„Die Tür der Seele geht nach außen auf“

Prof. Godehard Brüntrup SJ im Gespräch

Wenn Godehard Brüntrup in seinen Vorlesungen an der Hochschule in München die großen metaphysischen Probleme behandelt, gelingt ihm das in überraschend einfachen Worten. Klar, dass der Hörsaal bis zum letzten Platz belegt ist. Der in Fulda geborene Philosophieprofessor und Jesuit ist jedoch nicht nur ein Fachmann für analytisches Denken, er versteht sich auch auf Lebensfragen. Der ideale Gesprächspartner, um einmal auszuloten, wie bedeutsam und prägend zwischenmenschliche Begegnungen sein können. Nach der Lektüre versteht man besser, warum sie uns gerade so sehr fehlen.

Sorgt für Durchblick, auch in Lebensfragen: Prof. Godehard Brüntrup SJ

Bei einem Philosophen liegt es nahe, mit einer begrifflichen Frage zu beginnen: Was unterscheidet eigentlich eine Begegnung von einer Beziehung?
Beziehungen sind langfristige Verbindungen mit anderen, die ausmachen, wer ich bin. Es ist nicht so, dass man sagen könnte: Hier bin ich in Isolation und dann kommt meine Beziehung dazu. Sondern meine Beziehung zu anderen Menschen, sogar zu Lebewesen wie Haustieren, machen aus, wer ich bin. Hätte ich andere Beziehungen, wäre ich auch ein anderer. Das ist ganz wichtig. Selbst wenn ich eine Beziehung abbreche, wird sie mich noch lange Zeit tief bestimmen. Begegnungen dagegen sind etwas Ereignishaftes, sind Events. Die meisten Begegnungen sind oberflächlich, sodass sie keine tiefe Spuren in uns hinterlassen. Besonders interessant sind aber natürlich diejenigen Begegnungen, die es schaffen, dass sie trotz ihrer Kürze so tief in mein Wesen eindringen, dass sie eine Spur hinterlassen und mich in meinem Innersten verändern. Sie geben dem Leben Farbe und Intensität.

Wenn auch kurze Begegnungen so ein Potential haben, warum geben wir ihnen so selten eine Chance? Oft huschen wir ja möglichst schnell aneinander vorbei.
Dem würde ich zustimmen. Unsere Tendenz ist es, nur eine bestimmte Anzahl von stabilen Beziehungen zu haben, etwa die familiären und beruflichen. Das ist auch gut so, denn die Beziehungen machen das feste Fundament aus. Die Begegnungen kommen aber dann noch dazu. Die ganze bunte Fülle des Lebens lädt dazu ein, dass man sich in momentanen Begegnungen viel kreativer und schöpferischer verhält und überraschend öffnet. Mein Vater war so ein Mensch, mir persönlich fällt es schwerer. Er kam in ein Restaurant, in dem wildfremde Menschen saßen. Er konnte eine Person ansprechen und mit ihr in ein Gespräch kommen auf eine Weise, die ganz schnell vom Oberflächlichen zu tiefen Fragen kam. Ich glaube, dass das dann wechselseitig eine Begegnung war, die eine Spur hinterlassen hat. Das ist das Entscheidende: Kurze, ereignishafte Begegnungen zu haben, die eine Spur hinterlassen,
in die Tiefe gehen.

Spielt Angst eine Rolle? Erfahrungen, die uns befürchten lassen, dass es wieder schiefgeht?Gewiss spielt das Sicherheitsbedürfnis eine Rolle.
Begegnungen können sehr einschneidend sein. Ein klassisches Beispiel aus unserer christlichen Kultur, bei dem Menschen durch eine Begegnung vollständig aus der Bahn geworfen wurden – aber zum Positiven –, ist die Jünger Berufung im Evangelium. Jesus kommt bei Fischern vorbei, begegnet ihnen kurz, und sie werfen dann ihre Netze hin, lassen ihre Familien zurück und folgen ihm nach. Daran sieht man, dass Begegnungen das Leben ganz schön durcheinanderbringen können. Hätten die Fischer die Begegnung nicht zugelassen und gesagt: „Ich habe Frau und Kind, einen festen Arbeitsplatz, seit Generationen fischen wir an dieser Stelle“, dann wären sie nicht Jünger und Apostel geworden. Das ist ein drastisches Beispiel, aber es verdeutlicht: Wenn man sich wirklich auf Begegnungen einlässt, verändert das einen. Es ist riskant.

