Hightech für die Schwester

Vom Traum, alleine ein Glas Wasser trinken zu können

Julian und Tamara Schneider

Julian und Tamara Schneider

 

Die 17-jährige Tamara Schneider wägt ab, ob sie das vor ihr liegende Buch eigenhändig umblättern oder ein Familienmitglied zu Hilfe rufen soll. Sie hadert einen Moment, denn einerseits möchte sie so eigenständig wie möglich sein und ihre Mitmenschen nicht zum x-ten Mal an diesem Tag um einen Gefallen bitten. Auf der anderen Seite ist es erst früher Vormittag, und ihre körperliche Kraft muss sie gewissenhaft einteilen, damit sie auch noch für den restlichen Tag reicht. Wie in Zeitlupe bewegt sie, für Außenstehende im quälenden Zeitlupentempo, angestrengt und hochkonzentriert ihren Arm.

Die junge Frau hat die Muskelkrankheit FSHD (siehe Kasten oben), sitzt daher in einem elektrischen Rollstuhl und ist in nahezu allen Lebenslagen auf fremde Hilfe angewiesen. Wer sie zum ersten Mal trifft, könnte den Eindruck gewinnen, sie wäre arrogant, geistig abwesend oder gar traurig. Dem ist aber nicht so. Durch die Krankheit sind nur auch ihre Gesichtsmuskeln geschwächt und ihre

Mimik – ein wichtiger Signalgeber in der Kommunikation – ist stark eingeschränkt.

Im Alter von fünf Jahren fiel erstmals auf, dass sie beim Laufen ein Bein hinterherzog. Von da an nahm die Krankheit schleichend Besitz von ihr, der hellwache Geist verlor zusehends den Zugriff auf den Körper. Zunächst ermöglichte ein Treppenlift den Zugang zur Wohnung im ersten Stock, seit Jahren ersetzt ihn ein Aufzug in dem Haus in Fulda-Haimbach. Dort ist sie selten länger als zwei Stunden alleine. Um zu trinken, muss sie darum bitten, ein Glas Wasser zum Mund geführt zu bekommen. Ihr langes blondes Haar ohne fremde Hilfe zu kämmen wäre zu kräftezehrend. Auch wenn die Bücher im Regal nur wenige Zentimeter von der Schülerin entfernt stehen, könnten es für sie ebenso gut Kilometer sein. Eines herauszunehmen und auf den Tisch zu legen bleibt illusorisch.

Auch ins Gymnasium, der Konrad-Zuse-Schule in Hünfeld, wird sie täglich begleitet. Ihre Assistenzkraft reicht Bücher, Stifte und Getränke an, schreibt aber auch für sie von der Tafel ab. Die Schülerin wäre zu langsam und würde den Unterricht aufhalten. Man spürt, wie wichtig es ihr ist, dass man in diesem Punkt keine Rücksicht auf sie nimmt. Nach erfolgreichem Abitur möchte sie ein geisteswissenschaftliches Studium beginnen.

Weil sie wegen jeder Kleinigkeit jemanden fragen muss, befindet sie sich permanent in einem Dilemma. „Meine Familie und Freunde helfen mir gerne, aber ich merke auch, wie sie dabei ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigen. Deshalb möchte ich vieles auch mal alleine schaffen.“ Und sie möchte das auch deshalb, weil Privatsphäre für sie ein Fremdwort ist. Ihr Umfeld bekommt stets genau mit, womit sie sich gerade beschäftigt. Daran hat sie sich gewöhnt und akzeptiert auch ihre Grenzen. Aber allzu gerne wäre sie doch ein Stück freier und unabhängiger.

Julian Schneider

Julian Schneider

 

Kraft für satte acht Kilo

Dass sie nun tatsächlich auf größere Freiräume hoffen darf, hat sie ihrem drei Jahre älteren Bruder zu verdanken, der mit Nachdruck an einer technischen Innovation bastelt. Auch Julian Schneider ist von der Krankheit betroffen, jedoch ist sie bei ihm schwächer ausgeprägt. Leicht schlurfend bewegt er sich durch den Raum. Greift er nach einem Gegenstand, wirkt er etwas steif und unbeholfen. Aus seinem Bürostuhl wuchtet er sich mit durchgedrücktem Rücken und mit beiden Armen auf Lehnen gestützt hoch. „Es ist, als würde man mit schweren Sandsäcken an Armen und Beinen eine Stunde lang Basketball spielen – und dieses Gefühl haben meine Schwester und ich den ganzen Tag“, beschreibt er die Situation. „Aber unsere Krankheit hat auch ihre guten Seiten. Weil bei uns vieles langsamer geht, sind wir in Sachen Geduld unschlagbar.“

