Eine Kultur ist kein Museumsstück

Von Katrin Schulte-Lohmöller, Fotos: Marzena Seidel

Der größte Luxus von Claude Cendre ist es, die freie Wahl zu haben. Selber zu entscheiden, in welchem Land er wohnt und wie er lebt. Geprägt von seiner eigenen Kindheit strebt er nach einer Welt ohne Grenzen und Ablehnung gegenüber anderen Kulturen. Im Interview spricht der Fuldaer Reiseleiter über sein Verständnis von Heimat und warum er sich als Europäer sieht.

 

Wir leben in einer Zeit, die historisch einmalig ist. Zum ersten Mal in der Geschichte Westeuropas gibt es einen solch langen Zeitraum des Friedens. „Doch viele Menschen scheinen sich diesem wertvollen Zustand nicht bewusst zu sein“, konstatiert Claude Cendre. „Darüber hinaus vergessen viele Europäer zunehmend, wie wichtig unsere Unterstützung für Hilfesuchende aus Kriegsgebieten ist.“ Der 56-Jährige blickt selbst auf eine bewegte Kindheit und Jugend zurück, die sein Denken nachhaltig geprägt haben. Geboren wurde er in Algerien, einer ehemaligen französischen Kolonie in Afrika. Aufgrund des Algerienkrieges waren seine Eltern gezwungen, das Land zu verlassen. Der Kosmopolit, wie er sich selbst bezeichnet, war vier Monate alt, als seine Eltern und seine Geschwister nach Frankreich flohen. 

„Diese Flucht war bei meinen Eltern immer präsent. Lediglich mit zwei Koffern ist meine Familie damals in Paris angekommen. Wir mussten uns alles neu aufbauen“, erzählt der Wahl-Fuldaer. Sein Vater arbeitete als Architekt und realisierte große Bauprojekte. „Für die Aufträge meines Vaters sind wir insgesamt 25-mal umgezogen. An neuen Orten von vorne anzufangen, wurde mir quasi in die Wiege gelegt.“ Es sei schon eine große Herausforderung für ein Kind, so oft umzuziehen. Hinzu kam noch seine Herkunft – in Algerien geboren und in Frankreich aufgewachsen. Dementsprechend früh wurde Cendre mit dem Thema Fremdheit konfrontiert. Rückblickend könne er aber eines festhalten: Nicht er selbst habe sich fremd gefühlt, vielmehr wurde ihm immer nur von außen das Gefühl gegeben, fremd zu sein. 

Sein sicherer Rückzugsort waren für Cendre stets die Bücher aus der Bibliothek seiner Eltern. Dort tauchte er in die Klassiker der Weltliteratur ein. „Bücher sind Welten, in denen ich gelebt habe. Sie sind für mich Heimat, Freunde und Familie zugleich.“ Gerade durch seine persönlichen Erfahrungen gaben ihm Bücher immer Sicherheit. „Für mich ist es so, als wenn der Anfang meiner Lebensgeschichte fehlt. Ich bin in Frankreich aufgewachsen, doch ich konnte niemals zurück zu dem Ort, an dem ich geboren wurde.“ In seinen Büchern fand er nicht nur Halt, sie haben ihm auch die Kulturen zahlreicher Länder nähergebracht. Insbesondere die großen deutschen Literaten wie Hermann Hesse oder Thomas Mann begeisterten ihn von Anfang an. 

Nach seiner Schulzeit folgte Cendre seiner Leidenschaft für Kunst und Kultur und studierte in Paris Kunstgeschichte. Als Kunsthistoriker arbeitete er anschließend für ein Jahr in einem Museum in Kopenhagen. „Mein Leben ist sehr von meiner Neugier geleitet. Ich finde es wichtig, offen für Neues zu sein.“ Und so begann der junge Kunsthistoriker nach einer zufälligen Begegnung mit einem Westberliner einen neuen Lebensabschnitt. „Ich besuchte meinen Bekannten aus Westberlin. Schnell war für mich klar, dass ich diese Stadt näher kennenlernen und zumindest für eine kurze Zeit dort leben will.“ Er suchte sich eine Arbeitsstelle in der Gastronomie und aus einem kurzen Kennenlernen der Stadt wurden insgesamt elf Jahre.

In der Wohnung von Claude Cendre findet sich ein Sammelsurium aus Accessoires vieler Kulturen

 

„Deutsch war meine erste Fremdsprache. Mit Französisch und Englisch bin ich aufgewachsen.“ Die Sprache sei für das Einleben in einem neuen Land sehr wichtig. „Das ist eigentlich ganz einfach: Ohne Sprache gibt es keine Kommunikation.“ Er habe sich schnell in Deutschland wohlgefühlt. Bereits nach einem Jahr dachte und träumte er schon in der deutschen Sprache. Und auch die Kultur war ihm aus der Literatur sehr vertraut. „Da kam es mir zugute, dass ich bereits als Jugendlicher Hesse und Mann gelesen habe. Ich finde, Literatur ist eine hervorragende Möglichkeit, die Kultur eines Landes kennenzulernen. Denn wenn ich die Kultur eines Landes kenne, also die Kunst, Literatur, Musik und auch das Essen, kann ich mich dementsprechend integrieren. Das war meine Art, mich in Deutschland einzuleben.“ 