Wie würde das im Alltag aussehen?
Als Professor erlebe ich das, wenn ich in Studienzeiten – das geht in Corona-Zeiten leider nicht – in unsere Studentenbar gehe. Zu vorgerückter Stunde, wenn alle schon so ein bisschen was getrunken haben, sitze ich an der Theke und es kommt zu ganz persönlichen Gesprächen mit Studierenden, die vielleicht einen völlig anderen kulturellen Background haben. Sie kommen ja zum Teil aus ganz anderen Ländern, haben völlig andere politische Überzeugungen. Es sind Menschen, die ich sonst nie persönlich treffen würde. Klar, ich treffe sie im Unterricht, aber da reagieren sie nur auf meine Fragen und geben Antworten. Da begegne ich ihnen eigentlich kaum. Aber wenn ich mit ihnen an der Bar sitze und sie mir plötzlich ihr Leben erzählen, fordert mich das heraus. Da kann ich mich nicht auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis zurückziehen, sondern erzähle ihnen auch etwas aus meinem Leben, mache mich verwundbar dadurch, dass ich mich öffne. Das ist eines der schönsten Dinge am Hochschulleben, dass  man als älterer Herr immer wieder junge Menschen erleben kann, die sich bereitwillig öffnen, die zu solchen Begegnungen fähig sind und Lust darauf haben, weil sie nach Orientierung suchen und sich selber noch formen wollen. Das ist auch ein wichtiger Punkt: Wenn man selbst „fertig“ ist, kann man niemandem mehr wirklich begegnen. Fertig zu sein und auf alles eine Antwort zu wissen, ist die negative Form von Erwachsensein. Man kann dann zwar noch in vielen Beziehungen leben, aber diese sind oft sehr starr. Wirklich ereignishafte Begegnungen sind aber nicht möglich, wenn man innerlich starr ist. Von daher bringen Begegnungen immer etwas Jugendliches ins Leben. Durch sie verjüngen wir uns sozusagen geistig. Jugendliche sind auch diejenigen, die am meisten Begegnungen suchen.


Priester und Philosoph aus Fulda ...

Ist der Begegnende eine Art Spiegel ist, in dem ich mich selbst erleben kann?
Mehr als das. Ich hatte ja gesagt, dass Beziehungen bestimmen, wer ich selbst bin. Man erlebt das manchmal bei alten Ehepaaren, dass sie völlig aufeinander eingespielt sind. Wir lächeln vielleicht darüber, beneiden sie aber auch etwas darum. Auch Begegnungen, die nicht oberflächlich und trivial sind, erzeugen in ganz kurzer Zeit nicht nur, dass ich mich im Spiegel des Anderen sehe, sondern dass ich mich treffen und formen lasse. Ich würde deshalb zwei Arten von Begegnungen unterscheiden: Die triviale Begegnung mit einer Person, die zum Beispiel vor mir in der Schlange am Supermarkt steht. Vielleicht sage ich sogar zwei Worte zu ihr, aber nach wenigen Minuten habe ich sie vergessen. Das ist gut und schön, aber die zweite Art von Begegnungen ist viel interessanter. Es sind solche, die mich in Frage stellen, erschüttern, begeistern, mich aus meinem Trott bringen. Das sind oft Begegnungen mit Menschen, die ganz andere Erfahrungen im Leben gemacht haben als ich selbst. Das ist wirklich viel mehr, als in den Spiegel zu schauen: Es ist wie ein Fenster aufzumachen und mich in meinem Innersten verändern zu lassen. Wie mein Vater in Anlehnung an Viktor Frankl sagte: „Die Tür der Seele geht nach außen auf.“

