Irgendwo in der Fremde

Stellen Sie sich einmal vor, Sie sollen morgen nach Tokio reisen. Alles, was Sie haben, ist Ihr Flugticket und eine Adresse. Sonst nichts. Keinen Sprach- oder Reiseführer für Japan, schon gar nicht für Tokio. 

Es ist eine völlig fremde Kultur mit anderen Umgangsformen, Essgewohnheiten, Gerüchen, und die Sprache hat so gar keine Ähnlichkeit mit unserer Sprache. Dem positiv gestimmten Menschen ist natürlich klar: Es gibt nichts, was man nicht lernen kann. Es wird dauern, vielleicht lange, aber dann kann man auch Japanisch – wenn man nur will und einen guten Lehrer hat.

Die Lebensreise eines autistischen Kindes beginnt genau mit diesen Voraussetzungen: Eine Reise, ein Ankunftsort irgendwo in der Fremde.

Unser Sohn, ein so wundervolles Wunschkind. Hatten wir dabei auch eine Erwartung? Nein, wir nehmen alles und wurden glücklich. Heute ist er schon elf Jahre in unserer Welt.

Leonard ist Autist.

Als wir die Diagnose bekamen, war dies kein traumatisches Ereignis oder gar eine Enttäuschung. „Kennen Sie den Film Rain Man?“ fragte man uns. Kannten wir, ist ein Film mit Dustin Hoffman. Das Ausmaß der Beeinträchtigung war uns zu diesem Zeitpunkt aber nicht ganz klar. Wir waren erst einmal erleichtert. Endlich gab es eine Erklärung für Leonards Anderssein. Und wir hatten einen Weg gefunden, unsere zarten, doch so intensiven Familienbande wirklich zu vertiefen. Unsere Beziehung zu vertiefen war der Ausgangspunkt für seine weitere Entwicklung. Nicht umsonst heißt es „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ und wird als seelische Behinderung eingestuft.

Wenn Sprache für ihn nur als Wort funktioniert – Mimik, Gestik und Sprachmelodie gehören nicht dazu, nonverbale Kommunikation sind völlig ausgeblendet und dadurch ist Interaktion nicht so ohne weiteres möglich – dann gilt es, eine Kommunikationsform zu finden, mit der er wachsen kann. Ein erwachsener Autist sagt sehr treffend: „Ja, es erfordert mehr Anstrengung als eine Beziehung zu einem nicht-autistischen Menschen. Aber es ist möglich. Jeder von uns, der lernt, mit euch zu sprechen, jede von uns, die lernt, in eurer Gesellschaft zu funktionieren, bewegt sich auf außerirdischem Territorium und nimmt Kontakt zu außerirdischen Wesen auf. Wir verbringen unser ganzes Leben damit, das zu tun. Und dann erzählt ihr uns, wir seien nicht fähig, Beziehungen aufzubauen!“

Wir kommen mittlerweile wunderbar klar. Unser Sohn hat sich gut entwickelt. Seine Aussage: „Mama, eigentlich interessiert es mich überhaupt nicht, wenn jemand mit mir redet. Aber dir muss ich ja zuhören, weil du mir erklärst, wie die Welt funktioniert.“ hat eine klare Botschaft. Eigentlich möchte er in seiner Welt bleiben, gleichzeitig braucht er Hilfe und Unterstützung, um in dieser Welt zurechtzukommen. Und dabei geht es nicht darum, so zu sein wie die anderen. Das hat er mit Beginn der Schulzeit immer wieder versucht. Misserfolge und seelische Not waren die Folge.

Einige autistische Kinder verinnerlichen diese Botschaft und akzeptieren das „Normalsein“ als ihr größtes Ziel im Leben. Meine Beobachtung ist, je mehr ein autistisches Kind versucht „normal“ zu sein, desto wahrscheinlicher ist es, dass seine Ängste größer werden, es Depressionen und eine Neigung zu selbstzerstörerischem Verhalten entwickelt.

Autistische Kinder brauchen eine klare Erziehung, Hilfe und Unterstützung. Man kann ein autistisches Kind aber so gut erziehen, wie man will, es wird deswegen nicht nicht-autistisch. Autismus ist eine Wesensart, eine Form menschlicher Vielfalt, eine Art zu sein. Er ist tiefgreifend; er färbt jede Erfahrung, jede Wahrnehmung, jede Begegnung. Er beeinflusst, wie jemand denkt, fühlt, versteht, reagiert und interagiert.
Deshalb ist es für mich erstaunlich und ärgerlich, dass viele Menschen, auch Pädagogen und Entscheider für gesetzlich vorgeschriebene Hilfemaßnahmen erwarten, dass das Kind möglichst schnell nicht-autistisch wird. Autistische Kinder werden jedoch autistische Erwachsene sein.

Unser Bildungssystem ist noch nicht dafür gerüstet, den Bedürfnissen von Kindern mit Autismus gerecht zu werden.

Das ist aber eine Frage der Chancengleichheit. Kinder mit Autismus können ihre Behinderung nicht verstecken. Und sie sollten es auch nicht müssen. Kindern mit einem Rollstuhl oder einem Blindenstock wird Schutz gewähren und anderen Schülern werden ihre Rechte als „Behinderte“ bewusst gemacht. Viel zu oft wird aber von einem Kind mit Autismus erwartet, sein Verhalten anzupassen.

Wir Eltern sind erfinderisch und auch wählerisch geworden. Wir haben uns auf ein Leben mit unserem autistischen Kind eingelassen, eine lebenslange Abenteuerreise hat vor Jahren begonnen. Und sie bleibt spannend, für uns alle.

Wir bauen ihm keine autistische Welt, wir freuen uns darüber, wenn er uns an seiner Welt teilhaben lässt; wenn er sich öffnet. Er meistert seinen Alltag immer besser. Er ist wunderbar. Unser Leben ist spannend, interessant, manchmal sogar einfacher und wir lernen mit so manch einem Schmunzeln voneinander.
Es ist einiges korrekter, sein Kinderzimmer ist meistens wirklich aufgeräumt. Für die Schule zu büffeln kommt nicht in Frage, zu Hause ist für ihn eben nicht die Schule und Eltern gehören nicht in die Schule. Irgendwie hat er ja recht. Obwohl er die analoge Uhr mittlerweile beherrscht, ist es bei ihm nie halb acht, sondern Neunzehnuhrdreißig. Veränderungen erträgt er mittlerweile besser. Aber manchmal, wenn wir ihm Dinge anders erklären, einfach weil er größer geworden ist, kann er schon eine Weile auf einer Aussage von vor vier Jahren bestehen. Das ist manchmal für ihn besser, manchmal auch für uns.

Sein Leben ist eng mit unserer Normalität verbunden, anders geht es nicht. Aber diese Normen sind für nicht-autistische Menschen gemacht. Da er aber kein nicht-autistischer Mensch ist, gibt es keinen Grund, warum er versuchen sollte, sich wie einer zu benehmen, und es ist kein Gefühl des Versagens damit verbunden, sich nicht wie einer zu benehmen. Es läuft darauf hinaus, ob nicht-autistische Menschen, die ihm begegnen, bereit sind, ihn als autistische Person unter sich leben und funktionieren zu lassen.

Das Wichtigste für uns ist – und wir hoffen in Zukunft auch für mehr Menschen, die ihn kennenlernen oder mit ihm „arbeiten“ – dass er auf einer soliden Grundlage aus Liebe, Verständnis, täglich angepasster und angemessener Hilfe einen Platz in dieser Gesellschaft findet.

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