Freiheit aus dem roten Korb

Edmund Reichart ist Autist. Diagnose: frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom) mit einer massiven geistigen Behinderung. Austimus in der gravierendsten Form also. 

Doch so schwer seine Einschränkungen auch wiegen, in erster Linie ist er: Mensch. Auch, wenn er nicht spricht. Auch, wenn er sein inneres Erleben nicht zeigen kann und keinen Kontakt mit anderen Menschen aufnimmt. Auch, wenn er in sich selbst gefangen scheint und von kleinsten Unregelmäßigkeiten im Tagesablauf völlig aus der Bahn geworfen wird.

Mensch sein heißt, frei sein: seine Welt nach eigenem Ermessen zu gestalten, Entscheidungen eigenständig zu treffen, sein Leben in die Hand zu nehmen. Aber kann Herr Reichart das überhaupt? Wo er noch nicht einmal mitteilen kann, was er gerade möchte?

Doch, auch Edmund Reichart ist frei. Er trägt in sich einen Willen. Er erlebt Gefühle wie jeder andere, etwa Freude und Traurigkeit. Er kennt Vorlieben und Abneigungen. Doch seine Unfähigkeit, das, was er sieht und hört, zu verarbeiten und zu filtern, führt dazu, dass er von seiner Umwelt permanent überwältigt und bedrängt wird. Ein Gegenstand, der ihm zur falschen Zeit am falschen Ort begegnet, bringt nicht nur sein Verstehen, er bringt auch seine Seele aus dem Gleichgewicht. Absolut sogar. So fällt er immer wieder aus der Welt heraus und auf sich selbst zurück. Dies führt dazu, dass er von seiner Freiheit so gut wie keinen Gebrauch machen kann.

So zumindest war es bis vor kurzem. Seit drei Jahren lebt der junge Mann in Gersfeld. Dort hat die Tanner Diakonie eine Spezialeinrichtung mit sieben Plätzen für autistische Menschen eingerichtet, bei denen alle Integrationsversuche bislang scheiterten. „Haus Abraham“ heißt die Einrichtung, genauer: „Lebensbrücke Haus Abraham“.

Und dieses Wort „Lebensbrücke“ trifft die Sache. Denn hier wird mit den Mitteln einer ausgeklügelten und konsequent umgesetzten Pädagogik für Menschen wie Herrn Reichart eine Brücke gebaut, über die er dann doch in der Welt ankommen kann. Ein Stück weit zumindest.

Davon soll im Folgenden erzählt werden. Es soll beschrieben werden, wie Edmund Reichart gelernt hat, von seiner Freiheit in den Grenzen seiner Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Und dies ist eine diffizile Geschichte.

Um Menschen, die sich nicht mitteilen, fördern zu können, muss man sie genau beobachten. Man muss von ihren Vorlieben ausgehen. Und ihre Stärken nutzen. Edmund Reichart hört gerne Musik. Läuft ein Stück im Radio, das ihn anspricht, bewegt er sich harmonisch mit. Er sitzt auf seinem Bett und macht Schaukelbewegungen. Dabei wirkt er innerlich entspannt. Solche Situationen des Wohlgefühls sind eher selten. Deshalb wäre es ein großer Fortschritt im Leben von Herrn Reichart, dies öfter zu erleben. Denn Wohlgefühl erzeugt Sicherheit und Stabilität. Die Frage ist nur: Wie kann er mitteilen, dass er jetzt Musik hören will? Der Impuls soll ja von ihm selbst kommen. Ein Begleiter würde seine Musik vielleicht zum falschen Zeitpunkt auflegen. Oder er würde ihn permanent berieseln, was Unbehagen bewirken würde.

Es liegt nahe: Herr Reichart muss lernen, die CD zu zeigen. Das klingt einfach und ist doch immens schwierig. Denn die räumliche Umwelt, so wie er sie erlebt, zerfällt in einzelne Dinge, die auftauchen und wieder verschwinden. Es fehlt jene Bedeutungskonstanz, durch die für uns die Welt zu einem festen, planbaren Ganzen wird. Einfach einmal so bestimmte Dinge aus diesem Wirrwarr herausgreifen und vorzeigen, das klappt nicht. Es fehlt ein verlässlicher, stabiler Ort, an dem z.B. eine CD vorgefunden werden kann. Einen solchen gilt es erst einmal zu schaffen. Dieser Ort aber darf zunächst kein fester Platz in seinem Zimmer sein. Das wäre schon viel zu weit weg von ihm, viel zu abstrakt gewissermaßen. Der „feste“ Ort muss zunächst ein bewegliches Objekt sein, in welchem sich die CD befindet. Bei Herrn Reichart ist es ein roter Korb, so einer, wie er auch im Supermarkt zu finden ist. Das hat sich zufällig so ergeben.

