Inklusionsstandort Fulda?

von Alicia Mathes

Ein großes Wort und schwer zu greifen: Inklusion. Die Definitionen sind häufig sperrig und theoretisch – dennoch spricht jeder darüber. Aber was bedeutet es? Und was hat es mit jedem Einzelnen von uns zu tun?

Ein Tag in der Bahn: Wir sind unterwegs, beruflich oder privat, und begegnen vielen unterschiedlichen Menschen von klein bis groß, von jung bis alt. Die einen lesen das ausgelegte Bahn-Magazin, die anderen starren ununterbrochen in ihr Handy, am anderen Ende des Abteils schreit ein Kind, weil es keine Kekse mehr bekommt, und unser Sitznachbar telefoniert nervig laut mit einem Freund. Oft hoffen wir, schnell am Ziel zu sein und auszusteigen. Doch manchmal begegnen wir auch spannenden Menschen, treffen gute Gesprächspartner und lernen vielleicht sogar einen neuen Freund kennen. Ein Tag in der Bahn zeigt uns die unterschiedlichsten Facetten von Menschen und menschlicher Interaktion.
Nun stellen Sie sich vor, Sie sitzen allein in Ihrem Zugabteil. Irgendwann nehmen zwei Fahrgäste neben Ihnen Platz. Bei einem der beiden identifizieren Sie eine geistige Behinderung, der andere wird vermutlich sein Betreuer sein. Was geschieht jetzt in ihrem Kopf? Welche Gefühle kommen auf, wie reagieren Sie? Fühlen Sie sich wohl oder beschleichen Sie Gefühle von Unsicherheit oder Verlegenheit? Oder stellen Sie sich vor, es kämen Fahrgäste aus einem ganz anderen Kulturkreis in ihr Abteil. Wie würde es sich anfühlen, wenn weder Behinderung noch Migrationshintergrund eine Rolle spielen würden? Es geht also um die Frage, ob wir innerlich auf Inklusion vorbereitet sind. Wie ist das Thema gerade hier, in unserem Landkreis, angekommen? Diese Frage ist auch für antonius wichtig. Denn nur, wenn die Idee in den Köpfen verstanden und in den Herzen gewollt ist, können die Bemühungen der Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch Erfolg haben.
Im Rahmen einer kleinen Umfrage habe ich Menschen aus Fulda einen kurzen Videoclip vorgespielt. Er zeigt die beschriebene Situation im Zugabteil aus Sicht derjenigen Person, die zuvor allein im Abteil saß.

Es waren sich alle einig: Es macht keinen Unterschied, ob sich ein Mensch mit oder ohne Behinderung in ihr Abteil setzt. Sie würden ihre Sitznachbarn wie gewohnt grüßen und sich die restliche Fahrt über nicht anders verhalten als sonst auch. Sie hören Musik, lesen ein Buch. Manche würden auch ganz bewusst ein Gespräch mit den beiden Sitznachbarn suchen, um die Geschichten hinter den Persönlichkeiten zu erfahren.

„Ich finde es komisch, wenn andere so merkwürdige Fragen über die Behinderung stellen.“