Das heißt?
Es heißt: Ich kann eigentlich nur dadurch zu mir selbst kommen, also in meine Seele, indem ich von innen ihre Tür öffne und andere hineinlasse. In mir selbst ist zunächst mal relativ wenig. Erst indem ich die Tür ins Außen aufmache und die ganze Bandbreite von stabilen Beziehungen und ereignishaften Begegnungen zulasse, wächst auch in mir etwas. Wenn ich die Tür aber zuhalte und dann so durch die Welt laufe, bleiben mir alle Begegnungen äußerlich. Es gibt krankhafte Narzissten, die haben scheinbar Beziehungen und Begegnungen wie andere auch, vielleicht sogar eine Ehe, aber im Grunde bleiben ihnen Beziehungen äußerlich, dienen nur der Selbstbespiegelung. Wenn für sie der Partner wegfällt, dann nehmen sie einfach den nächsten, weil sie sich ohnehin nicht von anderen Menschen betreffen lassen. Zu meinen, man könne sich selbst in seiner ganzen Fülle völlig unabhängig von anderen entwickeln, ist Unsinn. Um sein Inneres zu entwickeln, muss man die Tür aufstoßen. Nur wer ein beziehungsreiches und begegnungsreiches Leben hat, hat auch ein „Leben in Fülle“ – theologisch gesprochen. Ich kann es sogar in einem theologischen Bild ausdrücken: In der griechischen Philosophie wurde Gott vorgestellt als das Wesen, das kein Gegenüber braucht. Dass es eine Schöpfung gibt, das ist für diesen Gott völlig irrelevant. Gott ist der unbewegte Beweger, der vollkommen in sich ruht. Das ist eine fast abstoßende Vorstellung von einer Person. Man müsste daher eher sagen: Gott ist das Wesen, das am meisten in Bezogenheit lebt. Es ist das Wesen, das sich von allem betreffen lässt. Gott ist das am meisten bezogene und gerade nicht das am meisten isolierte Wesen. Und so würde es auch für den Menschen gelten. Ein geglücktes menschliches Leben heißt, dass man sich auf tiefe, verändernde Beziehungen einlässt und dass man nicht nur oberflächliche Begegnungen hat, sondern gerade diejenigen Begegnungen sucht, die einen verändern und herausfordern. Das ist gar nicht so leicht.

Würde eine größere Bereitschaft, sich durch Begegnungen verändern zu lassen, zu einer anderen Gesellschaft führen?
Es würde zu einer inklusiven Gesellschaft führen. In ihr würden Begegnungen über alle Bereiche hinweg nicht nur zugelassen, sondern gesucht werden: Zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, verschiedenen Hautfarben, verschiedenen Graden körperlicher und geistiger Fähigkeit, verschiedenen Altersstufen. Der Wert einer solchen Gesellschaft wäre, dass man sich immer neu Menschen gegenüber öffnet, die das Leben aus einer ganz anderen Perspektive erfahren. Wenn man solche Begegnungen an sich heranlässt, wird man ein anderer Mensch werden, einer, der in einem guten Sinne weniger erwachsen und fertig ist, ein Mensch, der noch wachsen und sich entwickeln will. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen ihre Sicherheit in irgendwelchen fest gefügten Routinen, Überzeugungen und haus backenen Theorien suchen. Und damit machen sie verändernde Begegnungen unmöglich, denn durch Begegnungen lasse ich mich von Neuem treffen, was in meine bisherige Vorstellungen
nicht so reinpasst.