Auf diesen roten Korb mit der CD darin wird nun seine Aufmerksamkeit gelenkt. Er wird dicht an Edmund Reichart herangebracht. Die CD wird herausgenommen, vor ihn gehalten und sein Begleiter sagt: „Schau Edi, Edi will Musik hören“. Immer wieder. Dann wird die CD eingelegt und eine kurze Sequenz angespielt. Das macht man so lange, wie es seine Aufmerksamkeit zulässt. Der rote Korb läuft ihm anfangs gewissermaßen nach, fast wie ein kleiner Hund. Es wird also ein Ritual aufgebaut, drei- bis viermal täglich. Und vom Begleiter wird immer derselbe Satz gesprochen: „Schau Edi, Edi will Musik hören.“ Das Wort „Schau“ ist dabei besonders wichtig, um ihn für einen kurzen Moment aufmerken zu lassen. Während des ganzen Ablaufs dürfen keine störenden Reize dazwischenkommen.

Nach einiger Zeit beginnt man, den roten Korb etwas weiter weg zu platzieren. Und es wird nur noch gesagt: „Schau Edi, Edi will Musik hören“. Es wird nur noch der Korb gezeigt, die CD bleibt darin liegen. Herr Reichart muss nun bewegt werden, Interesse zu zeigen. Wenn er Musik hören will, muss er zum Korb gehen, selbst die CD herausnehmen und sie dem Begleiter zeigen. Wenn das klappt, geht man langsam dazu über, den Korb an einen festen Platz zu stellen: auf dem Schränkchen neben dem CD-Spieler. Erst jetzt hat Herr Reichart einen klaren Bezugspunkt in seinem Zimmer, der Handlungen in ihm auslösen kann.

Wenn sich dieser Ablauf – der über Monate eingeübt wird und viel kleinschrittiger ist, als es hier gezeigt werden kann – stabilisiert hat, beginnt man zu prüfen, ob Herr Reichart den Vorgang auch verallgemeinert, also „verstanden“ hat. Der Begleiter legt ein zusätzliches Objekt in den Korb, das nichts mit Musik zu tun hat (später sogar mehrere). Wenn Edmund Reichart dann zielsicher die CD herausnimmt, ist es geschafft. Wichtig allerdings ist noch Folgendes: Damit er die CD nicht nur einer bestimmten Person zeigt, sondern in der Lage ist, sie jedem Mitarbeiter des Hauses Abraham zu zeigen, wird die CD immer wieder einmal von dem ersten Begleiter auf einen Co-Therapeuten „umgeleitet“. Die CD wird vor Edmund Reicharts Augen weitergereicht und vom Co-Therapeuten in den CD-Spieler eingelegt. Dieser hat dann vorher den Satz gesprochen: „Schau Edi, Edi will Musik hören“.

Mittlerweile ist es so, dass Herr Reichart von hinten aus seinem Zimmer kommt und auf dem Gang irgendeinen Mitarbeiter trifft und diesem die CD gibt. Ein solcher Erfolg kommt nur zustande, wenn keiner der Begleiter vom festgelegten Ritual abweicht. Wie eine solche Kommunikation ablaufen muss, ist für jeden Bewohner genau dokumentiert, damit nicht durch einen plötzlichen Personalwechsel Irritationen entstehen, die im schlimmsten Falle dazu führen, wieder von vorne anfangen zu müssen. Die Mitarbeiter sind enorm gefordert. Sie müssen sich selbst sehr stark zurücknehmen und auch unnötiges Sprechen vermeiden, denn sonst würde Herr Reichart sogleich vergessen, was er gerade tun wollte. „Smalltalk ist für einen Autisten das Schlimmste“, betont Siegmund Poser, der pädagogische Leiter im Haus Abraham.

Nun aber ist noch etwas wichtig. Es muss vermieden werden, dass immer nur dieselbe Musik erklingt. Routinen sind für einen Autisten gut, weil sie Sicherheit vermitteln. Man muss aber aufpassen, dass man über diese Routinen nicht noch mehr Autismus erzeugt. Würde man immer nur dasselbe Stück auflegen, würde er sich in dieser einen Melodie verfangen. Deshalb ist es wichtig, andere, ähnlich angelegte Musikstücke einzumischen und so Abwechslung zu bieten. Seine Lieblingsmelodie darf zwar auch gespielt werden, aber vielleicht nicht als erstes, sondern als drittes oder viertes Musikstück. Auf diese Weise wird er dazu motiviert, wacher zuzuhören.