Obwohl es für sie keinen Unterschied macht, wer neben ihnen sitzt, gaben die meisten dennoch zu, die Situation nicht einschätzen zu können. Sie stellen sich innerlich darauf ein, Hilfe anzubieten, und versuchen „keine unangenehmen Situationen zu erzeugen“. Auch halten sie ein „unterbewusstes Hinstarren“ zu ihrem Sitznachbarn für möglich, wobei sie dies mit Neugier begründen. Zudem befürchten manche, dass „Beschwichtigungs-kommunikation möglich sein könnte“, Beschwichtigung in dem Sinne, dass der Fahrgast vielleicht unruhig oder ängstlich werden könnte und man ihn dann beruhigen muss. Diese eher bevormundenden und vorverurteilenden Gefühle zeigen sich auch darin, dass sich die Befragten über den empathischen Betreuer und den angenehmen Umgang zwischen den beiden Fahrgästen freuen. Das bedeutet nicht, dass in der Freude als solcher Bevormundung liegen würde. Aber im beruhigten Gefühl darüber, dass der Fahrgast mit geistiger Behinderung im Fall der Fälle durch seinen Betreuer bedenkenlos Unterstützung erhalten würde, wird dennoch ein verbreitetes Vorurteil sichtbar: Menschen mit Behinderung sind grundsätzlich hilfsbedürftig. Dabei sind viele Menschen mit Behinderung ganz und gar nicht hilflos, auch wenn sie hin und wieder Unterstützung benötigen. Ungefragte Hilfe wird daher häufig als übergriffig und anmaßend empfunden, wie jüngste Veröffentlichungen von Aktion Mensch belegen. Durch das Vorurteil, der andere ist hilfsbedürftig, und dem damit verbundenen Reflex, entsprechend helfen zu müssen, wird die Situation ent-normalisiert. Dies wird vor allem von einer Teilnehmerin untermauert, die selber Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom ist. Sie empfindet es als komisch, wenn andere „merkwürdige Fragen“ über Behinderung stellen, anstatt mehr über die Persönlichkeit des Menschen erfahren zu wollen.
Was genau meint nun also Inklusion? Die Befragten waren sich einig, dass Menschen unterschiedlicher Gruppen zusammengebracht werden sollen und dass niemand ausgeschlossen wird. Konkreter formulierten sie: Inklusion meine „ein liebevolles Miteinander“, oder: „Wenn Menschen mit und ohne Behinderung zusammen Zeit verbringen.“ Allerdings entsteht hierbei die Frage, ob nicht genau dadurch eine Art ‚Sonderinszenierung‘, ein künstliches Zusammenbringen entsteht, die mehr mit der Integration von Menschen gemein hat als mit Inklusion. Inklusion meint nämlich nicht die nachträgliche, korrigierende Einbindung von Menschen mit Behinderung (oder auch von Menschen mit Migrationshintergrund etc.), es meint vielmehr, dass jeder Mensch ganz natürlich, also von Anfang an dazu gehört. Egal wie jemand aussiehst, wie alt man ist, welches Geschlecht man hat, welche Sprache man spricht, wo man herkommt oder ob man eine Behinderung hat: Eine inklusive Gesellschaft zeichnet sichdadurch aus, dass das allgemeine Recht, frei und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, für alle gilt und auch von allen geachtet und umgesetzt wird. Wo dies der Fall ist, müssen sich Menschen mit Behinderung oder deren Angehörige nicht erklären, wenn sie von ihren Rechten Gebrauch machen. Eine der Befragten brachte das so zum Ausdruck: „Ich möchte mein Kind mit gutem Gefühl in einen Regelkindergarten gehen lassen, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen.“
Was ist nun das Fazit? Neben einem latent bevormundenden Gefühl oder dem Vorurteil der generellen Hilfsbedürftigkeit, zeigte sich auch Neugier gegenüber dem Menschen mit Behinderung. Neugier klingt häufig etwas negativ, aber ein solches Gefühl ist in Bezug auf soziale Interaktion ein wichtiger Motor. Ohne Neugier lernen wir keine neuen Lebens- und Sichtweisen kennen. Darüber hinaus schien die gezeigte Bahnfahrt für die meisten jedoch keine außergewöhnliche Situation zu sein, was man als Hinweis auf geglückte Inklusion verstehen kann.
Interessant waren auch die unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie Inklusion umgesetzt werden sollte. So wurde von manchen vorgeschlagen, dass man einen Beauftragten braucht, der sich innerhalb einer Gruppe für Inklusion einsetzt. Andere fanden eher, dass Inklusion nicht nur an einigen wenigen Personen hängen darf, beispielsweise an einer Integrationskraft im Kindergarten. Braucht man also eigens geschulte und qualifizierte Beauftragte oder kann Inklusion nur gemeinschaftlich erreicht werden, indem jeder seinen Beitrag zur Durchsetzung der Teilhaberechte aller Menschen leistet? Wie denkt antonius in dieser Frage?

„Inklusion kann nur gemeinschaftlich umgesetzt werden.“

Über viele Jahrzehnte ist bei antonius die Erfahrung gereift, dass Inklusion sich am besten in ganz vielen alltäglichen Begegnungen realisiert: am Arbeitsplatz, im Wohnquartier, im Sportverein, beim Einkaufen – im Grunde überall. Dazu braucht es im Moment noch Menschen, auch Fachleute, die das anstoßen und gezielt Anlässe schaffen. Es braucht Fachleute, die im Sozialraum Netzwerkarbeit leisten, die Partner suchen, welche bereit sind, auch mal besondere Verantwortung zu übernehmen. Ebenso braucht es Modellprojekte mitten in der Stadt – etwa in Form von Läden, Restaurants, Cafes – in welchen auch Menschen mit Behinderungen arbeiten. So ergeben sich auf natürliche Weise Begegnungen, bei denen Unterscheidungen wie behindert oder nicht behindert, arm oder reich und fremd oder einheimisch in den Hintergrund treten.
Alle Befragten waren sich einig, dass Fulda in dieser Hinsicht sehr weit ist und dass es in jeder Stadt ein solches Netzwerk geben sollte. Besonders das individuelle Lernkonzept der Antonius von Padua Schule, welches Kinder mit und ohne Behinderung nach dem selben Förderprinzip unterrichtet, wurde aufgegriffen.
„In Fulda werden behinderte Menschen als Menschen gesehen.“ Je mehr wir also jeden Menschen, unabhängig seiner Herkunft, seiner Gesundheit oder anderer Merkmale als Menschen sehen, je weiter sich eine Stadt oder ein Land zur Inklusion hinbewegt, desto weniger bedarf es der Inklusionsbeauftragten. Im Idealfall – von dem wir aber noch weit entfernt sind – ist Inklusion keine Sache von Fachleuten. Oder wie eine der befragten Personen es formulierte: „Inklusion kann nur gemeinschaftlich umgesetzt werden“.


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