Jenseits des Horizonts

Von Hanno Henkel

„Reisen ist tödlich für Vorurteile.“ Das sagt einer, der es wissen muss, da er selbst häufig auf Reisen war. Mark Twain, von dem diese Wahrheit stammt, hätte sicher auch Erich Kästner zugestimmt. Der folgerte nämlich aus seinen Beobachtungen, dass Vorurteilen umso gründlicher der Garaus gemacht werde, wenn man nicht wie die Toren die Museen fremder Länder bereise, sondern die Tavernen, wie es die Weisen täten.

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Ach, wäre das schön, auf so angenehme Weise einem der Grundübel unserer Zeit zu Leibe zu rücken. Wie wohl täte es den Menschen, die in großer Not und mit großen Hoffnungen derzeit zu uns kommen. Sie müssten sich nicht länger als Sozialschmarotzer und Asyltouristen verunglimpfen lassen, sondern würden vorfinden, was sie so nötig brauchen – freundliche Mitmenschlichkeit. Wir könnten auch entdecken, wie befreiend es ist, den anderen um uns herum ohne die lästigen, aber gut gehüteten Vorannahmen zu begegnen, die immer nur um das unterstellte Schlechte kreisen und uns blind machen für die großartigen Möglichkeiten, die jeder Mensch in sich trägt. Und dazu müsste man sich nur auf die Socken machen und reisen.

Doch so einfach ist es leider nicht. Wer durch Reisen klüger werden wolle, dürfe sich nicht selbst mitnehmen, stellte schon Sokrates bedauernd fest. Wir reisen, um Neues zu sehen, sehen das Neue aber immer mit alten Augen. Das gilt für uns Heutige umso mehr, weil wir uns ja nicht nur in unseren Erinnerungen und mit unseren Gefühlen und Erfahrungen mitnehmen, sondern inzwischen auch mit allem, was auf einem Smartphone Platz findet. Die Allgegenwärtigkeit von allem, die permanente Erreichbarkeit machen es schier aussichtslos, vom Ort des Reiseantritts wirklich fort zu kommen – erst recht nicht von uns selbst. Arnulf Müller hat auf einer Segelreise von der französischen Biskaya in die Ägäis dieser Frage nachgespürt und in dieser Ausgabe Interessantes zu berichten. Anna-Pia Kerber zeigt alternative Möglichkeiten des Reisens auf, die abseits der Touristenströme eine unmittelbare Begegnung mit Land und Leuten versprechen. Wir haben nachgefragt, welche Schwierigkeiten Menschen mit Behinderungen überwinden müssen, wenn sie auf Reisen gehen. Vom Pilgern ist die Rede und schließlich hat Katrin Schulte-Lohmöller mit einem Vielreisenden gesprochen und dabei Bemerkenswertes über seine Vorstellungen von Heimat und Zuhause erfahren, die ganz wesentlich von seinem Unterwegssein geprägt wurden; ganz im Sinne Alexander von Humboldts, der nichts für bedenklicher hielt als die Weltanschauung von Menschen, die die Welt nie angeschaut haben.

Für dieses Jahr wird es wohl schon zu spät sein. Aber wenn Sie für die kommenden Jahre darüber nachdenken, wo Sie Ihren Urlaub verbringen wollen, könnte es lohnend sein, einmal darüber nachzudenken, ob Sie nicht – wieder einmal? – reisen sollten. So mancher Seitenwechsel könnte Ihnen blühen. Denn wie Martin Buber sagt, haben alle Reisen eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.

In diesem Sinne

Ihr Hanno Henkel & das Redaktionsteam 

 

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