Wer nun denkt, das sei doch sehr viel Aufwand für so eine kleine Sache, der hat noch nicht das Potenzial erkannt, das in dieser aufgebauten Kommunikationsstruktur liegt. Denn nun ist der rote Korb als ein fester Ort für Mitteilungen etabliert. Man kann nun versuchen, eine zweite Sache anzubahnen, z.B.: „Schau Edi, Edi will naschen.“ Im Korb liegt dann Schokolade. Die isst er gerne. Obwohl Herr Reichart den Korb schon kennt, muss man wieder ganz von vorne mit dem Training anfangen. Ohne CD im Korb, nur mit Schokolade. Erst viel später, wenn er auch die Schokolade sicher zeigen kann, wird beides zugleich in den roten Korb gelegt. „Jetzt kann er zwei Bedürfnisse mitteilen“, sagt Poser, „das heißt für uns und für ihn Selbstbestimmung!“ 

Wie wichtig diese Form der unterstützten Kommunikation für die Lebensqualität von Herrn Reichart ist, zeigt sich vor allem an der Tatsache, dass inzwischen ein zweiter roter Korb im Gruppenraum steht. In diesem befindet sich ein großer grüner Legowürfel. Wenn er diesen zeigt, heißt das: Er will sich auf sein Zimmer zurückziehen. Dies mitteilen zu können, ist ein riesiger Schritt in Richtung Lebenszufriedenheit und Selbstbestimmung. Denn solange er dies nicht kann und nur auf die Vermutungen seines Begleiters angewiesen ist, bleibt er sehr oft Reizen ausgesetzt, die er nicht erträgt – was sich dann in extremen Verhaltensweisen zeigt.

So ist der junge Mann durch diese konsequente Methode des Zeigens von Zeichen sicherer geworden und ausgeglichener. TEACCH heißt diese aus Amerika stammende Methode, die ausgesprochen erfolgreich ist und auch in Deutschland immer öfter Anwendung fi ndet. Im Haus Abraham funktioniert der ganze Tagesablauf nach diesem pädagogischen Prinzip, vom Wecken bis zum Schlafengehen – und auf jeden Bewohner individuell zugeschnitten. Für alle Lebenssituationen gibt es hier Bilder, Piktogramme, symbolische Gegenstände, die den Menschen ein Verhalten anweisen und Raumstrukturen deutlich machen.

Der Leiter der Einrichtung spricht off en über die Grenzen, an die die Mitarbeiter manchmal stoßen. Er spricht über extreme Situationen, in denen die Arbeit im Einzelfall zu scheitern droht.

Einfach ist die Arbeit nicht und sie unterscheidet sich stark von anderen Formen der sozialen Arbeit. So gehört es dazu, Abläufe bewusst unpersönlich zu gestalten, also den Beziehungsaspekt draußen zu lassen, weil dieser oft die Quelle von Irritationen ist. Das sieht dann von außen betrachtet vielleicht kühl aus, aber erst dadurch wird der Bewohner in die Lage versetzt, es im Raum mit sich selbst und in der Folge davon dann auch mit seinen Mitbewohnern auszuhalten. Die soziale Dimension hat einen hohen Stellenwert im Haus Abraham, aber sie kann nur in der besonderen und eingeschränkten Form gelebt werden, die für autistische Menschen erträglich ist.

Auf der anderen Seite kann Siegmund Poser – ein Pädagoge aus Leidenschaft – klare Erfolge vorweisen. Das Konzept, um solche schwer betroff enen Menschen herum eine individuell auf sie zugeschnittene Welt zu zimmern, führt dazu, dass diese in einer gelösteren und stabileren Weise bei sich selbst und den Dingen sein können. Und bei den Menschen ihrer Umgebung. Sicher, für die Förderung von Kindern müssen auch andere Methoden der Harmonisierung ausprobiert werden. Ganz gleich, welche Methoden man anwendet: Sie gründen immer auf Hypothesen, die das Verhalten eines autistischen Menschen auf eine bestimmte Weise deuten. Das macht die Sache schwierig. Wichtig aber ist in jedem Fall: Alle Maßnahmen müssen sich nach dem einzelnen Menschen, seiner Besonderheit und seinen Bedürfnissen richten. Und sie dienen nicht dem Ziel, Austismus zu beseitigen – das ist unmöglich - sondern damit leben zu lernen. 

Edmund Reichart wird nie wirklich in der Welt, in die er hineingeboren wurde, ankommen. Wenn aber seine Lebensbedingungen stimmen, kann er innerhalb seiner Grenzen an ihr teilhaben. Als ein freier Mensch.

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