Es Leber der Sport
Von Arnulf Müller (Text und Fotos)
Sport ist gut. Sehr sogar. Schon das Wort weckt positive Gefühle. Wem das Prädikat „sportlich“ angehängt wird, der darf sich freuen. Entsprechend beliebt ist es in Kontaktanzeigen. Dort ist es ein Lockwort. Nicht sportlich zu sein, ist nicht so gut. Wenn der Arzt Sie ins Visier nimmt und fragt: „Treiben Sie Sport?“, ertappen Sie sich dabei, wie Sie Ihren flotten Gang durch den Supermarkt in Fast-Sport umdeuten. Kein Sport geht gar nicht.
Wir wollen nach dem Sport fragen. Aber wir versuchen einmal, genau das auszublenden: Dass Sport gut ist. Ebenso ignorieren wir die Lieblingsthese des Sportmuffels: Dass Sport Mord ist. Staunen wir einfach darüber, dass es so etwas überhaupt gibt! Käme ein Außerirdischer, er würde sich verwundert die Augen reiben: Warum rennt jemand, bis ihm die Zunge aus dem Hals hängt, obwohl er nirgendwohin will? Wozu katapultiert ein anderer Metallkugeln von sich weg, obwohl er sie gleich wieder holen muss? Weshalb schlägt einer dem anderen so heftig ins Gesicht, dass dieser bewusstlos umfällt – obwohl er gar nichts gegen ihn hat? Warum besteigen Menschen höchste Berge, obwohl auf dem Gipfel nicht mal ein Kiosk steht?
Die Frage nach den Gründen fürs Sporttreiben ist schwerer, als sie aussieht. Klar, es gibt die schnellen Antworten: Der Mensch treibt Sport, damit er lange und gesund lebt, als Ausgleich zur Arbeit, um Freunde zu finden. Doch wer nur auf solche Zwecke schaut, überspringt den Kern. Menschen trieben schon Sport, als sie nichts von Herzkreislauf und Work-Life-Balance wussten. Und wer ein Kind fragt, warum es einen Purzelbaum schlägt, wird bestenfalls ein Grinsen ernten.
Fragen wir die Sportwissenschaft, die muss es schließlich wissen. Doch in der Beschreibung des Studiengangs ist zu lesen: „Im Mittelpunkt steht die Beschäftigung mit dem Bewegungsapparat.“ Es werde untersucht, was effektive Bewegungsabläufe kennzeichnet, wie das Training optimiert werden kann, wie sich der Markt für Sportartikel entwickelt. Die Sportwissenschaft, das spürt man schnell, ist vom modernen Sportmarkt in Dienst genommen. Ihre Absolventen drängen ins Sportmanagement. Wer da nach dem Sinn des Ganzen fragt, verliert nur Zeit.
Fragen wir die Soziologie. Deren Ansatz: Sport ist ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaft. Am modernen Sport lassen sich die Züge unserer Leistungsgesellschaft ablesen. Schließlich formiert er sich im Zeitalter der Industrialisierung. Als Motto für die Olympischen Spiele der Neuzeit wird 1894 „Citius, altius, fortius“ vorgeschlagen – im Deutschen bekannt als „Höher, schneller, weiter“. Darin liegt etwas, das keineswegs selbstverständlich für freiwillig erbrachte Bewegung ist: das Rekorddenken. Fortan geht es nicht nur darum, zu rennen, weil es Spaß macht oder um so schnell wie jeweils möglich zu rennen. Es geht darum, schneller zu sein als alle anderen – in Gegenwart und Vergangenheit. Die Uhr und das Maßband werden wesentlich, und die ewigen Tabellen geben Aufschluss, wie eine irgendwo auf dem Erdball erbrachte Leistung einzuordnen ist. Groß ist ein Sport, wenn er Rekorde bricht. Es geht wie überall um permanente Steigerung, um Fortschritt.
Der Mensch „ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“
Doch wir kennen auch das Andere: Als es 1908 zu einer Unsportlichkeit in einem Final-Lauf kam und Amerikaner und Engländer sich nicht einigen konnten, wurde zur Beschwichtigung das Wort eines Bischofs zitiert: Das Wichtigste sei nicht das Siegen, sondern „taking part“. Fragt man heute nach dem olympischen Motto, sagt jeder: „Dabei sein ist alles.“ Obwohl faktisch das Gegenteil gilt. Schließlich verfolgen wir nicht stundenlang Sportübertragungen, um anderen beim Dabei-Sein zuzuschauen. Wir wollen harte Kämpfe sehen und uns am Sieg ergötzen. Entsprechend zynisch könnte man sagen: Vom Dabei-Sein schwärmen die Verlierer. Als die Hahner-Zwillinge in Rio keine gute Leistung abrufen konnten und Händchen haltend ins Ziel trabten, erhielten sie mächtig Prügel. Sie hatten das olympische Prinzip verraten, natürlich nicht das des Dabei-Seins, sondern das „richtige“: „Höher, schneller, weiter“. Daran glauben wir eben doch mehr, wenngleich wir auf den Trost der schönen Teilnahme nicht verzichten wollen. Am Ende braucht es wohl beides: Um jeden Preis siegen zu wollen, ist brutal, doch wer bloß dabei sein will, raubt dem Sport den Nerv.