In seiner Schulzeit vom Sport befreit, beschäftigte er sich intensiv mit Mathematik. Aus heutiger Sicht ein wichtiger Mosaikstein seines Könnens. Beim Fuldaer Spezialisten für automatische Produktionssysteme FFT schloss er seine Ausbildung zum technischen Produktdesigner erfolgreich ab. In diesem Herbst kehrt er als Werkstudent in das Unternehmen zurück, während er zeitgleich Maschinenbau studiert. Ziel: Ingenieur.

„Schon immer musste ich mir Techniken und Tricks überlegen, wie ich schwere Gegenstände transportiere oder ins obere Fach meines Kleiderschranks greife.“ Bei seinen Recherchen stieß er auf Roboterarme, die als Assistenz an elektrische Rollstühlen montiert werden. Doch die bestehenden Systeme sind entweder zu sperrig oder scheitern bereits daran, eine Literflasche Mineralwasser zu heben: Sie sind schlicht zu schwach. „Warum soll ich mir ein teures Hilfsmittel kaufen, wenn es in meinem Alltag unbrauchbar ist?“

Seit über einem Jahr konstruiert er daher einen eigenen Roboterarm, der die heute verfügbaren um Längen schlägt. Da er alle Teile von Grund auf neu entwickelt hat, steckt ein enorm innovatives Potential darin. Bei gleicher Größe wie andere Arme wird der aus dem Hause Schneider einmal bis zu acht Kilogramm heben können. Alle Berechnungen bestätigen dem jungen Techniker, dass seine Erfindung funktionieren wird. Einerseits ein Hoffnungsschimmer für alle muskelschwachen Menschen auf mehr Freiheit und Selbstbestimmung im Alltag. Andererseits eine Sensation aus Fulda.

Der Clou: Aus den neu entwickelten Gelenken lassen sich flexibel eine Vielzahl an unterschiedlichen Assistenzrobotern bauen, indem man die einzelnen Komponenten ähnlich wie Legosteine miteinander kombiniert. Damit sind sie leicht an die individuellen Bedürfnisse des Nutzers anzupassen. An dem Rollstuhl seiner Schwester befestigt und per Joystick gesteuert, könnte sie mit einem Greifer einmal schwere geisteswissenschaftliche Standardwerke aus dem Rucksack oder dem Regal holen und sogar die Seiten umblättern. Mittels einer stützenden Schlaufe könnte sie wiederum mit ihrem eigenen Arm ein Glas Wasser zu ihrem Mund führen.

Unvorstellbar kraftraubend

Unvorstellbar kraftraubend

 

Der nächste Schritt ist der Bau eines Prototypen und das Erstellen des komplexen Steuerungsprogramms. Neben fähigen Programmierern benötigt Julian Schneider vor allem etwa 35.000 Euro. Eine Utopie, erdacht im Kämmerlein eines Spinners?

Keineswegs, denn im Herbst vergangenen Jahres erhielt er für sein Projekt von der Stiftung zur Förderung der Inklusion durch Mobilität (IDM) den Ritterschlag. Dort ist man nicht nur beeindruckt, sondern von Julian Schneiders Erfolg überzeugt. Daher stellt die Stiftung ein Bankkonto bereit, damit der junge Konstrukteur finanzielle Mittel einsammeln und gleichzeitig Spendenquittungen ausstellen kann. Knapp 3.000 Euro sind bereits eingegangen. Die Vision wird greifbar. Sicher, es wird noch eine Weile dauern. Aber in Sachen Geduld sind die beiden ja glücklicherweise unschlagbar.

 

Für finanzielle Unterstützung:

Sie sind von Julian Schneiders Vorhaben begeistert und möchten sein Projekt mit einem eigenen Beitrag unterstützen?

Dann nutzen Sie folgende Bankverbindung für Ihre Spende:

Kontoinhaber: IDM Stiftung

IBAN: DE55 6602 0500 0008 7223 00

BIC: BFSWDE33XXX

Verwendungszweck: Robimobil und Ihre Postanschrift für die Spendenquittung

Sie können unter julian.schneider1996@gmx.de auch direkten Kontakt aufnehmen.

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