Die Seele in der Hand des Chefs
Ich sehe ihn nicht oft, meinen Cousin. Alle zwei Jahre vielleicht. Wenn, dann dreht sich alles um „seine” Firma. Die Firma, die Firma. Wie weit er da schon hochgekommen ist.
„Super” ist es. Auch mal in Paris unterwegs. Klasse Hotel dann. Überhaupt: Tolle Kollegen. Prima Chef. Der Firmenwagen „absolut” nach Wunsch.
Ich staune. Was wurde früher gestöhnt über die Maloche! Und auf den Chef geschimpft. Klar versuchte man hochzukommen. Aber die Arbeit blieb eine Sache für sich. Der bessere Teil von einem blieb oft zu Hause. Schließlich gab´s noch Familie, den Verein, die Kneipe um die Ecke, dies und das eben.
Doch ich glaube meinem Cousin. Okay, ein bisschen der tolle Hecht sein wollen, einer, der alles richtig gemacht hat – geschenkt. Die Arbeit scheint wirklich sein Leben zu sein. Seine Liebe sogar. Aber irgendetwas weckt Unbehagen, wenn ich ihn reden höre.
„WORK HARD, PLAY HARD“ heißt ein Dokumentarfilm, der unlängst auf ARTE lief. Ein brillanter Streifzug durch moderne deutsche Bürowelten. Dieser Film hat mein Unbehagen noch gesteigert. Ich weiß jetzt, warum mein Cousin so über „seine“ Firma redet. Und ich weiß, warum er über nichts anderes mehr redet: Weil es nichts anderes mehr gibt in seinem Leben. Das hat sein Chef gut hinbekommen, dieser prima Kerl.
Mein Cousin hat den „Cultural Change“ durchlaufen: Er denkt jetzt uneingeschränkt positiv. Probleme sind für ihn Herausforderungen, kein Grund zum Jammern. Er ist voll teamfähig, für seine Kollegen jederzeit berechenbar. Vom Urlaub aus klinkt er sich per Smartphone in die Abläufe ein. Bei ihm ist gelungen, was im Film die Unternehmensberaterin mit Kühlschrankcharme fordert: eine „Kultur der kontinuierlichen Verbesserung nachhaltig in die DNA eines jeden Mitarbeiters zu verpflanzen“. Welch ein Satz! „Wir wollen Menschen verändern in einer Größenordnung von 1200 Mitarbeitern“, sagt sie während einer Schulung von Führungskräften. Keiner steht auf, keiner stellt Rückfragen. Der Mitarbeiter ist als Schwachstelle im globalen Kampf um Marktanteile längst ausgemacht. Deswegen muss seine Seele umgebaut werden. Damit sie erfüllt ist von einer „Mega-Wachstumsmentalität“. Damit der beste Teil des Mitarbeiters nicht zu Hause bleibt. Stechuhren braucht man nicht mehr. Der neue Mitarbeiter ist ohnehin vorher da.
Was diesen Film so stark macht, ist, dass er auf stille Beobachtung vertraut. Kein Kommentar schreibt vor, was man denken soll. Unaufdringlich, aber eindringlich fängt die Kamera ein, wie blutarme Macher in Chefetagen ihre „Kulturrevolution“ vorantreiben. Wie sie mit gefrorenen Mundwinkeln vom „Team“ reden und von „Wertschätzung“.
Mein Cousin ist „im Flow“. Er erlebt sich stark, vital, dazugehörig. Noch. Ich mache mir Sorgen, was geschieht, wenn er mal nicht mehr so „performt“, nicht mehr mithalten kann. Wenn andere das Ruder übernehmen und er mit seiner umgebauten Seele zu Hause sitzt. Wird es dann noch „seine“ Firma sein? Was wird er mit sich anfangen, was zu erzählen haben? Ich schicke ihm jetzt die DVD.
Arnulf Müller