Kleiner Mann – was nun?

Langsam nähert sich die blaue Schnecke ihrem Ziel. Noch zweimal würfeln, dann müsste sie es geschafft haben. Die Kinder der Mondscheingruppe des Tanner Kindergartens wetteifern bei ihrem Spiel „Tempo kleine Schnecke“ um den Sieg.

Einer von ihnen ist Raphael Semmler, ein Lausbub aus Tann (Rhön). Mitten im Rennen wuselt seine Spielfigur um den Sieg mit, am Ende reicht es aber nur zu Platz 4. Doch das macht dem Fünfjährigen gar nichts. Beim anschließenden Fußballspiel im Garten der Kindertagesstätte ist er wieder bester Dinge und dribbelt, passt und schießt mit seinen Mannschaftskollegen um den Sieg – ein ganz normaler Junge eben, oder etwa nicht?

„Raphael hat das Down-Syndrom“, erzählt seine Mutter, Silke Semmler. Gerade am Anfang sei dies für die fünfköpfige Familie nicht leicht gewesen. „Ich bin nach der Diagnose in ein richtiges Loch gefallen. Wir hatten aber ein familiäres Umfeld, das uns Rückhalt gegeben hat, und mit der Zeit merkten wir, dass Raphael ein ganz toller Junge ist.“ Eine große Stütze sei auch der Elternkreis „Down-Syndrom“ im „Zitronenfalter" gewesen. Hier lernte die Familie andere Mütter und Väter kennen, deren Kinder ebenfalls Trisomie 21, so der Fachbegriff des Syndroms, haben.

Seit zwei Jahren fährt Raphael, der mit seiner Familie in einem Tanner Ortsteil lebt, mit dem Bus in den Kindergarten. Im Landkreis Fulda ist das normal. Hier können die meisten Kinder in die ortsansässige Kita gehen. In seiner Gruppe ist Raphael ein fester Bestandteil. Nur seine Freizeit sieht bei ihm anders als bei anderen Kindern aus. „Wir fahren oft zur Logo- und Ergotherapie und zu weiteren Förderungen, damit Raphael, so gut es geht unterstützt wird“, sagt Semmler und fügt hinzu, dass ihr Sohn noch nicht richtig sprechen könne. Das ist ein Faktor, der Semmlers ein wenig Kopfzerbrechen bereitet. Denn in einem Jahr wird Raphael den Tanner Kindergarten in Richtung Schule verlassen. Nur welche Schulform die richtige ist, das wissen die Semmlers nicht. Ein Konflikt, bei dem sie glücklicherweise nicht alleinegelassen werden, denn wie jedes andere Kind wird auch Raphael von der Kita auf die Schule vorbereitet. „Wir haben jetzt noch ca. zwölf Monate Zeit, da ist noch viel Platz für Entwicklung“, erläutert die Erzieherin Silvia Henfling. „Wir sehen eine gute Chance, Raphael in die Grundschule zu geben. Wir haben oft erlebt, dass gerade im „letzten Frühling“ vor der Schule Kinder manchmal noch riesige Entwicklungssprünge machen.“ Auch die gute Zusammenarbeit und der Austausch mit der Familie Semmler könne positive Wirkung haben. So wie den Semmlers geht es vielen Familien, die mit einer Behinderung, Krankheit oder dem „Anderssein“ ihres Kindes konfrontiert sind. Zwar gibt es inzwischen auch in Hessen einen verbrieften Rechtsanspruch auf inklusive Bildung, doch damit sind die Probleme nicht gelöst. Ganz im Gegenteil: Jetzt wird deutlich sichtbar, dass noch erhebliche Hürden für die Realisierung des gemeinsamen Schulbesuchs von Kindern mit und ohne Handicap zu beseitigen sind. Wie sieht denn der gemeinsame Unterricht in der Praxis aus? Wie groß können die Lerngruppen sein? Welche baulichen und sonstigen Voraussetzungen sind noch zu schaffen, damit das Vorhaben gelingen kann? Ganz zu schweigen von den Hürden, die in den Köpfen von nicht betroffenen Eltern und den Lehrern existieren! In den landauf, landab geführten Gesprächen wird dies immer wieder überdeutlich: Gerade diese Hürden sind es, die die Umsetzung des von der UNO formulierten Anspruchs infrage stellen. Die Schulen sind nicht ausreichend vorbereitet. Eine neue Generation von Lehrerinnen und Lehrern, die über die notwendige Haltung und die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, steht noch nicht zur Verfügung. Doch darüber wird kaum diskutiert. Derzeit sucht und fi ndet man Sach- (Schein-) Argumente, die eines verschweigen sollen: dass nämlich Kinder mit Handicaps in vielen Fällen gar nicht in der Regelschule erwünscht sind. Die Enttäuschung von Familien wie den Semmlers ist damit programmiert.

Die Wirklichkeit wird sich nur verändern, wenn sich die Bilder von Behinderung verändern. Auf Grundund Förderschule bezogen, bedeutet dies, dass Kinder mit Behinderung nicht als „Sonderfälle“ gesehen werden, für die im Augenblick noch das fachliche Knowhow fehlt.

Auch Förderschulen haben nicht über jedes Handicap ein detailliertes Fachwissen. Sie nehmen die Schüler, wie sie sind, und gehen individuell auf sie ein. Und genau das führt zum Erfolg. In Fulda lassen sich erste Entwicklungen ausmachen: Ab dem Schuljahr 2013/14 soll es Kooperationen zwischen Förderschulen und Grundschulen geben. Erste kleine Schritte, die es auf mittlere Sicht Kindern ermöglichen sollen, eine gemeinsame Schule vor Ort zu besuchen.

Auf Familie Semmler wartet nun ein aufregendes Jahr. „Wir überlegen hin und her. Die letzten Monate vor der Einschulung werden wir dazu nutzen, verschiedene Hospitationstage mit und ohne Raphael zu machen“, sagt die Mutter und ist zuversichtlich, dann eine gute Entscheidung zu treffen. Es ist ihnen zu wünschen, dass sie dabei auf Partner treffen, die die Hürden in ihren Köpfen schon hinter sich gelassen haben.

Zurück