Jetzt sind wir von der Frage abgekommen, weil wir uns sogleich am Spitzensport orientiert haben. Doch auch der Blick auf den Breitensport würde nicht helfen, denn auch diejenigen, die mittels Fitness-App an ihrer Selbstoptimierung basteln, spiegeln dieselbe Leistungskultur wider. Sport ist heute über weite Strecken funktionalisiert, dient der Karriere, soll zu mehr Ich-Stärke und größerer Attraktivität verhelfen. Wo also zeigt er sich unschuldiger?
Springen wir beherzt zurück zu den Olympischen Spielen der Antike. Worum ging es damals? Wer die Quellen studiert, begreift rasch, dass unser Glaube, der eigentliche Sport würde erst heute stattfinden, Unsinn ist. Auch die alten Griechen hatten ihren Usain Bolt, die Römer ihren Schumacher. Es gab überregional tätige Athletenverbände, die Unsummen verschoben und über enormen Einfluss verfügten. Sport war eine Macht und wurde von den Mächtigen instrumentalisiert. Es gab eine Industrie, die Fanartikel vermarktete. Große Städte bemühten sich, aussichtsreichen Sportlern eine Ehrenbürgerschaft anzuhängen, damit etwas von deren Glanz auf sie zurückfiel. Damit verbunden waren Ehrenpensionen, so dass sie ausgesorgt hatten, obwohl sie bei Olympia nur einen Lorbeerkranz aufgesetzt bekamen. Antikes Sponsoring.
Wer große Siege errang, wollte auch damals nicht vergessen werden. Deshalb gab es bestellte Dichter, die Hymnen auf Athleten ersannen. Steinmetze fertigten Stelen an, die in Wort und Bild an sie erinnerten. Tatsächlich blieben viele Sportler im Gedächtnis. Vom Ringkämpfer Milon von Kroton (540 v. Chr.) wissen wir, dass er allein in Olympia sechsmal siegte. Er soll so stark gewesen sein, dass er die bronzene Statue von seiner Person eigenhändig auf den Gedenkplatz trug. Viele seiner Gegner sollen sich kampflos ergeben haben, als sie ihn erblickten. Man tratschte über seine abnormen Essleistungen und gab zum Besten, dass er einen Stier mit einem einzigen Schlag zwischen die Hörner getötet habe. Die vielleicht schönste Kraftgeschichte: Milon band sich eine Darmsaite wie einen Kranz um die Stirn. Dann hielt er den Atem an, füllte die Adern am Kopf mit Blut und zerriss mit der Kraft der Adern die Saite.
Allerdings gab es auch skeptische Stimmen. Intellektuelle übten Kritik am Sportwahn und machten sich über die geschwollenen Blumenkohlohren der Faustkämpfer lustig. Doch im Allgemeinen galten Sportler als gesellschaftliche Vorbilder. Sogar der hl. Paulus benutzte Sportmetaphern, um verstanden zu werden.
Springen wir noch weiter zurück und befragen die Archäologie. Schließlich entstanden bereits im Neolithikum Felsmalereien mit Sportbezügen. Dabei ist oft nicht klar, ob die dargestellten Bewegungen eher dem Tanz oder dem Sport zuzuordnen sind. Aber genau dies führt schon ins Zentrum unserer Frage: Tanz und Sport scheinen demselben Impuls zu entspringen. Betrachten wir eine kleine Kalkstein-Scherbe aus der Zeit um 1300 v. Chr. Wir sehen eine ägyptische Tänzerin – oder eben Sportlerin. Vielleicht macht die anmutige Dame eine Brücke oder einen Überschlag rückwärts. In jedem Fall führt sie eine anspruchsvolle Bewegung aus, die offenbar keinen weiteren Zweck verfolgt. Es ist eine Bewegung um der Bewegung willen. Vielleicht hat sie diese als kleines Mädchen in einem Tanz- bzw. Sportkurs gelernt. Aber irgendwann einmal muss sie ja entstanden sein. Und das ist verwunderlich, denn eine solch unbequeme Verrenkung kommt im Alltag nirgends vor. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Ägypterin versuchte, einem Anderen eine Art Hocker zu bauen, damit dieser einen hoch hängenden Apfel pflücken kann. Dafür würde jeder einen Buckel machen. Warum also so herum?
Um das zu begreifen, muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass unser Körper so etwas wie ein Werkzeug sei. Es ist ein allzu technischer Gedanke, dass der Geist sich des Körpers bediene, wie man sich eines Hammers bedient. Das trifft nicht mal für das Arbeiten zu. Gerade Sport und Tanz quellen so unwillkürlich aus dem Inneren hervor, da gibt es kein Wozu. Es scheint eher so zu sein, dass ein Überschuss an Energie in uns steckt, der heraus will und gebändigt werden muss. Sport im ursprünglichen Sinne ist nicht etwas, das wir treiben, sondern wir sind Getriebene. Ein Bewegungsdrang kommt über uns und wir bewältigen das, indem wir ihm Form und Richtung geben.
