„Eigene vier Wände wären toll - wie sie aussehen, ist egal“
Als Obdachloser ohne Wohnung leben müssen
Es regnet, als Marcus Höckendorf auf den Platz zwischen Weimarer Tunnel und Wertstoffhof kommt, aber das macht ihm wenig aus. Mit Papier aus der öffentlichen Toilette wischt er eine Bank trocken und setzt sich hin. Wie viele Stunden er bei Regen oder Sonnenschein schon hier am Rande der Innenstadt verbracht hat, weiß er selbst nicht. Es waren viele. Der 37-Jährige ist einer von Fuldas Wohnungslosen. Eigene vier Wände, die er sich nach seinen bescheidenen Wünschen einrichten kann, suchte er in den vergangenen Jahren vergebens.
Die Wohnung müsste nicht besonders groß sein. Auch die Möbel, die darin stehen würden, müssten nicht die schönsten oder sehr ausgefallen sein. Ein Bett, eine Couch und ein Schrank würden ihm reichen. Ende 2019 ist der heute 37-Jährige nach Fulda gekommen und hier hängengeblieben. „Im Moment gefällt‘s mir“, sagt er. Dabei waren die vergangenen zwei Jahre alles andere als schön, könnte man meinen, denn Höckendorf hat die meiste Zeit davon auf der Straße verbracht. Nachts legte er sich manchmal im Vorraum einer Bank oder in einer Tiefgarage schlafen – oder eben draußen, je nach Wetter. Für kurze Zeit kam er in einer WG unter – aber das sei nichts für ihn gewesen, sagt er. Dann lieber zurück auf die Straße.„Vom warmen, molligen Bett auf den harten Asphalt. Aber das kann sich ja jeder selbst aussuchen.“ Seit ein paar Monaten hat Höckendorf nun als Zwischenlösung ein Zimmer in der Einrichtung Haus Jakobsbrunnen. Doch das ist nicht die eigene Wohnung, für die der Mann mit den traurigen Augen fast täglich Zeitungen und das Internet durchsucht. Immerhin hat er so die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, wenn ihm mal wieder alles zu viel wird. „Und es ist besser als auf der Straße!“, sagt Höckendorf. Als er noch jede Nacht auf Bänken oder hartem Asphalt verbrachte, verkroch er sich nur selten ohne Messer in seinem Schlafsack. Jetzt kann er die Tür zu seinem kleinen Reich bei der Wohnungslosenhilfe schließen. Für das Zimmer und die dazugehörende Betreuung muss der 37-Jährige von seiner Regelleistung, also den 446 Euro, die er vom Jobcenter erhält, einen Eigenanteil von circa 110 Euro zuzahlen. Das Zimmer ist ausgestattet mit Schrank, Bett, einem Tisch mit zwei Stühlen und einer kleinen Singleküche. Freunde hierher einladen darf Höckendorf zurzeit nicht, auch wenn er es gern würde. Die Corona-Krise hat auch oder besser vor allem Obdachlosen zugesetzt: Während der Ausgangssperre schlugen ihre Herzen nach 21 Uhr immer ein bisschen schneller, wenn ein Polizeiauto vorüberfuhr. Zum Glück haben die Beamten ein Auge zugedrückt.
Während Höckendorf davon erzählt, winkt er dem Wart der öffentlichen Toiletten zu. Auf der Straße kennt man sich. Hier lebe und treffe sich die untere Gesellschaftsschicht, sagt der 37-Jährige selbst. Dass er dazugehört, schreibt er sich selbst zu. „Jeder ist für sein eigenes Leben verantwortlich“. Deswegen wolle er auch nicht bloß andere nach einer Wohnung für ihn suchen lassen, sondern es auch selbst in die Hand nehmen, damit er seine Freunde von der Straße auch mal zu sich nach Hause einladen kann – und damit er immer seine Ruhe hat, wenn ihm danach ist. „Es wäre schön, wenn ich meine Wohnung mit niemandem teilen müsste.“ Damit sie für ihn in Frage kommt, darf sie nicht groß sein. 50 Quadratmeter sind das Höchstmaß, damit das Jobcenter die Miete zahlt. Und die darf nicht hoch sein: 330 Euro kalt sind das Maximum.
Momentan lebt Höckendorf von jenen 446 Euro vom Jobcenter, das ihm zusätzlich auch besagte Miete zahlen würde. Dazu verdient er noch etwa 120 Euro mit einem Ein-Euro-Job. An eine Wohnung hat der 37-Jährige keine hohen Ansprüche. Im Gegenteil: Er ist sehr genügsam. Eine Tür, die er hinter sich zumachen kann, das ist das Wichtigste. Ob die Couch, die darin stehen würde, aus Leder oder aus Stoff ist und welche Farbe die Wände haben, ist ihm egal. „Von mir aus kann sie auch außerhalb sein“, sagt Höckendorf und zeigt auf sein Fahrrad. „Damit bin ich schnell überall.“ Einzig der Fernseher, den er vor einiger Zeit von einem Bekannten günstig erstanden hat, ist ihm wichtig. „Man weiß sich zu helfen“, sagt der gebürtige Brandenburger und grinst. „Es ist schon schön, wenn man ab und zu mal einen Film gucken kann.“ Und ein eigenes Bad ist ihm wichtig. „Das ist auf der Straße immer ein Problem. Während Corona waren sogar die öffentlichen Toiletten abgeschlossen.“
Trotz Höckendorfs niedrigen Ansprüchen: So eine kleine Wohnung zu finden, ist nicht leicht. „Entweder sind die Wohnungen zu groß oder zu teuer“, sagt Torsten Hammer, Bereichsleiter bei der Wohnungslosenhilfe der Caritas. „Der Wohnungsmarkt ist in Fulda gerade sehr schwierig, vor allem, was die kleinen Wohnungen angeht.“ Natürlich wollen die Vermieter lieber Leute in ihrer Wohnung haben, die ein festes Gehalt beziehen oder wie die meisten Studenten durch ihre Eltern abgesichert sind. Aber Höckendorf will nicht aufgeben. Wieder betont er, wie wichtig es für ihn sei, dass er sich zurückziehen kann. „Vor allem nachts will ich meine Ruhe.“ Nach Jahren auf der Straße sind seine Ansprüche gewaltig geschrumpft. „Ich habe eigentlich keinen Bedarf, mich groß einzurichten. Alles, was ich möchte, ist eine ganz normale Einrichtung, wie sie jeder hat.“ Höckendorf spricht auffallend langsam, er wirkt bedrückt, aber nicht resigniert. Unter seinen Bekannten gibt es auch Menschen, die lieber auf der Straße wohnen, als sich um einen trockenen Schlafplatz zu bemühen. Warum das so ist, weiß er nicht. Und verstehen kann er es auch nicht. Vielleicht ist es die Freiheit, die sie schätzen. Falls es doch mit einer kleinen Wohnung klappen sollte, würde er sofort seine Sachen im Haus Jakobsbrunnen zusammenpacken und sich nach günstigen Möbeln umschauen. Viel ist es ohnehin nicht, das er mitnehmen könnte. Das meiste seiner Habseligkeiten sind Klamotten – die meisten davon sind dunkel. Hauptsache, Höckendorf hat seine eigenen vier Wände. Und eine Tür, die er hinter sich schließen kann.