Käufliche Liebe

oder: Wenn dir das Leben Zitronen schenkt, mach Limonade draus

von Anna-Pia Kerber

 

„Auch wir träumen von einem spießigen, normalen Leben“, sagt Valery*, „aber wir haben schon zu viel gesehen.“ Zu viel gesehen – das haben sie alle, Valery (24), Trish* (21) und Amica* (21). Seit Jahren bewegen sie sich im Escort-Gewerbe und verkaufen ihren Körper für Geld. Zu viele menschliche Abgründe, zu viele Schattenseiten. Mit einem Blick können sie einem Mann ansehen, wonach er sucht: Liebe, Flucht, Erfüllung, ein offenes
Ohr, eine schnelle Nummer. Wer am Abgrund steht, kann weit sehen.

Wer die Menschen so gut durchschauen kann, der hat eine andere Einstellung zur Liebe, eine jenseits der aufpolierten Valentinstags-Version, eine, die nicht mehr viel mit Romantik zu tun hat. Auch wenn viele dieser Mädchen einmal romantisch verklärt waren – bis ihre Naivität gewissenlos ausgenutzt wurde. „Liebe ist ein Mythos“, erklärt Trish im Interview. „Liebe hat mehr mit Loyalität zu tun“, widerspricht Valery. „Loyalität ist das Wichtigste. Das Verliebtsein, ein Flirt, Romantik … das zählt alles nicht. Wirkliche Liebe zeigt sich anders. Zum Beispiel zwischen Freunden.“

Erde, Feuer, Wasser, Luft – und Liebe?

Liebe soll es wohl sein, dieses „Fünfte Element“, wie sich der Eichenzeller Luxus-Saunaclub nennt, in dem man Valery, Trish und Amica  treffen kann. Hier arbeiten sie auf eigene Rechnung, gehen als Gäste ein und aus, wann sie wollen. Ob das fünfte Element wirklich die Liebe darstellt, müssen sie am besten wissen.

Die drei jungen Frauen haben sich für das Interview Handtücher und Bademäntel übergezogen. Sie sehen zerbrechlich und einschüchternd schön aus. Und gleichzeitig wie stolze Kriegerinnen mit einer dicken Schicht Make-up, die sie wie einen Schild tragen. Haarverlängerungen, gefährlich scharfe Kunstnägel und dicke falsche Wimpern verwandeln sie in etwas Glitzerndes. Etwas, das man besitzen möchte. Aber lieben?

 

Sie sehen aus wie etwas, das man besitzen möchte. Aber lieben?

 

„Solange man diesen Job macht, ist keine solide Beziehung möglich“, sind sich die Mädchen einig. „Wer heiratet mich denn mal?“, fragt Valery voll Selbstironie. Aber jenseits der Ironie stehen Wünsche. Wünsche, die sich vielleicht niemals erfüllen werden. Schließlich sind die Mädchen auf sich allein gestellt. Ohne den Rückhalt einer Familie, ohne Sicherheitsnetz. Zuerst müssen sie ans Überleben denken. Auf einen Mann wollen sie sich dabei nicht verlassen. Oder nicht mehr. War es doch in den meisten Fällen ein Mann, der sie auf diesen Weg brachte.  Ein Weg, der an eine Einbahnstraße erinnert. Ans Umkehren ist nicht zu denken.

Valery ist vierundzwanzig. Während ihrer Ausbildung zur Restaurantfachfrau lernte sie einen Mann kennen, der sich bereits im Milieu bewegte. Er führte sie in seine Welt ein und zog sie mit sich in eine Schuldenfalle, aus der sie schließlich keinen Ausweg mehr sah. Zurück ins Elternhaus konnte sie nicht. Ihre Eltern wissen bis heute nicht, womit sie inzwischen ihr Geld verdient.