Erinnern Sie sich auch persönlich an solch einschneidende Begegnungen?
Für mich waren es Begegnungen mit bestimmten philosophischen Lehrern. Der Groschen, dass mich ihre Weise zu denken fasziniert, ist nicht primär durch das Lesen ihrer Bücher gefallen. Es waren die Begegnungen, in denen ich ihre gesamte Persönlichkeit erlebt habe, also wie sie etwa die Probleme in einer bestimmten Weise mit Ruhe und Nachdenklichkeit oder mit unparteiischer Objektivität angingen. Das kann kein Buch vermitteln. Ich erlebte es zum Teil, als ich ihre Vorlesungen hörte, aber noch stärker im Vier-Augen-Gespräch. Es ist gar nicht einfach zu beschreiben, was genau da rüberkam, weil es ja nicht nur durch Worte vermittelt wurde, sondern mit der Ausstrahlung und Persönlichkeit. Eine andere Erfahrung: Als ich jünger war, habe ich viel meditiert und ging zu verschiedenen Meditationslehrern. Einmal kam ich zu einer Benediktinerin, Schwester Ludwigis. Wir waren in einem Meditationsraum und nach den ersten Minuten war mir klar: Das ist der Ort, an dem ich jetzt weitergehen muss. Sie war eine ganz starke Persönlichkeit, die sich durch jahrzehntelanges Meditieren innerlich geformt hatte. Bei den anderen Lehrern hatte es nicht so Klick gemacht, es hatte nicht diese Begegnung stattgefunden wie mit ihr. Solch intensive Begegnungen zu haben, ist für die Formung des Lebens ganz, ganz wichtig, gerade für junge Menschen. Ältere Menschen, wie ich jetzt im siebten Lebensjahrzehnt, haben ja einen reichen Schatz an Begegnungen – positive, manchmal auch negative – auf denen man sich jetzt ein bisschen ausruhen kann. Für jüngere Menschen ist es schwierig, ein Jahr lang in einer Pandemie zu leben, weil sie begegnungshungriger sind. Ich würde ihnen gerade nicht unterstellen, dass es ihnen nur um Party geht. Vielleicht auch, aber es geht ebenso darum, neuen Menschen, Ansichten und Lebensweisen zu begegnen. Warum drängt es so viele junge Leute dazu, weit zu reisen? Die Jüngeren gehen ja nicht wie manche Ältere in ein Hotel, igeln sich ein und sehen nur am Buffet mal kurz andere Leute. Wir sind in meiner Jugend auch mitandem Interrail-Ticket durch Europa und wollten andere Nationen und andere Menschen kennenlernen. Das ist jetzt in der Pandemie alles nicht mehr möglich, aber es gehört fundamental zum Menschsein, nicht nur zum Jungsein. Und in Bezug auf Inklusion würde ich noch sagen: Begegnungen mit Menschen, die schwere Beeinträchtigungen haben, können besonders intensiv erlebt werden, weil man etwas Neues über sich erfährt. Wenn ich nämlich einem Menschen begegne, der durch eine Krankheit oder durch eine Verminderung äußerlicher Fähigkeiten im Vergleich zum Durchschnittsmenschen irgendwie nichtdem Standard entspricht, kann das herausfordernd und verunsichernd sein. Eine solche Begegnung erinnert mich an meine eigene Verletzlichkeit, an meine eigene Angst, nicht in allem perfekt zu sein. Aber wenn ich mich dieser Begegnung öffne, dann lerne ich meine eigenen Verletzungen anzunehmen, was ein riesiger Schritt nach vorn sein kann, ein Befreiungsschlag. Vielleicht ist noch wichtiger, dass mir eine solche Begegnung deutlich macht, dass es auf vieles, durch das ich mich definiere, gar nicht ankommt. Dass im menschlichen Leben ganz andere Dinge wichtig sind, als zum Beispiel bei Facebook immer den gescheitesten Kommentar posten zu können. Solche Begegnungen vermitteln also, dass das wichtigste im menschlichen Leben gerade nicht das ist, womit ich mich im Alltag oft beschäftige. Sie sind eine Provokation. Deshalb: Echte Begegnung mit dem Fremden und Andersartigen hinterfragt immer die eigene Selbstgenügsamkeit. Sie sagt mir: Das, wodurch du dich alltäglich definierst, ist vielleicht gar nicht das Ganze. Und befreiend sind solche Begegnungen natürlich für beide Seiten. Beziehungen und Begegnungen, die gelingen, sind nie Einbahnstrassen.

... ein Mann mit vielen Gesichtern

Wenn es über Begegnung doch so viel zu sagen gibt, warum steht der Begriff nicht mal im philosophischen Wörterbuch?
Ich glaube, es hängt mit dem aristotelischen Erbe zusammen, dass wir auf feste Wesenheiten schauen, also auf die Dinge, die sich in der Zeit nicht ändern. Die Philosophie suchte im Fluss der Zeit immer das Dauerhafte. Aber das Ereignishafte, Momentane findet weniger Beachtung. Das andere ist, dass unsere Tradition sehr stark auf den Einzelnen bezogen ist: Descartes denkt darüber nach, ob es möglich ist, dass ich allein bin und die ganze Welt nur träume? Man denkt in unserer Tradition immer stark an das in sich stehende, seine Welt konstruierende Subjekt, nicht so sehr an Beziehung und Begegnung mit dem Anderen.

