Kunst auf der Haut
„Tattoos sind längst salonfähig geworden.“ Rogge setzt die Maschine an. „Beliebt wie nie zuvor.“ Die ausgefallenen Bilder auf der Haut zieren mittlerweile Menschen aller Berufsund Altersklassen. Tattoos sind trendy, so alltäglich wie Modeschmuck.
Dabei haben Tattoos eine jahrtausendealte, kulturell geprägte Geschichte. „Früher bei den Stämmen ging es nicht darum, ob es schön aussieht“, erläutert Rogge. „Es ging um eine rituelle Bedeutung, die den Wert oder den Erfahrungsschatz eines Stammesmitgliedes anzeigte.“ In der Moderne dagegen war das Tattoo anfangs ein Zeichen von Rebellion: Randgruppen und Subkulturen brachten ihre Einstellung gegenüber der Gesellschaft zum Ausdruck. „In den 90ern trugen Punks und Gangmitglieder Tattoos. Sie wollten ihre Andersartigkeit zum Ausdruck bringen – oder ihre Unzufriedenheit.“
Heute dagegen möchten viele Menschen ihre ganz persönliche Lebenseinstellung mit einem Tattoo sichtbar machen – oder einen Wendepunkt in ihrem Leben festhalten. Dazu zählen Geburtsdaten, Gedenktattoos, Portraits oder spezielle Motive, die ein einschneidendes Erlebnis verdeutlichen sollen. Ein Kunde ließ sich beispielsweise eine geöffnete Tür tätowieren, auf die ein Datum geschrieben war. Das Datum bezeichnete den Tag, an dem er einen schweren Autounfall erlitt – und die geöffnete Tür symbolisierte den Neuanfang, da ihm der Unfall nach eigenen Worten „die Augen geöffnet“ hatte. Er sagte, dass er sein Leben seit diesem Vorfall mehr zu schätzen wisse. Das Tattoo soll ihn für immer daran erinnern.
Zu Rogges Kunden zählen Juristen und Polizisten ebenso wie Sozialarbeiter, Friseure oder Bestatter. Sein Beruf ist vielfältig, da er es mit jeglicher politischen, religiösen und ethischen Gesinnung zu tun bekommt. Dabei muss er gelassen bleiben und auch mit den ungewöhnlichsten Klienten umgehen. Mit Geduld, Menschenkenntnis und Ausgeglichenheit geht er auf die Kunden ein.
Steffen Fell alias Rogge ist Inhaber des Tattooladens Rude Graphixx in Bad Hersfeld. Die Liebe zur Kunst begleitet ihn sein ganzes Leben. Seit über zwanzig Jahren ist er Acryl-Maler, Tusche-Zeichner und vor allem aktiver Graffitikünstler. Seine Werke kann man auf bis zu dreizehn Meter hohen Wänden in ganz Europa bewundern. Weil ihn das Tätowieren schon immer faszinierte, entschloss er sich 2009 dazu, seine Kunst mit Nadeln auf die Haut zu bringen. Dabei wünscht er sich weniger Schablonen und mehr aufgeschlossene Kunden, die Mut zu außergewöhnlichen Motiven haben. „Die meisten Leute wünschen sich Sterne, Blumen oder Kindernamen“, bekennt Rogge. Für einen ernsthaften Tätowierer und Künstler ist das allerdings keine Herausforderung. „Leider machen sich die Kunden nicht ausreichend Gedanken darüber, was sie haben möchten. Für viele ist es einfach ‚in’, tätowiert zu sein.“
Das Wort „Tattoo“ stammt aus Tahiti. Hier bezeichnete der Begriff „Tatau“ das Geräusch, das die traditionellen Werkzeuge beim Tätowieren machen. Der britische Seefahrer James Cook brachte das Wort 1769 nach Europa. Doch nur die Bezeichnung war neu – die eigentliche Kunstform war in Europa schon seit Jahrtausenden bekannt.
