„Egoisten haben keine Zukunft“

Nirgends sonst im Land haben Menschen mit schwieriger Ausgangslage so gute Chancen auf Ausbildung und Beschäftigung wie in Fulda. Warum ist das so?

Ticken hier die Unternehmer anders? Wenn der Uffhäuser Maschinenbaufabrikant Paul Himmelmann mit schelmischem Lächeln und blitzenden Augen aus seinem Leben erzählt, beginnt man zu begreifen.

 

Herr Himmelmann, wie fing Ihr Berufsleben an?

Mit acht Jahren schon habe ich in der Landwirtschaft gearbeitet, weil mein Vater herzleidend war. Er bekam mit 21 Jahren Angina pectoris; beim Militär. Ursprünglich wollte er die Beamtenlaufbahn einschlagen, aber das funktionierte nicht. So hat er Maurer gelernt. Er war von den Brüdern der intelligenteste, sprach frühzeitig mehrere Sprachen, spielte Musikinstrumente und gründete in 1919 einen Gesangverein.

 

Ein Macher wie Sie?

Dinge zu unternehmen, das hat er mir mitgegeben. Er hat nicht gewartet auf irgendetwas. Er hat auch nicht gefragt: „Was bringt das? Was bringt die Zukunft?“ Er hat es gemacht, aber auch rechtzeitig korrigiert. Das muss man im Leben. Man darf sich nicht etwas vornehmen und es stur verfolgen. Dann läufst du gegen die Wand. 

 

Sie wurden dann aber kein Landwirt.

Mit 13 Jahren habe ich in den Gummiwerken Dreher gelernt. Ich wusste gar nicht, was das war.

 

Aber Sie hatten Vorkenntnisse im Schlosserhandwerk durch die Landwirtschaft, oder?

Ach was. Ich hatte keine Ahnung, war ein Dummkopf. Wenn man so etwas anfängt, muss man im gewissen Grad blöd sein. Wenn man schlau ist, macht man es nicht, weil man die vermeintlichen Risiken sieht. Deswegen werden die übermäßig Schlauen nichts. Die haben Angst.

 

Sie meinen die Bedenkenträger?

Ja, Bedenkenträger. In den Gummiwerken hatte ich später gute Bekannte bis hinauf zur Spitze. Ich war standhaft, konnte ein paar Bier trinken und auch einen Schnaps – da lernt man auch intelligente Leute kennen, mutige Leute. Die anderen, die montags drüber sprechen, taugen nichts. So ist das Leben. Ich hab ja kein Studium – ich hab das Leben studiert.

 

Wie lange arbeiteten Sie in den Gummiwerken?

25 Jahre.

 

Haben Sie sich da das Rüstzeug für Ihre spätere Selbstständigkeit angeeignet?

Ich war anscheinend gut, aber ich wusste es nicht.

 

Mit 37 Jahren entschieden Sie sich zur Selbständigkeit.

Ich habe mich langsam herangetastet. 1968 war ja eine unruhige Zeit, eine kriminelle Zeit eigentlich. Da machten sich viele lieber nicht selbständig.

 

Hatten Sie damals schon eine Drehbank im Keller?

Nein, ich habe mir alles in 1969 gekauft: Drehbank, Fräsmaschine, Bohrmaschine und eine Säge. Das kostete zirka 140.000 DM. Ich hatte aber nur 5000 DM. Ausgerechnet zu dieser Zeit bot mir ein Bekannter aus Müs ein Gelände in der Nähe von meinem Grundstück an. Das habe ich gekauft – da waren die 5000 auch noch weg. Da hat meine Frau ... oh je ... das dürfen wir nicht schreiben. Da war „stille Messe“.

 

Haben Sie sich selbst keine Sorgen gemacht?