Amica ist ebenfalls vierundzwanzig und kam vor fünf Jahren aus Rumänien nach Deutschland. Sie arbeitete zunächst als Barkeeperin, dann im Empfang und schließlich als Escort-Dame. Sie sagt nicht viel und entschuldigt sich in fließendem Deutsch für ihre Ausdrucksweise, obwohl die alles andere als schlecht ist. Sie hat ein schüchternes Lächeln, das auch ihre Augen erreicht. Und einen Blick, der der Welt zu trauen scheint, obwohl sie das sicher nicht tut.

Sie ist freiwillig hier. Aber viele Frauen, die aus Rumänien kommen, wurden schon als Mädchen zur Prostitution gezwungen – oft vom eigenen Vater. Die Strategie: Der Vater bringt einen jungen, gutaussehenden Mann nach Hause, in den sich das Mädchen verlieben soll. Dieser verspricht ihr alles, kümmert sich um sie, macht sie emotional abhängig – bis er sie dazu bringt, sich für ihn zu verkaufen. Dann wird sie nach Deutschland geschickt, um mehr Geld einzubringen – ohne Sprachkenntnisse, ohne Erfahrung, ohne Freunde.

Trish ist eine Freundin von Valery. Mit ihren einundzwanzig Jahren hat sie bereits ein bewegtes Leben hinter sich, das man ihr allerdings nicht ansieht. Vor wenigen Jahren war ihr Job ebenfalls Barkeeperin in Frankfurt. Ihr damaliger Freund sei sehr eifersüchtig gewesen und habe ihr unterstellt, sie würde als Escort-Dame arbeiten. Er streute das Gerücht in ihrem Bekanntenkreis, wo es sich hartnäckig hielt – bis sie auf den Gedanken kam, es wahr zu machen: aus Geldsorgen.

Den Schritt in die Prostitution ging sie zum ersten Mal gemeinsam mit einer damaligen Freundin – weit weg, in einer anderen Stadt, weg von ihrem gewohnten Umfeld. „Angefangen hat das mit einem Dreier. Meine Freundin hat versucht, mir die Erfahrung mit dem Kunden so angenehm wie möglich zu machen.“ Aber die Überwindung war groß. Größer, als Valery, Trish und Amica zugeben wollen. „Ich war beim ersten Mal bekifft und betrunken“, erinnert sich Valery. „Das senkt die Hemmschwelle.“

Manchmal denkst du, du würdest gerne verschwinden – aber in Wahrheit möchtest du bloß gefunden werden, so formulierte der Rapper Kid Cudi.

„Selbständig zu sein ist doch besser, als immer herumzukrebsen“, findet Trish. „Jetzt gerade fällt es mir schwer, mir ein normales, geregeltes Leben vorzustellen.“ Allerdings möchten alle drei jungen Frauen eines Tages genau das: ein normales, geregeltes Leben. Spätestens dann, wenn sie ein Kind bekommen möchten.

 

„Zu viel zu erfahren macht das Leben nicht besser.“

 

Aber: Im freien Fall hat noch niemand die Richtung gewechselt. Und wie schwer der Absprung wirklich ist, weiß Sven*. Der ehemalige IT-Spezialist arbeitet seit einigen Jahren als Marketingleiter für den Saunaclub und kennt die Menschen sehr genau. „Ich rate den Mädchen immer davon ab, überhaupt erst damit anzufangen“, sagt er. „Ich finde: Bleibt naiv! Macht das nicht. Zu viel zu erfahren macht das Leben nicht besser.“

 „Ich war noch so jung, als ich damit anfing“, erinnert sich Valery. „Man glaubt, das Leben fängt erst an. Und dann …“ Der Satz bleibt unvollendet.

Denn dann, dann tut sich eine Welt auf, in der schwer zu sagen ist, ob das Leben wirklich anfängt – oder aufhört.

„Uns kann niemand mehr etwas vormachen“, ist sich Trish sicher. „Wir wissen, was die sich wünschen. Und wir wissen, wenn der eigene Freund fremdgegangen ist.“

Für die Liebe scheint da wenig Platz zu sein. Den Richtigen finden – auch für die drei jungen Frauen ein schöner Gedanke. Aber einer, den sie vorerst sehr weit weggeschoben haben.