In den vergangenen Jahren hat sich die Bedeutung dieser Kunstform völlig verändert. Während man früher oft handwerklich schlecht gemachte Hinterhofarbeiten zu Gesicht bekam, hat sich das Tätowieren heute zu einer Technik gemausert, bei der sich Künstler der ganzen Welt mit kompliziertesten und aufwendigsten Bildern messen. Dabei reicht das Repertoire von fotorealistischen Portraits bis zu Gemälden alter Meister wie da Vinci oder Botticelli.
Natürlich wünscht sich nicht jeder großflächige Tattoos. Viele wünschen sich kleine Bilder an versteckten Stellen. „Das verrückteste, was ich in dieser Richtung je gestochen habe, war Spongebob Schwammkopf – auf den Po.“ Und dafür musste sich die Kundin nicht einmal entkleiden – vor dem Termin hatte sie sich vorbereitet und ein Stück aus der Jeans herausgeschnitten.
Der direkte Kontakt wirkt sich auch auf die Gesprächsbereitschaft der Kunden aus. Es ist, als würden manche mit der Kleidung auch ihre Scheu ablegen. Nicht selten passiert es, dass Kunden dem Tätowierer ihre gesamte Lebensgeschichte erzählen – ob er sie hören möchte oder nicht. Vielleicht liegt es an der Nähe, die das Tätowieren erzeugt, vielleicht aber auch nur daran, dass dabei viel Zeit vergeht. „Eine Sitzung kann bis zu sechs Stunden dauern. Und ich muss eben zuhören“, verrät Rogge mit einem Lachen.
Aber die Arbeit erfordert eine hohe Konzentration. Anders als auf der Leinwand kann man einen Fehler auf der Haut nicht einfach auslöschen. „Es ist unglaublich, wie viele Leute mit schlecht gestochenen Bildern in meinen Laden kommen“, enthüllt Steffen mit Bedauern. „Dann bitten sie mich darum, das alte Tattoo zu covern“ – also das alte Bild zu überstechen, und das ist keine leichte Aufgabe. Aber Steffen hat den absoluten Blick für das Zusammenspiel von Haut und Farbe. Intuitiv weiß er, wie ein Motiv auf dem Körper wirken wird – und rät auch mal einem Kunden davon ab. „Viele Menschen denken, dass man das eindimensionale Bild 1:1 auf dem Körper umsetzen kann.“
Doch genau darin besteht die Herausforderung an den Tätowierer: Er muss das Bild auf einer Fläche platzieren, die ständig in Bewegung ist. Ein gut gestochenes Tattoo fügt sich in das Gesamtbild ein und wird selbst als lebendiger Teil des Körpers wahrgenommen. Und weil sich die Haut im Laufe der Jahre verändert, rät Steffen den Kunden oft, das Bild größer zu gestalten als ursprünglich geplant. „Gerade bei filigranen Arbeiten können die Linien mit der Zeit ineinanderlaufen. Bei zu kleinen Bildern wird das irgendwann ein einziger Brei.“
Leider gehen nicht alle Kunden auf die Ratschläge ein und beharren auf Motiven, die sie mitgebracht haben, und der Tätowierer muss sich danach richten. Was sich ein Tätowierer wiederum wünscht, sind Kunden mit Geduld – und einem angemessenen Schmerzempfinden. „Es ist schade, wenn wir ein großes Projekt planen und der Kunde schon nach zwei Stunden aufgibt. Im Allgemeinen sind Frauen viel schmerzresistenter als Männer.“ Mit den modernen Maschinen ist der Schmerz aber sehr viel geringer geworden.
Für die Zukunft wünscht sich Rogge vor allem, seine eigene Kunst zu tätowieren zu dürfen. Sein Spezialgebiet sind Fantasy- und Horrormotive – je abgedrehter, desto besser. Und seine liebenswerten Freak-Motive haben schon unzählige Anhänger gefunden.
Anna-Pia Kerber