Glaust du noch oder klickst du schon ?
von Anna-Pia Kerber
Götter haben es in unseren schönen neuen Welt reichlich schwer. In unserer schönen digitalen Welt. Vielleicht haben die Götter aber auch bloß ihre Namen verändert. Vielleicht heißen sie heute nicht mehr Götter - sondern Influncer, zu deutsch: Beeinflusser.
Sie wissen nicht, was ein Influencer ist?
Dann sind Sie entweder über 14 Jahre alt oder leben hinter dem Mond. Gleich links.
Trifft beides zu? Glückwunsch! Sie dürfen bei Ihren alten Göttern bleiben. Allen anderen – vor allem Eltern – sei erklärt: Influencer sind mit Vorsicht zu genießen. Ihre Botschaften sind harmlos, wenn sie auf gefestigte Menschen treffen. Aber sie können verheerend sein, wenn man seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden hat.
Der Influencer wird Ihnen vorgaukeln, dass Sie alles sein und – vor allem – alles haben können. Und dass sein Leben ein paradiesischer Zustand immerwährenden Urlaubs ist. Das möchten Sie auch? Dazu brauchen Sie vorerst nur eines tun: Werden Sie zum Follower.
Mit einem Klick sind Sie dabei. Follower – das bedeutet Anhänger oder auch Jünger. Einige Influencer haben Millionen Anhänger, die jeden Tag andächtig auf einen neuen Post warten – und diesen dann mit „Göttin!“ oder „Meine Königin!“ kommentieren.
Wie kommt das? Ist es eine neue Form religiöser Bewegung? Und wessen Interessen stehen wirklich hinter dem Personenkult?
Aber fangen wir von vorn an. Am Anfang war das Selfie. Oder anders gesagt: Am Anfang schuf der User das Selfie [Selfie, das (/ˈsɛlfiː/): Das Selfie ist ein Schnappschuss vom eigenen Gesicht, möglichst gekonnt in Szene gesetzt und mit möglichst weit ausgestrecktem Arm aufgenommen.] Dieses Foto wird in den sozialen Medien hochgeladen. Mehr steckt nicht dahinter, es ist schlicht ein anderes Wort für Selbstportrait.
Doch halt. Sie haben natürlich recht. Hinter dem Selfie-Phänomen steckt eine Menge mehr. Es muss ja etwas bedeuten, wenn 39 Prozent der Jugendlichen in einer Studie angaben, wöchentlich Selfies zu machen. 26 Prozent machen täglich ein Selfie, 14 Prozent sogar mehrmals. Warum? Tut man es, um sich seiner Existenz zu vergewissern? Weil man jede kleine Veränderung des Körpers dokumentieren will – oder im Gegenteil: weil man ein uniformes Idealbild erreichen will?
Selfies sind schon lange nicht mehr Abdruck der Realität. Selfies werden mit Foto-Filtern bearbeitet, retuschiert und geschönt, bis sie den hohen Ansprüchen der Social-Media-Nutzer entsprechen. Mit modernen Apps kann man die Nase zur winzigen Stupsnase verändern, die Haare aufhellen, die Augen vergrößern. Sogar die Beine kann man digital verlängern, Augenringe auslöschen und – der neueste Trend – den Po zum Brasilian Bum aufblasen, mit anderen Worten: unerreichbare Maße erzielen mit schmaler Taille und riesigem Apfelpo. Der bekommt dann sogar seine eigene Bühne mit dem Belfie. Was das ist? Die Verballhornung von „butt“ – englisch für Gesäß – und Selfie. Darüber hinaus gibt es das Bifie – das Selfie im Bikini – und, um dem Wahnsinn die Krone aufzusetzen, das Drelfie – ein Selfie im betrunkenen Zustand. Beliebt sind außerdem Helfies, Welfies und Relfies.
Nicht, dass es da noch eine Rolle spielt, wie man im echten Leben aussieht. Und es droht auch keine Gefahr, im Bus wiedererkannt zu werden, wenn ohnehin alle in ihr Handy schauen. Es soll ja vorkommen, dass Menschen sich über Dating-Apps kennenlernen, während sie in derselben U-Bahn sitzen – ohne sich auch nur einmal in die Augen gesehen zu haben.