Wenn sie sich eine ideale Beziehung vorstellen, fallen ihnen inzwischen andere Werte ein. Jenseits der Körperlichkeit, jenseits des Besitzdenkens. Mit Eifersucht können sie gelassener umgehen, wichtiger sind Solidarität und ein gemeinsames Ziel. Dennoch erleben sie jeden Tag, welche Missverständnisse zwischen den Geschlechtern bestehen. „Man könnte so viele Irrtümer aus dem Weg räumen, wenn man einfach mehr miteinander reden würde“, findet Valery.

 

Menschen mit Behinderung als Zielgruppe

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Menschen mit Behinderung als Zielgruppe

 

 

Aber reden – zumindest über das, was sie sich insgeheim wünschen – fällt vielen Männern hier leichter. Bei Frauen, die dafür bezahlt werden, zuzuhören. Diese Frauen befriedigen in ihrem Job oft ein ganz anderes Bedürfnis: Sie sind Seelsorger und Therapeut zugleich. Und was für die Ehefrau nicht geeignet ist, bekommen sie zu hören. „Nicht der Sex ist anstrengend, sondern das Reden“, kommentiert Valery.

Alles, was sie zu hören bekommen, bleibt an ihnen haften. „Manchmal musst du einfach abschalten, sonst macht es dich kaputt. Und zur Liebe“, ereifert sich Valery, „wenn es Liebe überhaupt geben soll, muss sie wachsen. Heute sind doch alle austauschbar. Du willst deinem Partner die Fehler austreiben, anstatt sie anzunehmen. Oder du suchst dir eben den Nächsten.“

 

„All das täuscht darüber hinweg, dass das hier gebrochene Menschen sind.“

 

„Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, du bist Jesus“, ärgert Sven sie. Es wird gelacht. Es wird viel gelacht an diesem Abend. Später sagt Sven: „All das täuscht darüber hinweg, dass das hier gebrochene Menschen sind. Ihnen hat in der Kindheit irgendetwas gefehlt.“

Auch ihm kann man nichts vormachen. Er ist ein kluger Mann. Und einer, der sich damit arrangiert, was das Leben anzubieten hat. Wie diesen Job. „Sobald mein Kind groß genug ist, um zu fragen, wo ich arbeite, werde ich diesen Job aufgeben“, ist er sich sicher. Bis es soweit ist, hält er sich an eine ganz einfache Strategie: „Nichts an sich heranlassen. Und sich nicht von anderen als geistigen Abfalleimer benutzen lassen.“

In der Psychologie heißt es, eines der niederschmetterndsten Ereignisse im Leben sei der Augenblick, in dem dich eine nahestehende Person aufgibt.

Trish fasst ihre Kindheit so zusammen: „Meine Eltern sind Sektenmitglieder. Mein Vater hat mir ins Gesicht gespuckt und gesagt, dass ihm seine Kirche wichtiger ist als ich. Seit ich vierzehn war, bin ich auf mich allein gestellt.“ So zumindest hat sie es erlebt. Aber sie will mehr als überleben. „Mit dem Job finanziere ich mir Stunden im Tonstudio, um Musik zu machen“, erzählt sie – und singt spontan etwas vor. Ihre Stimme ist wie Seide und zu groß für diesen Raum. Ihre Stimme und ihre Träume sind zu groß für dieses Etablissement. Worauf es hier ankommt sind Haut und Haar, Jugend und Schönheit. Sie streicht sich das lange Haar über die Schulter. Auf Komplimente reagiert sie gelassen. „Ich bin eben naturschön.“

„Alles nur Make-up“, kichern die anderen.

Und so viel gelacht wird, so viel schonungslose Wahrheiten werden ausgetauscht. „Seid ihr echte Freundinnen? Würdet ihr die andere nicht für einen Kunden ausbooten?“, fragt Sven. Man kennt sich. Besser, als sich die Menschen da draußen kennen – im anderen Leben. „Da draußen kann ich keinem erzählen, womit ich mein Geld verdiene“, sagt Trish. „Aber hier weiß jeder, was beim anderen los ist. Wir sind zusammen durch so viel Scheiße gegangen, das schweißt zusammen.“ – „Wer nicht am Boden war, kann nicht wachsen“, bestätigt Valery.

