Eingelebt?

von Anna-Pia Kerber

Welcome to Germany! Und dann? Wir haben Menschen befragt, die aus unterschiedlichen Gründen ihr Heimatland verlassen und einen Neustart in Deutschland gewagt haben. Was haben sie erwartet? Wie ist es Ihnen ergangen? Und wie deutsch sind sie inzwischen selbst? Drei unterschiedliche Geschichten, drei unterschiedliche Antworten.

 

"Die alte Heimat gibt es gar nicht mehr"

Mein Grund für die Ausreise? Ich wollte anderen Menschen richtig helfen können“, sagt Alexander Bachow. Denn das wurde zunehmend schwierig in Moldawien, wo er als Notarzt arbeitete. „Selbst um eine einfache Mullbinde zu bekommen, musste ich eine Erlaubnis einholen.“ Auch wenn der Patient beispielsweise das Opfer einer Messerstecherei war, bekam er nicht immer die notwendigen Hilfsmittel. Ein unhaltbarer Zustand für jemanden, der unablässig Gutes tun will.

Bachow ist nicht nur ein fähiger Arzt, sondern auch ein guter Beobachter mit feinsinnigem Humor. In Russland geboren wuchs er in der Ukraine auf und studierte in Moldawien. Vor 25 Jahren kam er nach Deutschland, wo er zunächst als Gastarzt in der Abteilung für Innere Medizin beschäftigt war. Die deutsche Sprache lernte er innerhalb eines halben Jahres. „Das war für mich Ehrensache.“ Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, reiste er gemeinsam mit seiner damaligen Frau ein, ebenfalls eine Ärztin. „Ich war hoffnungsvoll – und sie guter Hoffnung“, erzählt er mit einem Lächeln. „Deutschland und Russland waren immer eng verbunden – für uns war das kein Kulturschock.“ 

Anfangs lebte die junge Familie in einem Übergangsheim in einem kleinen Zimmer. Während des Anpassungsjahres erhielt Bachow kein Gehalt, sondern lebte von der Sozialhilfe – trotz Ganztagsstelle im Krankenhaus. Um Reichtum ist es ihm bei seiner Arbeit allerdings auch nie gegangen. „Wir brauchen keine Götter in weißen Kitteln“, bemängelt er das Gesundheitssystem. „Und wir brauchen keine Klassengesellschaft, in der zwischen Privat- und Kassenpatienten unterschieden wird.“ 

Überhaupt mag er das Wort „Patienten“ nicht. Für ihn zählt immer der Mensch – nicht die Krankheit. Sein ganzheitlicher Ansatz umfasst auch Ernährung, Energetik und Pflanzenheilkunde. Für ihn gibt es einen zwingenden Zusammenhang zwischen den Lebensumständen eines Menschen und seiner Gesundheit. Daher habe es schwere Auswirkungen, wenn ein Mensch seiner Heimat beraubt werde. „Ich behandelte eine Frau aus Kirgisien, die unter einer Art epileptischen Anfällen litt. Die Auswanderung hatte sie nie ganz überwunden. Erst, als es ihr gelungen war, nach einer energetischen Behandlung wieder Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen, ließen die Anfälle nach.“

Auch innere Zerrissenheit könne zu körperlichen Leiden führen. Solche Beobachtungen führten Bachow über die klassische Schulmedizin hinaus. In all den Jahren hat er viele Erfahrungen gesammelt und ist inzwischen selbständiger Ernährungs- und Gesundheitsberater.  Für ihn bedeutet Heimat ein Zustand des Wohlbefindens – und zwar nicht zwingend abhängig vom Ort. Zum Glück wurde seine eigene Familie nicht zerrissen. „Unsere Eltern kamen später nach, inklusive Hund.“ Doch was ist mit der alten Heimat? „Die gibt es doch gar nicht mehr. Der Staat ist zerfallen, Ideen und Ideale haben sich verändert.“ Über Russland sagt er: „Die Menschen haben noch nicht gelernt, mit der neuen Freiheit umzugehen. Nach so vielen Jahren der Indoktrinierung braucht es Zeit. Und den Mut, selbständig zu denken. Früher war das gefährlich.“

Bachow hat sechs Kinder. Gerne würde er ihnen einmal die Ukraine zeigen, doch im Augenblick ist das zu gefährlich. Wenn sie Fragen zu ihren Wurzeln haben, versucht er, so gut wie möglich zu antworten. Doch über sich selbst sagt er: „Ich habe gar nicht das Recht, mich Russe zu nennen. Ich habe all die Veränderungen nicht miterlebt, hatte stattdessen hier ein gutes Leben.“ Ein gutes, arbeitsreiches Leben. 