Ich hatte einfach Vertrauen. Das kam durch die religiöse Prägung. Gottvertrauen. Ich war nicht mutlos. Kein Geld zu haben, hat mir nichts ausgemacht. Einige Tage später kam ein schwarzer Mercedes mit Fahrer vorgefahren. Meine Frau sagte: „Wer ist das denn?“ So ein schweres Auto gab es hier im Dorf ja nicht. Da stieg ein älterer Herr aus und sagte: „Ich habe gehört, ihr wollt Maschinen kaufen.“ Er kam aus Frankfurt und vertrieb Maschinen aus dem Osten. Ich sagte ihm, dass ich kein Geld habe. „Das macht nichts“, hat er geantwortet, „unterschreib einfach den Wechsel.“ Ich wusste ja gar nicht, was ein Wechsel ist. Aber diese Begegnung war eine richtige Fügung. Der Mann hat mir den Start ermöglicht. Das waren gute Maschinen aus Chemnitz. Sicher war das von der DDR gesteuert. Die waren daran interessiert, einen Fuß in unsere Wirtschaft zu bekommen.

 

Da haben Sie in 1969 alles auf eine Karte gesetzt. Hatten Sie schon Kunden?

Ach Quatsch! Aber es war die Zeit der Wegwerfgesellschaft. Es gab nur wenige Ersatzteile für teure Maschinen. Das war die Nische.

 

Wie haben Sie das erkannt?

In den Gummiwerken wurden Maschinen stillgelegt, weil ein Teil gefehlt hat. Ausländische Maschinen waren das. Von 1947 bis 1972 haben wir mit der Maßeinheit Zoll gearbeitet. Da waren wir gut drin. Für manche Hochstudierte war es ein Problem, das umzurechnen. Da hab ich mir gedacht: „Je mehr du lernst, desto dümmer wirst du.“ Praktisch musst du sein. Jeden Tag: praktisch. Den Tag einschätzen: Was will er von dir? So hab ich mir gesagt: „Das gibt es doch nicht, so ein Teil kann man doch nachmachen!“ Da habe ich es gemacht, und die Maschine lief. Irgendwann wurde es bemerkt. „Macht ihr Teile nach?“ Das war nicht erwünscht, die Maschinen sollten mit Originalersatzteilen aus dem Ausland bestückt werden, obwohl diese lange Lieferzeiten hatten.

 

Ihre Idee war also, Einzelanfertigungen von Ersatzteilen anzubieten. Aber ohne Aussicht auf Kunden war eine solche Investition enorm mutig.

Wie gesagt, das hat mir die Religion gegeben. Ohne Religion kann kein Mensch leben, egal was er denkt und glaubt. Die Religion gibt dir Zufriedenheit, die Ruhe, den Mut. Das kannst du abrufen. Sonst bist du ein Blatt im Wind, das gleich umgeweht wird.

 

Wie kam es zum ersten Auftrag?

Irgendwann erzählte ein Freund, dass die Dura jemanden sucht, der auf schnellstem Weg Teile anfertigt. Ich wurde zum Gespräch eingeladen, stand aber in Konkurrenz zu einer anderen Firma. Da habe ich mir den nötigen Stundenlohn ausgerechnet und konnte das Teile-Set deutlich billiger anbieten.

In der Anfangszeit habe ich jeden Tag Revision gemacht. Das kam von der katholischen Jugend her: Was hast du Mensch heute angestellt? Einkehr gehalten, die Summe überprüft. Anfangs war die Bilanz oft negativ. Als ich dann manche Sachen verändert hatte, war der Lohn ausreichend. Irgendwann kam mir trotz der fünf Kinder der Gedanke: „Jetzt kannst du zuhause bleiben!“ Das habe ich aber noch zwei Jahre hinausgezogen, weil ich mein 25-jähriges Betriebsjubiläum feiern wollte.

 

Perfekt in den Betrieb eingegliedert: Torsten Höppner

Perfekt in den Betrieb eingegliedert: Torsten Höppner

 

1972 ging es richtig los.

Da hatte ich für die Dura gleich einen Auftrag für sehr große Teile angenommen, obwohl ich gar keine Drehbank dafür hatte. Ich habe einfach gesagt: „Ich kann das machen.“ So bekam ich den Auftrag ohne passende Maschine. Ich habe dann eine kleinere so umgebaut, dass die langen Teile bearbeitet werden konnten. 

