Kriegen wir das gebacken?

Am Montagmorgen klingelt mein Wecker viel zu früh. Schlagartig bin ich nicht nur wach, sondern vor allem nervös. Ich frage mich, ob ich mein Vorhaben im wahrsten Sinne des Wortes gebacken bekomme.

Schließlich möchte ich eine Woche als Praktikant in der antonius Bäckerei mitarbeiten. Plötzlich befürchte ich, mich mangels handwerklichen Geschicks zu blamieren. Außerdem habe ich zum ersten Mal Arbeitskollegen mit Handicap. Wie die wohl auf mich reagieren? In wie viele Fettnäpfchen ich treten werde? Eins ist klar: Für einen Rückzieher ist es nun zu spät.


Kurz darauf stehe ich mit Arbeitshose, Schürze und Mütze bekleidet in der Backstube und fühle mich verloren. Vor meinen Augen scheint sich das organisierte Chaos abzuspielen: Während im Hintergrund jemand Zutaten zusammenstellt, einer Teigmengen abwiegt, andere wiederum diese zu runden Klumpen kneten, einer Brötchen-Teiglinge auf Backbleche setzt, wuseln weitere Mitarbeiter durch den Raum. Knapp über 20, und etwa die Hälfte hat eine Behinderung. Jeder scheint das komplexe Zusammenspiel mühelos zu durchschauen. Nur ich habe absolut keinen Plan.

In der Ruhe liegt die Kraft

„Bei uns gibt es viel Handarbeit“, sagt Backstubenleiter und Bäckermeister Manfred Heil – und so muss auch ich gleich Hand anlegen. Ich werde Frank Wiesner zugeteilt, der mir zeigen soll, wie man einen abgewogenen Teigklumpen ordentlich rundwirkt. Zuerst streut er mir Mehl auf die Arbeitsfläche. „Damit der Teig nicht am Tisch klebt. Darfst aber nicht zu viel nehmen, sonst kannst du nicht gut kneten.“ Aufgeregt schaue ich genau hin, wie er mit beiden Handballen knetet und aus dem Teig eine große und perfekte Kugel formt. Nun bin ich an der Reihe und möchte sogleich sein Arbeitstempo kopieren. Dadurch bin ich zu hektisch und knete den Teig zu fest: So wird mein Klumpen eher oval und hat zu viele Falten. Die Kollegen grinsen. Frank knetet mein Erstlingswerk nochmals durch und bringt es in Form. „Ich habe lange gebraucht, um das zu lernen“, gibt er mir zur Auskunft. Es macht ihm nichts aus, mir mehrfach zu zeigen, wie es geht. So fühle ich mich angenommen, wie ich bin, und der Drang, sofort wie eine Arbeitsmaschine loszulegen, schwindet.

Ich beginne zu begreifen, dass hektisches Arbeiten keinen Vorteil bringt – im Gegenteil. Zwar müssen auch in der antonius Bäckerei die Backwaren zu einer bestimmten Uhrzeit in der korrekten Anzahl fertig sein, aber akkurates Arbeiten geht hier vor Geschwindigkeit.

Nur die Rosinen, nicht die Schüssel

Vor mir auf der Arbeitsfläche liegt eine lange Bahn ausgerollten Hefeteigs, aus dem Puddingschnecken werden sollen. In zwei Schüsseln warten Pudding und Rosinen darauf, gleichmäßig auf dem Teig verteilt zu werden. Etwas zaghaft beginne ich den Pudding zu verstreichen, als der Backstubenleiter nochmals an mich herantritt. „Der Pudding gehört bitte nur auf die Oberseite“, sagt er scherzhaft. Verwirrt schaue ich ihn an, denn das war sogar mir schon klar. Daher klärt er mich auf: In der Vergangenheit sagte er zu einem Mitarbeiter mit Handicap, der ebenfalls Rosinen verteilen sollte, es käme alles rein. Der nahm das wörtlich und so flog die Schüssel gleich hinterher. Klare und verständliche Anweisungen sind demnach essentiell, und unter uns gesagt, kommen sie auch einem Frischling wie mir zugute.