Herr Bachow hat eine versöhnliche Sicht auf die Dinge. „Die Deutschen scheinen immer eine Art Grundschuld mit sich herumzutragen. Aber das brauchen sie nicht. Es ist richtig, sich an das zu erinnern, was war – aber die neue Generation braucht sich nicht die Schulden der älteren aufzuladen.“  Was er seinen Patienten rät: „In unserem Körper wohnt ein Arzt. Er nimmt kein Honorar und weiß immer, was zu tun ist.“  Was so einfach klingt, das weiß Bachow am besten, ist am Ende die schwierigste aller Aufgaben. „Suche die Antworten in dir selbst. Wegschauen ist einfach – aber man muss wagen, sich selbst anzusehen.

 

"Du bist in den Augen der anderen erst mal schuldig"

Wie wollen wir Deutschen sein? Weltoffen? Fortschrittlich? Leistungsorientiert? Faeiz Awabh aus Somalia hat viele Gesichter der Deutschen kennengelernt. Und jedes davon hat ihn beeinflusst – mal auf positive, mal auf negative Weise. „Als Land hat sich Deutschland sehr bemüht, Flüchtlinge aufzunehmen. Aber die Kultur war nicht darauf vorbereitet“, sagt er. Awabh floh vor dem Bürgerkrieg in Somalia, lebte zunächst in den Niederlanden und kam 2013 nach Deutschland. In den Niederlanden arbeitete er als Tanzlehrer für Kinder. Dort fühlte er sich akzeptiert und aufgenommen und wäre gern geblieben, doch aufgrund fehlender staatlicher Förderung kam er auf Empfehlung nach Deutschland. Auch hier wollte er sich sofort einbringen und eine Arbeit finden, doch der Weg zum Job gestaltete sich steinig.

Wie er den Unterschied zwischen Deutschen und Holländern empfindet? „In Holland sind die Menschen freundlich, aber wenig hilfsbereit. In Deutschland sind die Menschen hilfsbereit, aber wenig freundlich.“ Eine Erfahrung, die die meisten Ausländer machen: Zunächst sind die Deutschen schwer zugänglich, doch wenn sie ihr Wort geben, kann man sich darauf verlassen. 

Schwierig wird es, wenn sie einem Fremden weniger zutrauen. Für Awabh gab es nur wenige Jobangebote, und diese ausschließlich als Lagerarbeiter. Seine Talente hat bisher noch niemand entdeckt. Er bedauert, noch keinen Menschen anderer Hautfarbe in leitender Position gesehen zu haben. Und er wünscht sich, dass Menschen aus Somalia hier zusammenfinden. „Was mir fehlt, ist eine Gemeinschaft. Menschen aus Somalia könnten hier ihre Talente einbringen – als Friseure Haare flechten oder Kunst ausüben. Stattdessen bekommt man höchstens einen Job im Lager.“

Angenommen hat auch er diese Jobs – bei Tegut, Amazon und einem Tierfutterproduzenten. Sein Ehrgeiz im Verkauf kam allerdings nicht bei allen Kollegen gut an. „Ich musste mir viel anhören, habe aber nichts dazu gesagt.“ Herablassende Kommentare über sein Heimatland und über seinen Kleidungsstil gehörten zum Arbeitsalltag, auch wenn er sich bei allen Tätigkeiten doppelt so sehr anstrengte. Bei Tegut wusste vor allem sein Chef seine Arbeit zu schätzen. Dieser wollte seinen Mitarbeiter vor der Diskriminierung seiner Kollegen in Schutz nehmen, doch dadurch wurde die Situation noch schlimmer. 

Faeiz Awabh sieht den Grund dafür in der mangelnden Vorbereitung. Besonders für die kommenden Generationen wünscht er sich interkulturellen Unterricht. Wer schon in jungen Jahren lernt, dass Menschen eben verschieden aussehen, anders reden und leben, der hat keine Angst mehr vor Fremden. 

Nach einem Unfall und einer langwierigen Krankheitsgeschichte kann er inzwischen nicht mehr jede Stelle annehmen und ist deshalb noch immer auf der Suche nach Arbeit. Zu seiner Familie in Somalia hat er keinen Kontakt mehr. Die Eltern kann er nicht erreichen, weil es in seinem Dorf weder Telefon noch Computer gibt.  

 

    Faeiz Abwabh

 

Was er an seinem Heimatland vermisst, ist die Offenheit und Liebenswürdigkeit der Menschen. „Dort entstehen Freundschaften ganz natürlich. Hier muss man dafür arbeiten – du musst dir eine Freundschaft erst verdienen.“ Verdienen muss er sich vor allem das Vertrauen der Menschen. 