 

„Kultur“ ist für Cendre ein zentraler Begriff. „Sie ist identitätsstiftend. Fühle ich mich in der Kultur eines Landes wohl, ist es meine Heimat.“ Dabei ist Heimat für ihn kein geografischer Ort. Die meisten Menschen würden ihre Heimat an irgendwelchen Ländergrenzen ausmachen. Doch für Cendre sei Heimat etwas Soziales. „Heimatgefühle kommen bei mir an vielen Orten auf – Berlin, Fulda, Frankreich. Meine Heimat ist dort, wo die Menschen sind, die ich liebe, wo ich emotional mit etwas verbunden bin. Das sind Personen, Musik, Kunst oder Literatur. Und auch Erinnerungen sind ein Heimatgefühl.“ So fühle er sich beispielsweise mit Ägypten verbunden, weil es ihn an seinen Vater erinnere. Als kleines Kind habe ihn sein Vater immer mit in das französische Kunstmuseum Louvre in Paris genommen, um sich gemeinsam die Abteilung für ägyptische Altertümer anzuschauen. 

„Heimat ist für mich, womit sich mein Herz verbunden hat.“ Aus diesem Grund fühle sich Cendre auch keinem speziellen Land zugehörig. Vielmehr definiere er sich als Europäer. Natürlich sei er von Frankreich und Deutschland geprägt, doch ihn mache viel mehr aus als ein einzelnes Land. „Die Freiheit, die wir Europäer haben, ist unser großes Glück. Denn wir können uns aussuchen, in welchem Land wir leben und arbeiten möchten. Das ist mein persönlicher Luxus: Die Wahl haben.“ Europäer zu sein, hat Cendre zufolge noch einen weiteren Vorteil. „Durch meine vielen Reisen und Wohnorte konnte ich viele unterschiedliche Kulturen kennenlernen. Wenn mir etwas gut gefällt, integriere ich es einfach in mein Leben. So stelle ich mir meine eigene Kultur her, die perfekt zu mir passt. Das ist meiner Meinung nach eine natürliche Entwicklung. Denn Kultur ist etwas Lebendiges und kein starres Museumsstück, das sich im Laufe der Zeit nie wieder verändert. Neue Einflüsse sind eine Bereicherung für jedes Land. Gerade Menschen, die Angst vor anderen kulturellen Einflüssen haben, kann ich nur sagen, dass Kultur niemals ersetzt wird. Sie wird erweitert.“ 

Während seiner Arbeit in Berlin lernte der Kosmopolit seinen heutigen Ehemann kennen. Auch dabei hatte der Zufall die Weichen für einen neuen Lebensabschnitt gelegt. „Mein Mann kommt gebürtig aus Fulda und hat in Berlin Urlaub gemacht. Zufällig ist er in das Restaurant gegangen, in dem ich gearbeitet habe“, beschreibt Cendre ihr erstes Treffen. „Wir haben uns verliebt und ich bin zu ihm nach Fulda gezogen. Das war vor 25 Jahren.“ Ihre Wohnung erinnert an die vielen gemeinsamen Reisen. „Die zahlreichen Andenken aus unterschiedlichen Ländern wie Indien, China, Thailand, Tunesien oder Griechenland machen unsere Wohnung lebendig. Diese Andenken erzählen unsere Geschichte mit dem jeweiligen Land. Es sind doch genau diese Geschichten und Erinnerungen, die das Leben bereichern.“

Sein Hobby, das Reisen, hat Cendre zum Beruf gemacht. Als Reiseleiter in einem regionalen Reiseunternehmen begleitet er Reisegruppen auf geplanten Touren. Ganz nach seinem Geschmack gehen die Reisen vom Nordkap bis nach Südafrika. „Eigentlich ist es mehr als mein Beruf. Es ist meine Berufung. Durch meine Arbeit kann ich Menschen meine Begeisterung für andere Länder weitergeben.“ Dabei ist es ihm besonders wichtig, seinen Kunden die Kultur und die Menschen des jeweiligen Landes näherzubringen. „Sobald man eine fremde Person kennenlernt, ist sie nicht mehr fremd.“ Getreu diesem Motto setzt der Reiseleiter auf persönliche Begegnungen. „Erstmal kann man festhalten, dass jeder der Ausländer für jemand anderen ist. Doch das kann man spielend leicht ändern. Lachen ist zum Beispiel der beste Weg, um eine gemeinsame Verbindung zu schaffen.“ Am meisten freue er sich, wenn seine Kunden nach einer Reise die Fremdheit gegenüber dem bereisten Land abgelegt hätten und diese Erfahrung auch mit in den Alltag nähmen. Denn eines gelte nicht nur für Reisen, so Cendre. „Wir sollten bei anderen Menschen nicht nach dem suchen, was uns trennt. Wir sollten immer danach suchen, was uns verbindet.“

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