Gartenkinder – Kindergarten Was ist anders?
Arme Spielzeugindustrie! Kein Lego, kein Playmobil, aber auch kein didaktisch ausgeklügeltes Lernspielzeug. Wer Malka, Tom, Elia, Annelie und Clemens bei ihrem Treiben zusieht, merkt schnell, dass ihnen von all dem gar nichts fehlt.
Im Garten-Kindergarten ist überall etwas zur Hand, das spannender und herausfordernder ist als jedes Spielzeug: Werkzeug zum Beispiel.
Es ist einer dieser nasskalten Februartage, an denen vermutlich die Zentralheizung erfunden wurde. Doch nur die Erwachsenen frösteln im Freien. Selbstvergessen waschen die eingepackten Zwerge ihre Schätze in der Plastikwanne: Kieselsteine sind es, bevorzugt solche mit glitzernden Bruchkanten. Nach dem Trocknen werden sie mit Salatöl zum Glänzen gebracht und dann in Kinderschubkarren umherkutschiert. Ein Husten oder Niesen hört man nicht.
Die kleinen roten Schubkarren sowie der Bollerwagen sind so ziemlich die einzigen Ausstattungs stücke, die für diesen Kindergarten angeschafft wurden. Transportiert wird ja ständig etwas auf dem Gelände des Antoniusheims. Gerade weil hier nichts für Kinder hergerichtet ist, gibt es unendlich viel zu entdecken.
Das liegt schon am gemischten Charakter des Geländes: hier ein Schreinereibetrieb, dort ein Obstgarten; da der Laden mit Cafeteria, drüben die riesigen Gewächshäuser; dazwischen die kleinen Häuschen der Wohngemeinschaften. Und nicht zu vergessen der Gemüsegarten ganz am Ende. Von ihm hat der Kindergarten seinen Namen, weil er in den entsprechenden Jahreszeiten das wichtigste Spiel- und Lernfeld für die Kleinen ist mit richtigen Spaten, Hacken und allem, was dazugehört.
Wie Küken streifen sie unter Aufsicht von Birgit Heim auf dem Areal umher. Mal hierhin, mal dorthin. Die GartenKinder sind in keinem festen Haus, weil sie überall zu Hause, überall willkommen sind. Unangemeldet tauchen sie auf und sind sogleich eingebunden in das Leben und Wirtschaften, das da gerade stattfindet. Man lässt sie einfach mitmachen. „Das ist ein spielerisches Mitarbeiten. Sie fühlen sich ernstgenommen, weil sie mit den Großen schaffen dürfen. Die Kinder stören keinen Ablauf. Das fügt sich ganz natürlich“, so das Fazit von Martin Günzel, der als Leiter der Gärtnerei die Idee von Birgit Heim aufgriff. Neun Jahre hatte die Erzieherin zuvor in einem Waldkindergarten gearbeitet. Als sie im Antoniusheim anfing, überlegte sie, dass die Mischung aus Natur, Kultur und Sozialem ein noch stärkeres Konzept sein könnte. So ist es für die Kleinen völlig unproblematisch, dass hier viele Menschen mit Behinderungen leben und arbeiten. Jeder ist halt anders in diesem Dorf. Da begegnet man diesem und jenem, lernt sich kennen und grüßt einander. Normalität muss nicht erst hergestellt werden.
„Diese Idee passt so gut hierher, dass ich mich wundere, warum wir nicht selbst darauf gekommen sind“, gesteht Günzel. Im kommenden Jahr soll die Gruppe wachsen und durch eine Erzieherin verstärkt werden. An diesem Morgen trifft es sich gut, dass der Zwergentrupp gerade dann bei der Brennholz-Produktion vorbeizieht, als die Arbeiter Frühstückspause machen. Sogleich wird der Hubwagen mit drei Paletten stibitzt und bis zu den Gärten gezerrt. Das ist (eigentlich) kein Kinderspiel, aber Kinder entwickeln enorme Kräfte, wenn sie sich etwas vorgenommen haben. Gemeinsam wuchten sie das Eisenteil weiter. Als der Teer endet und der Weg matschig wird, blockiert das Rad. Ein Junge kippt vornüber. Weil ein paar Tränen fließen, ruft die Entenmutter sofort den Krankenwagen – sie schnappt sich einem große Schubkarre und spielt Krankentransport. Schon lacht der Patient, und weiter ziehen die Nomaden. Sie bringen den sperrigen Hubwagen wieder dahin, wo er hingehört. Lektion gelernt.
Natürlich müssen sich auch GartenKinder an Regeln halten und brauchen einen Rhythmus. Weil das Draußensein und damit das Auspowern den Normalfall darstellen, ist das gemeinsame Frühstück für alle ein ersehnter Ruhepol. Mit geröteten Wangen sitzen sie in ihrem beheizten Bauwagen und knuspern entspannt vor sich hin. Jedes Kind hat eine richtige Thermoskanne vor sich stehen, wie Bauarbeiter eben. Die Kleinen wirken ausgeglichen, glücklich. Disziplinierungsmaßnahmen sind hier weitgehend unbekannt.
Gestärkt geht es weiter unterm grauen Himmelszelt. Jemand hat Weiden geschnitten und die Stangen einfach liegen lassen. Klasse! Ruckzuck steht das Gerüst für ein Indianerzelt. Wenn man jetzt noch irgendwo eine Plastikplane findet ...
So geht das tagaus, tagein, sommers wie winters. Spielerisch begreifen die Kinder, wozu man arbeitet, was durch Anstrengung entsteht. Tiere müssen gefüttert, Pflanzen gepflegt werden. Das geht nicht von alleine. Der Zusammenhang von der Aussaat übers Unkrautjäten bis zur Ernte wird tiefer verstanden als beim Betrachten des besten Bilderbuchs.
Einer Grundschulstudie zufolge schnitten diejenigen Kinder, die einen Waldkindergarten o.Ä. besucht hatten, sehr gut ab: Sie konnten sich konzentrieren und strukturiert arbeiten, überzeugten durch Umsicht und Geschicklichkeit. Sie hatten gelernt, ihre Kräfte einzuteilen und zu kooperieren.
Vielleicht müssen wir wieder einen Schritt zurückgehen, weg von allzu spezialisierten Räumlichkeiten, weg von künstlich gestalteten Spiel- und Lernwelten. Das gilt dann auch für unsere Schulen. Maße und Gewichte etwa lassen sich bestens in der Natur oder in der Arbeitswelt vermitteln. Und beim Füttern von Tieren oder beim Abpacken von Produkten lernt man das Zählen, Berechnen und Schätzen wie von selbst. Wer mit lebendigen Materialien und in einem echten Umfeld lernt, zu dem sprechen dann auch die Zahlen auf dem Papier eine verständliche Sprache.
Etwas zugespitzt: Spielzeuge sind Ersatzprodukte in einer allzu aufgeräumten und sozial entmischten Welt. Die größte Langeweile entsteht in den vollsten Kinderzimmern. GartenKinder kennen so etwas nicht. Arme Spielzeugindustrie. Ach so, hatten wir schon.