 

Da haben Sie einfach gepokert?

Wenn man das Gesicht dazu hat! Würde heute keiner mehr machen. Man darf nicht stehenbleiben. Es ist verführerisch, wenn man stehenbleibt. Man denkt, alles im Griff zu haben, und dann setzt es oben aus. Lieber etwas mit Risiko machen. Und: Mensch bleiben. Das ist wichtig.

 

Apropos: Über Rainer Sippel hörten Sie Ende der Neunziger vom geplanten Projekt, Jugendliche mit Handicaps oder Lernschwierigkeiten in reguläre Arbeitsverhältnisse  zu bringen. Sie waren gleich dabei und wurden Gründungsgesellschafter bei Perspektiva. Weshalb?

In der katholischen Jugend in Großenlüder war ich früher Gruppenführer von 12-14-Jährigen. Da lernst du allerhand Spitzbubereien – das kannst du dir gar nicht ausdenken, was die alles veranstalten. Aber dort habe ich auch gelernt, dass man aus jedem Menschen etwas machen kann. In jungen Jahren schon. Und während meiner Zeit als Ortsbrandmeister habe ich eine Jugendfeuerwehr, auch eine Damenfeuerwehr gegründet. Bei alledem konnte ich sehen, wie sich Jugendliche entwickeln. Du musst dir überlegen: „Wo kann ich den Mann oder die Frau hinstellen, damit sie zufrieden sind.“ Dann wächst das. Das ist kein Schnellschuss.

 

Haben Sie deshalb Ihren Lehrlingen immer einen Vertrauensvorschuss gegeben?

Unbedingt. Es gab auch Enttäuschungen, aber das gehört dazu. Bei einem Jugendlichen hat die Oma unterschrieben, dass er in der Berufsschule war. Er ist daheim fortgegangen und hat sich das Brot schmieren lassen, hat dann aber in Fulda am Bahnhof herumgesessen. Die Oma hat es nicht gemerkt, aber ich. Weil ich die Spitzbuberei der jungen Leute kannte. Von einem Dummkopf kannst du mehr lernen als von einem Schlauen. Der ist raffinierter, weil der sich durchmogeln muss. Ja, das ist so.

 

Irgendwann wurde Ihr Perspektiva-Engagement konkret: Sie haben einem Jugendlichen eine Chance in Ihrem Betrieb gegeben.

Dazu hatten wir uns verpflichtet.

 

Perspektiva

Bundesweite Aufmerksamkeit: BORHMA Maschinenbau gewinnt den „Inklusionspreis der Wirtschaft 2016“.
V. l. Armin von Buttlar (Aktion Mensch), Michael Brand (MdB), Paul Himmelmann, Martin Himmelmann,
Florian Witzel (Produktionsleiter BOHRMA) und Rainer Sippel.

 

War es eine Erfolgsgeschichte?

Das ist noch eine! Zwölf Jahre ist er jetzt in unserer Firma. Die ersten zwei Jahre wurde er von Perspektiva begleitet. Da sah man schon, das wird was! Jetzt ist er zehn Jahre versicherungspflichtig bei uns beschäftigt. Ohne Mindestlohnthema! Er hatte eine tragische Familiengeschichte, aber die Arbeit hat drüber hinweggeholfen. Du kannst alles meistern.

 

Haben Sie sich auch persönlich um ihn gekümmert?

Das ist eine Fingerspitzengefühlssache. Das dürfen die Menschen nicht merken. Wenn sie es merken, greifen sie immer mehr zu und machen immer weniger aus eigener Initiative. Da muss man auch Distanz aufbauen. Das ist auch bei Kindern so: Wenn du ihnen alles reinstopfst, wird es nichts.

 

Sie haben dann auch Ihre Familie für Perspektiva begeistert. 