Doch warum ein neues, digitales Ich erschaffen, das einem realitätsfernen Muster entspricht? Weil einem in der digitalen Welt jeden Tag vorgemacht wird, wie man auszusehen hat. Vor allem von Influencern. Die ebenfalls Fotofilter benutzen. Nur dass das niemandem mehr auffällt, weil es heute normal ist. Und weil wir gerne glauben, was wir sehen. Fatalerweise.
Doch wie kommt es, dass junge, schöne Menschen zu Influencern werden und Millionen von Followern haben? Was bieten sie uns – außer eben jung und schön zu sein? Sieht man sich den Bilderverlauf von Influencern einmal genau an, gibt es eigentlich nichts Bahnbrechendes zu entdecken. Sie posten Fotos von ihrem Mittagessen, ihrer Katze, ihrem Gesicht – immer, immer wieder von ihrem Gesicht. Und dank Instagram, das auf einem rein visuellen Prinzip basiert, gibt es zum Glück auch nicht viel Text dazu, über den man nachdenken müsste. Der Inhalt demnach: banal.
Trotzdem warten die Follower eifrig jeden Tag auf ein neues Foto ihrer Superstars, sehen andächtig auf das Display, behandeln das Handy wie ein Heiligtum. Und sind schwer enttäuscht, wenn es keine neuen Postings gibt. Im Durchschnitt sieht der Handynutzer 58-mal am Tag auf das Display. Man könnte ja das neue Bild vom Mittagessen anderer Leute verpassen. Geht das Handy mal kaputt, ist es für viele Menschen eine Katastrophe – die Welt bricht zusammen.
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Die Autorin hat verschiedene Face-Apps getestet. Die einen verändern die Haarfarbe, die anderen das Make-up.
Manche Apps liefern ein komplettes Halloween-Make-up.
Die Schwedin Johanna F. Herrstedt ist 25 Jahre jung und hat 650.000 Follower allein auf Instagram. Bekannt wurde sie durch die unzähligen Selfies, die sie von ihrem Gesicht geschossen hat. Bekannt wurde sie nicht, weil sie schauspielern oder singen konnte. Nicht, weil sie malt oder schreibt. Nicht, weil sie eine Krankheit heilen oder zum Mond fliegen kann. Sie hat beharrlich und mit bemerkenswerter Akribie ihr Gesicht fotografiert. Jeden Tag. Über Jahre hinweg. Im besten Winkel versteht sich. Mit dem besten Make-up. Sie hat das Selfie perfektioniert.
Betrachtet man die Kommentare zu ihren Fotos, liest man immer wieder Worte wie „Goddess“ (Göttin), „flawless“ (makellos), „Angel“ (Engel) und viele kleine Zeichen mit betenden Händen. Sie ist das Vorbild für Millionen von Mädchen auf Instagram, YouTube, Twitter und Facebook, wobei das Wort „Vorbild“ hier eine ganz neue Bedeutung bekommt. Es ist das Bild, in das sich ihre Fans verlieben. Das Bild, das ihr Denken bestimmt. Das Bild, dem sie ihren Glauben schenken. Das Wort scheint abgemeldet. Du sollst dir kein Bild machen, hieß es im alten Testament, doch die neuen Götter lassen ihr Abbild feiern wie kein Gott zuvor. Wozu haben wir Augen, wenn wir an etwas Unsichtbares glauben sollen?
Influencer posten Fotos von ihren Hasutieren,
ihrem Mittagessen und ihrem Outfit
Der Influencer baut seine Karriere auf dem Bild auf, doch er gibt sich auch als Ratgeber. Seine Follower erwarten vom Idol Hilfe und Zuspruch – sei es bei der Wahl des passenden Lippenstifts oder der Frage, ob sie mit einem Jungen schlafen sollen. Sogar Familienkrisen werden öffentlich in Kommentaren geschildert. Junge Mädchen werden zu Influencern und YouTube-Stars, weil sie sich gut verkaufen können – und beantworten dann die Fragen ihrer Follower so selbstverständlich, als seien sie Experten in Sachen Lebensberatung. Influencer sind Vorbild, Psychologen und Gott in einem. Kaum verwunderlich in einer Welt, in der die alten Götter verstaubt wirken und abgemeldet sind. Da wendet man sich doch lieber an Personen, die nur wenige Jahre älter oder sogar gleichaltrig sind. Die toll aussehen und ihr Leben ganz offensichtlich auf die Reihe bekommen. Und bei denen man sicher sein kann, dass sie jeden Tag etwas posten – statt einen mit einem einzigen alten Buch alleine zu lassen.