„Du bist in den Augen der anderen erst mal schuldig– bis du deine Unschuld bewiesen hast". Sei es gegenüber der Busnachbarin, die ängstlich ihre Handtasche umklammert, oder gegenüber dem Kaufhausdetektiv, der Awabh grundlos durchsucht hat.

Anschluss zu finden fällt ihm immer schwerer, seit er diese Erfahrungen gemacht hat. Er musste merken, dass es nicht ausreicht, offen und freundlich zu sein. Er muss sich beweisen – immer und immer wieder.

 

 

"Man muss auf die Leute zugehen"

Eingelebt? Schon lange.Als ich nach Deutschland kam, war ich jung. Ich hatte keine Probleme.“ Keine Probleme, sich anzupassen, keine Probleme, akzeptiert zu werden. Das glaubt man Sehiza alias Lisa sofort. Der geselligen Gastwirtin gehört die Gaststätte Lisa’s Welt in Wüstensachsen, und in diesem Jahr feiert sie ihr 40-jähriges Jubiläum. 40 Jahre in Deutschland: Das bedeutet viele Veränderungen und viel harte Arbeit. Und für Lisa bedeutet es Erfolg – sowohl beruflich als auch privat. „Ich fühle mich sehr wohl hier, das ist meine Heimat. Meine Gaststätte läuft gut, die Gäste kommen immer wieder gerne.“ Die Gäste schätzen den Mix aus deutscher und Balkanküche – angerichtet mit frischen, regionalen Zutaten und Forellen aus dem Ort, die „fast zu uns schwimmen könnten!“

Ganz allein hat die damals 18-Jährige den Schritt aus Bosnien und Herzegowina in die neue Heimat gemacht. „Meinem Vater gefiel mein Plan überhaupt nicht. Als ich ging, wollte er sich nicht verabschieden – er stand in der Ecke des Zimmers und hat geweint.“ Während ihrer ersten Jahre in Deutschland machte er sich große Sorgen um sie, weil sie ohne Pausen in der Gastronomie arbeitete und Tag und Nacht auf den Beinen war. Irgendwann wagte sie den Schritt in die Selbständigkeit – und das mit Erfolg. Erst, als Lisa selbst Kinder bekam, machte sie eine Pause vom Gaststättengewerbe. „Ich wollte nicht, dass meine Kinder in diesem Umfeld aufwachsen.“ Als die Kinder älter waren, machte sie sich erneut selbstständig – dieses Mal gemeinsam mit ihrem Mann in der Rhön. „In all den Jahren bin ich kein einziges Mal krank gewesen. Die Luft tut mir gut“, sagt sie über ihre Wahl-Heimat.

 

 

Lisa Sehiza Salihovic-Köhler

 

Ihrer Meinung nach haben es Einwanderer heute schwerer als damals. „Heute beschäftigt sich jeder mehr mit sich selbst. Alles wird enger.“ Sowohl räumlich, als auch geistig. Als sie vor vierzig Jahren nach Deutschland kam, hat sie viele gute Erfahrungen gemacht – man begegnete ihr freundlich und hilfsbereit. Allerdings hat auch nicht jeder Immigrant ihr offenes Naturell. Sie ist gastfreundlich, weltoffen und gesellig. Ihre Empfehlung: „Man muss sich anpassen und immer selbst auf die Leute zugehen. Und auch zum dritten Mal ‚Guten Tag’ sagen, wenn jemand auf der Straße das Gesicht abwendet.“

Wie hat sie das Leben in Deutschland verändert? „Sehr“, findet Lisa. Sogar ihren Vornamen hat sie angepasst – ein großer Einschnitt in die Persönlichkeit. Für ihre Gäste ist sie seit langem Lisa – nur für ihre Angestellte aus Albanien ist sie Sehiza. 

Ungeachtet des Namens ist sie für alle die Küchenchefin – eine Chefin, die das Beste aus zwei Welten kulinarisch vereint. Zur alten Heimat hält sie Kontakt und freut sich auf das Wiedersehen dort mit ihren Brüdern. Es ist ihr wichtig, die Familie zweimal im Jahr zu treffen, auch wenn das mit der Selbstständigkeit manchmal schwer zu vereinbaren ist. Und sie denkt gerne an ihre Kindheit in Bosnien zurück.

Heimat? Davon hat sie inzwischen zwei. „Deutschland ist meine Heimat. Aber wenn ich zu Besuch in Bosnien bin, ist auch das noch meine Heimat.“

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