Als mein Sohn Martin in 2006 die Firma BOHRMA in Fulda gegründet hat, wurden viele Leute gebraucht. Das ist ein Industriebetrieb, der zweischichtig läuft. Die Abläufe sind überschaubarer und strukturierter. Da können Menschen mit Behinderung sich besser entwickeln. Der Betrieb liegt auch verkehrsgünstiger. Bei der BOHRMA arbeiten heute viele, die von Perspektiva und Fulda Futur kommen. 13,5 % der Mitarbeiter haben eine Behinderung – aber das ist kein Hindernis. Überhaupt nicht. Unsere Einstellung war immer: „Wenn wir es nicht machen, wer sonst?“ Auch meine Tochter Maria ist auf der gleichen Linie. Da bin ich stolz drauf.

 

Wurden die Menschen bei der BOHRMA wegen der Personalnot eingestellt?

Nein. Man muss das Menschliche sehen! Ich weiß nicht, ob es gesund ist, wenn man unter Druck plötzlich zugreift. Das geht nicht gut. Bei uns ist es so: Der eine wird alt, kommt in eine Behinderung rein und wird trotzdem behalten. Und Perspektiva ist eben die andere Sache. Eigentlich ist ein solches Verhalten das Normale. Man kann auch mit schwächeren Leuten gut zusammenarbeiten! Wir müssen ja auch zusammen leben. Das ganze Volk. Es ist eine Katastrophe, wenn das nicht funktioniert. Egoisten haben wir genug. Aber die laufen sich tot. Das hat keine Zukunft.

 

Liegt die Zukunft in der Kooperation?

Ja, aber wir sind noch meilenweit davon entfernt, das zu kapieren. Das muss wachsen. Da ist es gut, wenn man auch mal unter Druck gerät, das schult das Wachsein, das Aufpassen. Und ein Stück Dankbarkeit ist auch angebracht. Uns geht es gut, da können wir etwas abgeben. Ein Volk lebt davon, dass sich jeder ein wenig um den anderen kümmert und aufpasst. Das muss nicht massiv sein. Wichtig ist, dass man geerdet ist. Wenn du den ganzen Tag jammerst, das braucht kein Mensch.

 

Anfang des Jahres hat die BOHRMA neben Firmen wie Audi und dem Waldklinikum Gera den Inklusionspreis der Wirtschaft erhalten. Das ist nicht irgendein Preis, das ist Bundesliga. Damit wurde zugleich die ganze heimische Unternehmerschaft geadelt.

Wir sind stolz, dass der Preis nach Fulda gekommen ist. Das ist ideal für die Region. Damit hatte keiner gerechnet. Ich bin ja auch so ein Herdentier und stolz darauf, dass ich in der Region wirken und arbeiten kann. Hier gibt es ein gutes Mit- und Füreinander, sowohl die Unternehmer untereinander als auch mit der Politik. Es sind viele Familienbetriebe, überall stehen Menschen dahinter. Das gibt einem Halt. Einer allein – da bist du ein Knallkopf. Das wird nichts. Das ist auch im Leben so. Und ich bin stolz, dass es in unserer Region Perspektiva gibt und wir dort mitmachen können. Am Anfang gab es viele negative Stimmen. Egal, was man anfängt, es wird zerrissen. Aber da machen wir nicht mit!

 

Ihre Hobbys sind Obstbäume und Damwild. Die Naturliebe passt eigentlich nicht so zu einem Metaller.

Die passt zu jedem Menschen. Wenn einer mit der Natur nicht umgehen kann, kannst du ihn in der Pfeife rauchen. Ich habe 150 Obstbäume. Das Obst wird gegessen und es wird  zu Saft gemacht. Für das Damwild brauche ich auch etwas.

 

Was passiert mit dem Damwild, wenn es gut gefüttert ist?

Wird’s gekillt. Landwirtschaft ist so.

 

Fühlen sie sich mehr als Rhöner oder mehr als
Vogelsberger?

Wir fühlen uns als Fuldaer. Wir fühlen uns frei.

 

Das Gespräch führten Michael Becker und Arnulf Müller

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