Die neuen Götter befinden sich auf Augenhöhe und sind doch unerreichbar fern, schön und beliebt. Unerreichbar, aber trotzdem auch wie du und ich. Sie zeigen Bilder von ihrem Frühstücksei und fotografieren ihre Haustiere mit Schleifchen auf dem Kopf. Was interessiert daran? Suchen wir das Göttliche im Banalen? Und warum ist deren Leben interessanter als das eigene?
Vielleicht ist es der Reiz und das vermeintliche Versprechen, dass auch wir berühmt, auch ein Star werden können – so ganz ohne offensichtliche Talente. Ein Versprechen, dass die junge Generation in den Abgrund stürzt. Du kannst alles erreichen – wenn du dich bloß genug anstrengst. Ist das so? Steht jedem die Welt offen, bloß weil er sie sich im Internet ansehen kann? Sind wirklich alle permanent im Urlaub, weil sie Fotos im Bikini auf Instagram posten? Oder macht uns der schöne Schein einfach langsam und schleichend kaputt?
Außerdem müssen wir uns fragen, womit ein Influencer sein Geld verdient. Denn: Auch eine Million Follower sind nichts wert, wenn sie nicht irgendwie in Bares verwandelt werden. Bei der Definition von Influencern, Key Influencern und Social Influencern fallen bemerkenswert oft Begriffe wie „Kaufentscheidung“ und „Massenpublikum“. Hinter dem Personenkult steckt vor allem das: eine perfide Werbemaschinerie. Influencer – Einflussnehmer – sollen Einfluss auf unser Kaufverhalten nehmen. Wer verdient daran, wenn junge Mädchen ihr Gesicht fotografieren? Es sind die Shampoo- und Lippenstiftfirmen, die Klamotten- und Sportschuhhersteller. Die, die Werbung immer mehr so einsetzen, wie sie am wirkungsvollsten ist: dass man sie nicht mehr als Werbung erkennt. Mit dem Mädchen von nebenan, das nicht etwa Topmodel ist – sondern ein billiger Werbeträger. Wollen wir das mitmachen? Wollen wir uns an die Industrie verkaufen? Zulassen, dass die Leere, der wir entgehen wollen, mit Konsum gefüllt wird?
Johanna Herrstedt kann inzwischen von ihrem Job als Influencer leben. Warum? Johanna kann nicht besonders gut schauspielern. Johanna kann nicht besonders gut singen, schreiben oder malen. Johanna kann gut Werbung platzieren. Johanna hat ihr Gesicht der Industrie verkauft. Und einen großen Deal mit Marc Jacobs Beauty abgeschlossen. Wer ihre Fotos liked, unterstützt damit vor allem eines: die Schönheitsindustrie. Johanna ist das goldene Kalb, um das Millionen von Mädchen herumtanzen.
Wer sich in den sozialen Medien bewegt, ist großem Druck ausgesetzt. Der Kampf um Follower ist hart. Wer ist schöner, wer ist beliebter? Vergleichen ist menschlich.
Darüberstehen ist göttlich. Eigentlich. Doch: Sogar die Kirche hat inzwischen die sozialen Medien für sich entdeckt. Und beauftragt junge, hübsche Mädchen, mit ihrem Youtube-Kanal die evangelische Botschaft zu verbreiten – als Christfluencerin. Alte Botschaft in neuem Gewand? Will die Kirche wirklich auf diesen Zug aufspringen – oder geht das Wort im Rampenlicht verloren, verflacht unter einer dicken Schicht Make-up?
Du sollst dir kein Bild machen, hieß es im alten Testament. Doch heute scheinen wir im Bilderzirkus gefangen. Wollen wir nicht aufhören mit dem permanenten Vergleichen? Uns besinnen auf das, was wir wirklich gut können. Auf das, was uns ausmacht. Braucht es dazu überhaupt einen Bildschirm? Finden wir unsere Antworten und unsere Zukunft wirklich im bläulichen LED-Schimmer? Oder woher kommt das wahre Licht? Müssen wir den Blick wieder mehr nach innen richten?
Vielleicht haben die alten Götter ja doch noch eine Chance. Spätestens, wenn der Handy-Akku ausfällt.