Nochmal zurück zu den möglicherweise dramatischen Folgen von intensiven Begegnungen. Lauern da nicht auch moralische Probleme? Etwa wenn man in einer festen Paarbeziehung lebt, aber immer wieder neue, ereignishafte Begegnungen sucht?
Ja, natürlich. Die festen Beziehungen sind das Fundament. Auf dieser sicheren Basis kann man sich dem Abenteuer immer neuer Begegnung ausliefern. Es braucht beides: feste Beziehungen und ereignishafte Begegnungen. Wenn die Begegnungen aber die Basis der festen Beziehungen untergraben, dann gerät das ganze Leben ins Wanken und löst  sich als biografischer Entwurf auch auf. Ein Drogenabhängiger, der nur von Tag zu Tag, von Rausch zu Rausch lebt, wäre dafür ein Beispiel. Feste Beziehungen in Familie und auch in der Sexualität sind der rote Faden des Lebens. Ohne sie löst sich das Leben in lauter zusammenhanglose Episoden auf. Kurzfristige Begegnungen, die das feste Fundament der Beziehungen erschüttern, sind daher meist destruktiv. So ist es daher gut, sich neuen Begegnungen – zum Beispiel mal in fremde Kreise oder eine fremde Kultur einzutauchen – zusammen mit dem festen Lebenspartner zu stellen. So kann diese neue gemeinsame Erfahrung die Beziehung vertiefen.

Bevor wir die Videokonferenz und damit unsere Begegnung beenden: Erzählen Sie kurz, was sie mit Fulda verbindet.
Von meiner Kindheit und Jugend her bin ich zu einhundert Prozent ein Fuldaer Jung. Heute kann ich das natürlich nicht mehr so sagen, aber damals war ich fest in Fulda verwurzelt. Ich bin am Frauenberg aufgewachsen, in der Marienstraße und war immer auch mit der Rhön verbunden, weil meine Eltern in der Nähe von Poppenhausen ein Wochenendhaus hatten. Aber ich habe nach dem Abitur Fulda ziemlich radikal verlassen, weil ich mich entschlossen hatte, in den Jesuitenordeneinzutreten. Ich hatte schon als Jugendlicher ein großes Interesse an Philosophie. Und mit 18 habe ich mich gefragt, ob ich vielleicht Priester werden sollte. Das war aber zunächst noch weit weg, weil mir das ganze klerikale Milieu im Grunde sehr fremd war. Dann hat mich ein Jesuitenpater auf die Hochschule für Philosophie in München hingewiesen. Zwischen mündlichem und schriftlichen Abitur bin ich dann dorthin gegangen, habe mir für drei Monate ein Zimmer genommen und hatte viele intensive Begegnungen. Ich saß nächtelang in der Studentenbar und habe mit den damals noch sehr zahlreichen jungen Menschen gesprochen, die sich für diesen Weg des Ordenslebens begeistern ließen. Die kamen aus sehr verschiedenen Ländern. Es tat einerseits weh, aus den festen Freundschaften in Fulda so herausgerissen zu sein, aber diese intensiven Begegnungen eröffneten mir einen ganz neuen Horizont. Aber am Ende wusste ich: Hier will ich sein. Dann habe ich mich entschlossen, Jesuit zu werden, und wurde später Professor an eben dieser Hochschule. Ausgangspunkt waren auch hier intensive Begegnungen.

Haben Sie heute noch eine Bindung zu Fulda?
Definitiv. Sobald ich in Fulda bin, wird‘s mir warm ums Herz – außer vielleicht, wenn ich an die Schule denke. Das schreiben wir jetzt aber nicht, zur Schule habe ich immer noch ein etwas zwiespältiges Verhältnis. Das war menschlich nicht immer leicht für mich. Ich war wohl etwas schwer erziehbar [lacht]. Aber bei der Stadt selbst habe ich immer auch ein wehmütiges Gefühl. Wenn ich in Fulda bin, gehe ich immer auf den Frauenberg. Meine Eltern und meine viel zu früh verstorbene Schwester sind am Frauenberg beerdigt. Wenn ich am Grab war, gehe ich auch oben vor die Kirche und schaue runter. Da sehe ich mein Elternhaus, die Stadt mit dem Dom und den kleinen Fußballplatz von den Franziskanern, wo ich als Kind gekickt habe. Und man kann den Blick schweifen lassen bis in die Rhön. Da verdichtet sich alles an einem Ort, die ganze Kindheit und Jugend.

Das Gespräch führten
Hanno Henkel und Arnulf Müller

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