Wer genau hinsieht, entdeckt weitere Kleinigkeiten, die das gemeinsame Arbeiten von Menschen mit und ohne Handicap an diesem Ort ausmachen. Statt die Mineralwasserflaschen mit Namen zu beschriften, sind per Gummiband Fotos von den jeweiligen Besitzern angebracht, damit sie nicht verwechselt werden können. In allen Bereichen gilt es, einen gemeinsamen Nenner zu finden, sodass sich jeder nach seinen Fähigkeiten einbringen kann. „In alle Produktionsschritte haben wir Kollegen mit Handicap eingebunden“, erklärt Heil stolz. Seine Mitarbeiter motiviert er, indem er auch als Vorbild fungiert. „Wenn ich möchte, dass jeder seinen Arbeitsbereich sauber verlässt, muss auch ich den Besen in die Hand nehmen.“

Die Bäcker sind jeden Tag aufs Neue gefordert, denn es menschelt an jeder Ecke, wie ich bald feststelle. Und dennoch – oder gerade deswegen – sagt Bäckerin Nicole Langer, die bereits seit 17 Jahren im Betrieb ist: „In einer anderen Backstube ohne Kollegen mit Handicap zu arbeiten, kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre mir zu langweilig.“ Was genau sie damit meint, soll ich im Laufe meines Praktikums noch erfahren.

Rein ins kalte Wasser

Am zweiten Tag finde ich mich in einem kleineren Arbeitsraum ein. Hier werden wir in den nächsten Tagen gemeinsam Käsestangen formen, Pizza belegen, Nussecken in Kuvertüre tauchen und vieles mehr. An der Wand hängt eine Magnettafel, die eine Übersicht gibt, welcher Mitarbeiter wo eingeteilt ist und welche Aufgaben noch zu erledigen sind. Auch treffe ich hier auf Arbeitserzieher Dirk Brettschneider, der sich als pädagogische Fachkraft speziell um die Mitarbeiter mit Hilfebedarf kümmert. Er stellt mich der Runde vor und führt auch aus, dass ich für das SeitenWechsel-Magazin einen Bericht schreibe. Generell fällt mir auf, dass er viel und vor allem umfassend erklärt. „Mir ist wichtig, dass jeder einen Gesamtüberblick hat und nicht einfach eine Aufgabe zugeteilt bekommt, von der er gar nicht weiß, warum er sie erledigen soll“, sagt Brettschneider. „Jeder ist ein Teil vom Ganzen und hat eine wichtige Rolle.“ Als pädagogische Fachkraft steht er nicht nur erklärend daneben, sondern arbeitet wie die anderen in der Bäckerei mit. Auch Manfred Heil ist es wichtig, dass jeder die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit mit allen Sinnen erfährt. So dürfen wir immer mal verschiedene Sorten Kuchen und Feingebäck probieren. Oft sind kleine Mengen übrig oder einzelne Nussecken sind zu klein geraten. So weiß auch ich, wie am Ende des Tages unsere Produkte schmecken.

Noch kann ich nicht alle Mitarbeiter mit Handicap einschätzen. Manche gehen offen auf mich zu und reden mit mir, als würden wir uns seit Jahren kennen. Andere sind verschlossen und haben kaum ein Wort mit mir gewechselt, wie Maria-Lisa Mihm, was mich verunsichert. Dann schockt mich Brettschneider: Allein mit ihr soll ich in einem Lagerraum Plätzchen verpacken und alle bereits vorhandenen Packungen zählen. Wie soll das funktionieren? Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, habe ich nicht, denn die Arbeit ruft.

