Istanbul: Vom Rand des Orients das Herz Europas entdecken
Nicht unbedingt schöner, aber aufregender, quirliger und unübersichtlicher als andere große europäische Städte erlebte Richard Hartwig (50) die türkische Metropole am Bosposrus.
In Istanbul leben Europa und Asien seit Jahrhunderten wie in wilder Ehe zusammen. Wer aus dem beschaulichen Fulda kommt, klopft hier an die Tür zu einer anderen Welt. Istanbul ist wie „Asien für Angsthasen“.
An einem kalten, aber sonnigen Wintertag legt der Kapitän ab, um mit seiner Fähre mitten in der Stadt eine der schönsten, aber auch gefährlichsten Wasserstraßen der Welt zu queren. Die wenigen Menschen auf den Holzbänken sind nicht zum Vergnügen an Bord. Still gehen sie ihren Gedanken nach. Das Leben und die Stadt haben Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen. Vielleicht sind sie auf dem Weg zurück in eine kleine, einfache Wohnung, vielleicht auch zu einer Gelegenheitsarbeit in einem Stadtteil auf der asiatischen Seite. Vermutlich gehören sie zu den Hunderttausenden, ja Millionen, die ihre steinige Heimat im Landesinneren aufgegeben und in Istanbul ihre Chance gesucht haben, um sich dann auch dort wieder mit den großen und kleinen Enttäuschungen des Lebens abfinden zu müssen.
Die Fähre zieht an den Fischschwärmen vorbei, die mit der starken Strömung des Bosporus die weite Reise aus dem Schwarzen Meer in die Ägäis angetreten haben. Das schier unendliche Häusergewirr der Stadt entfernt sich langsam. Aus dem Wasser steigen die Bilder der letzten Tage hoch: Männer, die von der Galata-Brücke angeln; das prachtvoll-kühle Innere der Moscheen; von Staub und Ruß gesichtslos gewordene Gebäudefassaden, vollgestopfte U-Bahnen und Busse; tief verschleierte Touristinnen aus Arabien, jahrhundertealte Wasserzisternen von der Größe eines Fußballfelds; Steintreppen, bei denen jede Stufe irgendwie anders beschädigt ist; unentwegt blinkende Leuchtreklamen, Tausende aufgeregt umherfahrender Taxis; enge, steile Gassen mit zerfallenden Holzhäusern, alte Frauen mit Kopftuch, die Familienvätern Taubenfutter verkaufen; das Waren- und Farbenfeuerwerk der Basare; Laufburschen, die hochgepackte Sackkarren hinter sich herziehen; schlanke Minarette mit Lautsprechern, über die der Muezzin zum Gebet ruft; bis spät in die Nacht erleuchtete Nähstuben; die glitzernden Fassaden der neuen Wolkenkratzer; allabendlich auf die Müllabfuhr wartende Kartons, Plastiktüten und Abfallsäcke vor den Hauseingängen; freundliche Obstverkäufer mit frisch gepressten Orangen- und Granatapfelsäften; das elegante Farbenspiel der Bosporus-Brücke; der Bettler, der jahrein, jahraus denselben Spruch aufsagt; ungezählte Ladenbesitzer, die vor ihrem Geschäft auf Kundschaft warten; auf den Bürgersteigen dösende Hunde …
Nach etwa zwanzig Minuten legt die Fähre in Sichtweite des Bahnhofs Haydarpasa an. Vor vielen Jahren fuhren Fernzüge von hier aus quer durch die Türkei und das Taurusgebirge bis nach Bagdad. Selbst im Januar hat die Sonne über dem Bosporus genügend Kraft, um die Stufen zum Eingang des altehrwürdigen Gebäudes ein wenig aufzuwärmen. Ich setze mich und schaue zurück. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich Europa nur noch aus der Ferne. Aber hier, am Rande des Orients, erkenne ich deutlicher als je zuvor, was es heißt, im Herzen Europas zu leben.