinge im Leben.“ Er möchte sich nicht nur auf seine neue Beziehung konzentrieren, sondern auch ehrenamtlich engagieren. „Wenn ich mal nicht mehr bin, soll mich meine Familie in einem anderen Licht in Erinnerung behalten.“

Auf Herrn W. warten seine Frau und seine kleine Tochter. Der Plan? „Erst mal gemeinsam weg.“ Weit weg – von der Vergangenheit, von den Schrecken, von Deutschland. Weg vom Gefängnis. Das Wohin bleibt offen.

Ich darf einen Blick in seine Zelle werfen. Ein Foto seiner Tochter und eines seiner Frau im Regal, ein Fernseher, einige wenige persönliche Gegenstände. Dann verabschieden wir uns. Die Tür schließt sich. Es ist befremdlich, einen erwachsenen Menschen einzuschließen.

Herr Q. hingegen darf auf dem Flur bleiben. Ob er nach seiner Zeit in der JVA den Kontakt zu anderen Inhaftierten halten wird? „Sicher nicht“, erklärt er, leise und final. So bewegt ein Leben auch sein mag – manche Abschnitte möchte man nur hinter sich bringen.

Für mich selbst werden auf dem Weg nach draußen erneut viele weitere Türen geöffnet – und geschlossen. Die letzte schließt sich hinter mir mit einem endgültigen Klicken. Ich sehe in den Himmel und atme tief ein.

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