Man schaue sich nur an, was die Sprungfedern eines alten Sofas in einem Kind auslösen können. Da gibt es keine Beweggründe. Es wird von sich selbst fortgerissen, kann sich nicht bremsen. In solchen Momenten ist der menschliche Körper nichts weniger als ein Werkzeug, es ist – Spielzeug. Auch wenn ein Kind kein Spielzeug hat, spielt es: Es springt im Kreis herum, schleudert die Arme in die Luft oder macht Purzelbäume. Mit so einem Körper lassen sich lustige Dinge anstellen: Man kann Grimassen schneiden, aber auch verrückte Verrenkungen machen. Zum Beispiel eine solche Brücke bilden. Und da sich das Tun des Menschen meist vor den Augen anderer abspielt, kommt es sogleich zum Nachmachen und Vergleichen. Wer kann den Bauch höher strecken, wer ist geschickter? Sogleich beginnt der Wettbewerb und mit ihm die Ausgestaltung eines Regelwerks: Das zählt nicht, das ist getrickst, so muss es gemacht werden, nicht anders.
Schon die alten Griechen hatten ihre Sporthelden
So etwa wird es in Urzeiten angefangen haben – spielerisch eben. Und allmählich kristallisierten sich einzelne Übungen heraus, wurden Teil der Kultur. Vermutlich wurden sie zur Bereicherung bei religiösen Festen dargeboten. Und irgendwann – viel später – verselbstständigte sich das Ganze zum reinen Sport und mündete schließlich in Leistungssport mit Rekordambition. Entlang dieser Linie – es ist freilich nicht die einzige – entstand im Laufe der Geschichte Großes. Die heutigen Sportfeste offenbaren den unglaublichen Ideenreichtum des sportiven Menschen, die unfassbaren Möglichkeiten des menschlichen Leibes und ebenso dessen Schönheit. Dank Superzeitlupe und Extremperspektive kommen wir aus dem Staunen nicht heraus.
Doch je mehr der Mensch am Ende dieser Linie anlangt, je mehr Leistungsdruck dabei ist und je mehr Motiv und Anlass zum Sporttreiben von außen kommen, desto mehr erstirbt das Freie, Spielerische und auch Lustige, das für den Sport anfänglich kennzeichnend war. Vom Gefühl der gesteigerten Lebendigkeit bleibt dann wenig übrig, im Gegenteil: Es tritt das Quälende des Sports zutage, das Bemühte unter der Diktatur von Uhr und Maßband. Wer kennt sie nicht, die superehrgeizigen Ausdauersportler auf Loipe oder Straße, die sich an sich selbst abarbeiten und dabei recht mürrisch in die Welt blicken.
Doch zum Glück ist der naive Sportimpuls nicht totzukriegen. Immer wieder brechen Menschen aus der etablierten Sportkultur aus und ersinnen aberwitzige Bewegungs- und Spielformen. Unterwassereishockey zum Beispiel. Da werden auf einem See die Tore verkehrt herum unter die Eisdecke geschraubt und ein Puck mit Styropormantel gleitet unter ihr entlang. Durch zwei Löcher auf jeder Seite tauchen die Spieler mit Neoprenanzügen ins Wasser und kämpfen so lange, wie sie die Luft anhalten können. Andere skurrile Beispiele sind Gummihuhnweitwurf oder Schlammfußball. Durch solche Rebellionen wird der Sport je neu vor Kommerz und Verzweckung gerettet.
Im Sport, so kann man sagen, sucht und findet sich der Mensch. Entscheidend ist jedoch, dass die Sache spielerisch bleibt. Erinnern wir uns an Friedrich Schiller: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Human betriebener Sport ist daher nie verbissen und verkrampft, auch dann nicht, wenn es sich um Ausdauer- oder Kampfsport handelt. Schwitzen, ein gesundes Maß an Aggression und Selbstüberwindung gehören dazu. Ohne Biss kein Sport. Dennoch dürfen wir den Sport nicht zu ernst und nicht zu wichtig nehmen. Gerade Sportjournalisten tun das oft und verwechseln den Sportplatz mit dem Parlament: Da wird problematisiert, analysiert, da werden Experten bemüht, als ginge es um die Rettung der Nation. Bei dem ganzen Hype wird vergessen, worum es eigentlich geht: um Lebensfreude, Daseinsverdichtung und spielerische Selbstvergewisserung. Das ist weit wichtiger als alles Schielen in Richtung Gesundheit und Karriere, wichtiger als jeder Medaillenspiegel. Sport sollte bleiben dürfen, was er seit eh und je ist: ein Tanz des Menschen, in dem er sein ungebrochenes Ja zum Leben spricht. Dann ist Sport gut. Sehr sogar.
Vorbild Kinder: Je mehr der Impuls von innen kommt, desto besser