 

Der Mensch, so formuliert es Mark Twain, ist das einzige Tier, das errötet –
und Grund dazu hat.

 

Es gibt kaum noch etwas, das die Mädchen erschreckt. „Du denkst, du hast schon alles erlebt, aber dann wirst du doch wieder überrascht.“ Das sind keine schönen Überraschungen. „90 Prozent der Kunden haben einen Knacks“, erklären die Mädchen einstimmig. Sie haben nahezu alles erlebt, was mit Erniedrigung, Demütigungen und Perversion zu tun hat. Mit älteren Männern sei der Sex zumindest weniger brutal als mit jüngeren, kommentieren sie nüchtern. Jüngere fielen eher aus der Rolle und neigten dazu, radikal zu entgleisen. Andere dagegen träumen selbst von der absoluten Erniedrigung.

Beängstigende Fälle gibt es auch. Es wird ein Brief vorgelesen, in dem ein Kunde seine bizarren Wünsche detailliert aufgeschrieben hat – zwei Seiten, handschriftlich. Er wünscht sich eine Versammlung maskierter Mädchen, die ihn befriedigen. Und die darin gipfelt, dass die Schönste unter ihnen erstochen wird. Dafür bietet er € 50.000.

Wie sehr solche Wünsche den Mädchen zusetzen, ist schwer zu sagen. Daran darf man nicht denken, wenn man weitermachen will. „Wenn es diese Mädchen nicht gäbe, könnten weniger Frauen unbehelligt über die Straße gehen“, weiß Sven. „Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft.“

Eine Gesellschaft, die sie dafür verachtet. Trish hebt die Schultern. „Die Welt ist eben abgefuckt. Wenn dir das Leben Zitronen schenkt, mach Limonade draus!“

 

Die Nacht ist voller Möglichkeiten. Und zugleich unendlich leer.

 

Doch wagt man einen Blick in die Zukunft, könnte die ziemlich finster für sie aussehen. Denn ihre mögliche Zukunft liegt an anderer Stelle in unserer Stadt. Fernab von Hygiene und Sicherheitskameras in den Fluren. Fernab von einem geschützten Rahmen mit Aufpasser und schicken Bademänteln. Wer dort an die Tür klopft, dem bietet sich das Elend – das verlebte, müde Elend.

„Es ist nur eine von vier Frauen hier“, wird mir dort beim Eintreten gesagt. „Die anderen können sowieso kein Deutsch.“ Schon im Flur ist die Luft so vom Zigarettenrauch verdichtet, dass man sich ein Loch zum Atmen hineinschneiden möchte. Ich darf zwei Sätze mit der Frau wechseln.

Das Leben geht weiter, das Wochenende beginnt, nach mir wird jemand anders an diese Türen klopfen. Und noch jemand. Und hereingelassen werden. Ganz egal, was er sucht. Liebe, Flucht, Erfüllung, ein offenes Ohr, eine schnelle Nummer.

Die Nacht ist voller Möglichkeiten. Und zugleich unendlich leer.

Wenn dir das Leben Zitronen schenkt, mach Limonade draus. Es ist schön zu glauben, dass Valery, Trish und Amica sich daran halten werden. Noch sieht ihre Welt plüschig aus, noch riecht sie nach Parfum und Puder, unterlegt mit scharfem Männerschweiß und dem Geruch von Fleisch und Geldscheinen. Noch können sie jemanden rufen, wenn es brenzlig wird.

So möchte ich sie im Gedächtnis behalten: Als sie den Raum verließen, sahen sie nicht nur aus wie wunderschöne, stolze Kriegerinnen. Sie waren es wirklich.

 

* Alle Namen von der Redaktion geändert

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