So zählen wir gemeinsam und wechseln uns beim Be- und Entladen der Kisten ab. Manchmal braucht sie eine kurze Pause, die sie sich auch nimmt. Dann setzt sie sich auf einen Stuhl und kontrolliert auf meine Bitte hin meine Arbeitsschritte. Wenig später möchte sie wieder einsteigen, und ich schaue ihr über die Schulter. Wenn wir uns verzählen, lachen wir, und fangen einfach von vorn an. Mal komme ich mir vor wie ein Schüler, dann wieder wie ein Lehrer. Auch bei anderen Arbeiten findet nahezu im Viertelstundentakt ein Seitenwechsel statt, was mir zunehmend gefällt. Zum ersten Mal begegne ich Menschen mit Handicap auf Augenhöhe. Sie erklären mir, wo ich meine Arbeitsutensilien finde oder worauf es beim Rollen von Schokohörnchen ankommt. Der Feierabend naht, Maria-Lisa Mihm und ich haben alles verpackt, gezählt und der Raum ist gefegt. Kurz gesagt: Ich bin stolz wie Oskar auf uns.

Von Brettschneider möchte ich wissen, wie er wissen konnte, dass sie und ich so gut zusammenarbeiten können. „Fingerspitzengefühl“, sagt er lachend. „Jeden Tag schaue ich genau hin, wie es den Mitarbeitern geht. Deswegen treffen wir uns morgens in aller Ruhe und besprechen die vor uns liegenden Aufgaben. Und wenn es die Zeit erlaubt, rekapitulieren wir auch kurz vor Feierabend in der Runde, wie unser Tag verlaufen ist, wie wir uns gefühlt haben, was gut lief und was nicht.“

Voll normal, oder was?

Den individuellen Zugang zu meinen Kollegen auf Zeit muss ich anfangs erst finden, aber im Grunde ist es einfach. Die meisten Mitarbeiter mit Handicap lassen ihren Emotionen freien Lauf und zeigen sich ohne gesellschaftliche Maske. Daher spüre ich schnell, wer mich ehrlich mag und wer noch mit mir fremdelt. Falsche Höflichkeit gibt es nicht. Dafür wird Frust und Ärger ebenso intensiv kundgetan, wenn mal etwas nicht klappt oder Mitarbeiter sich in die Haare bekommen. So weiß ich stets, woran ich bin, und das erleichtert mir vieles. Zu Beginn meines Praktikums verglich ich die antonius Bäckerei oft mit einem „normalen“ Betrieb und ärgerte mich bald über den Begriff „normal“. Natürlich sind manche Arbeitsabläufe anders und Manfred Heil muss auf seine Mitarbeiter in einigen Punkten intensiver eingehen. Aber es geht nie darum, sie einfach nur mit irgendetwas zu beschäftigen. Es ist Arbeit, die fordert und an der man deshalb auch wachsen kann. Die Bäckerei ist ein wirtschaftlicher Betrieb, und natürlich befindet sie sich im Spannungsfeld, den wirtschaftlichen und sozialen Belangen gleichermaßen gerecht zu werden. Unterm Strich gelingt es. Letztendlich begreife ich, dass „normal“ keine feste Größe und vielerorts nur eine leere Worthülse ist.

Zurück von der Insel der gelebten Inklusion

Nach meinem Praktikum tauche ich wieder in meinen beruflichen Alltag als freier Journalist ein. Hier begegnen mir keine Kollegen mit Handicap und auch in den Geschäften, in denen ich einkaufe, kann ich keine entdecken. Unsere Arbeitswelt erscheint mir auf einmal irgendwie trist. Ich vermisse die Ecken und Kanten, die wir alle haben, aber meist nicht zeigen. Durch meine Woche in der antonius Bäckerei habe ich erfahren, wie unterschiedlich Menschen sein können und wie bereichernd es ist, wenn sie eine Gemeinschaft bilden. Jeder kann vom anderen lernen. Nun verstehe ich Nicole Langer, warum ihr ein Arbeitgeber, der keine Mitarbeiter mit Handicap beschäftigt, zu langweilig ist. Blättere ich durch Stellenanzeigen, suchen Unternehmen allenthalben flexible Mitarbeiter. Wo aber sind die flexiblen Arbeitgeber? Auch ich frage mich nun mehr als zuvor, was ich für Inklusion tun kann. Und ich bin mir nun sicher, dass wir das mit der Inklusion eines Tages gebacken bekommen.

Eine Woche in der antonius Bäckerei - von Jens Brehl

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