Man muss sich betreffen lassen
Ein Rückblick auf die Idee des SeitenWechsel-Magazins
Inklusion lässt sich nicht mit wenigen Worten erklären. Der Sachverhalt ist kompliziert, das Wort nicht selbsterklärend. Wörtlich übersetzt bedeutet es „Einschluss“. Aber auch das hilft nicht wirklich weiter, denn so übersetzt weckt es eher negative Assoziationen. Obwohl mit dem Begriff etwas wirklich Gutes gemeint ist - schließlich geht es um ein von den Vereinten Nationen verbrieftes Menschenrecht –, verweist er zunächst auf bestehende Missstände. Wäre die vollständige Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an Kultur, Bildung und Gesellschaft Wirklichkeit, wäre also niemand ausgeschlossen, müssten wir uns auch nicht den idealen Zustand der „Eingeschlossenheit“ herbeiwünschen. Es bräuchte die Forderung der Inklusion nicht. Je häufiger uns folglich das Wort in unserem Alltag begegnet, umso dringlicher tritt ein umfassender Handlungsbedarf zutage.
In fast allen gesellschaftlichen Feldern sind Menschen mit Behinderungen noch immer von Ausschluss und Separation bedroht. Sie stoßen auf Barrieren, die es ihnen schwermachen, ihr Menschenrecht auf Teilhabe „in vollem Umfang zu genießen“, wie es die UN-Charta über die Rechte von Menschen mit Behinderungen formuliert. Und obwohl die Charta bereits 2009 von der Bundesregierung förmlich anerkannt wurde, lässt die Wirklichkeit auch heute noch vieles zu wünschen übrig. Die großen Entwürfe sind ausgeblieben. Nur in Trippelschritten öffnet sich das Bildungssystem, werden Ausbildungsverordnungen angepasst und entstehen angemessene Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, der allen gleichermaßen zugänglich sein muss – ungeachtet der individuellen Voraussetzungen.
Vielerorts ist immer noch nicht verstanden, dass es längst nicht mehr darum geht, wie Menschen mit Behinderungen in bestehende Systeme eingegliedert werden können. Das war die Handlungsmaxime der Integrationsbewegung. Vielmehr wird durch „Inklusion“ die Frage aufgeworfen, wie die Systeme weiterentwickelt und organisiert werden müssen, damit nicht von vorneherein einer großen Gruppe von Menschen elementare Zugänge verwehrt werden.
Dass diese Umkehrung der Denkrichtung – nicht einen bereits geschehenen Ausschluss nachträglich zu heilen, sondern aktiv und vorbeugend einen solchen zu verhindern – bei Menschen mit Behinderungen wie auch bei denen, die professionell in diesem Bereich tätig sind, eine große Faszination ausgelöst und so viele Hoffnungen geweckt hat, kann kaum verwundern.
Auch antonius : gemeinsam Mensch war sehr früh dieser Faszination erlegen und hat sogleich begonnen, die neuen Chancen auszuloten und erste Weichen zu stellen. Von dieser Aufbruchstimmung getragen entstand zunächst das Unternehmernetzwerk Perspektiva und wenig später die Startbahn, die Arbeitsschule zur Ausbildungs- vorbereitung. Beides waren und sind bundesweit einzigartige Initiativen, die Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt eröffnen. Natürlich ist die Kita des Netzwerks längst eine inklusive Einrichtung und auch die Antonius von Padua Schule öffnete sich und unterrichtet heute mit staatlicher Anerkennung Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam. Als Modellschule, die völlig anders organisiert ist als Regelschulen, wurde ihr Konzept mit dem Jakob Muth-Preis ausgezeichnet. Ebenso wurde ein erstes Pilotprojekt für gelebte Inklusion in den Kommunen ins Leben gerufen: Leben und Arbeiten in Poppenhausen. Weitere Gemeinden im Landkreis Fulda folgten dem Beispiel und es werden weitere hinzukommen.
Zur Zeit dieser „Goldgräberstimmung“ entstand auch die Idee für das Magazin SeitenWechsel. Wir wollten bei antonius nicht so lange warten, bis die staatlichen Institutionen die nötigen Voraussetzungen für die Umsetzung der Menschenrechts- konvention geschaffen hätten. Wie wollten selbst die Initiative ergreifen, wollten Vorreiter sein, Beispiele schaffen und Nachahmer gewinnen. Und natürlich auch die Menschen unserer Region für den Gedanken der Inklusion begeistern und sie als Mitstreiter und wohlwollende Unterstützer gewinnen. Es brauchte nicht lange, bis aus der Idee ein Plan wurde: Es sollte ein Magazin der Machbarschaft entstehen. Dieses Wortspiel aus „Nachbarschaft“ und „Machbarkeit“ sollte darauf hinweisen, dass die anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen nicht nur auf der großen politischen Bühne stattfinden, sondern sich oftmals ganz in der Nähe, in der Nachbarschaft ereignen. Und wenn man sich – wie in guter Nachbarschaft üblich – für seine Mitmenschen interessiert und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten umeinander kümmert, dann sollte vieles machbar sein.
Außerdem lassen sich die Barrieren, auf welche Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag stoßen, nicht allein durch entsprechende Gesetze beseitigen. Auch die Barrieren in den Köpfen, die oftmals viel mächtigere und weitreichendere Auswirkungen haben, müssen überwunden werden. Dazu muss man aber zunächst einmal die Lebens- wirklichkeit der Betroffenen verstehen, sofern dies überhaupt möglich ist. Man muss sich betreffen lassen. Das kann gelingen, wenn man, wie uns aus der indianischen Kultur überliefert ist, eine Zeit lang „in den Mokassins des anderen geht“. So entstand die Idee zum Titel des Hefts; das Magazin erhielt seinen Namen: SeitenWechsel.
Seitdem hat das inklusive Redaktionsteam Sie, liebe Leser, über zehn Jahre lang und bis heute in vierunddreißig Heften immer wieder zum Wechseln der Seite herausgefordert. Ihnen dazu Einblicke gegeben und Denkanstöße vermittelt zu haben, war uns eine große Freude. Ob es gelungen ist, überlassen wir gerne Ihrer Einschätzung und Ihrem Urteil. Heute halten Sie das letzte Heft, die letzte Ausgabe in Ihren Händen. Doch das ist nicht das Ende des SeitenWechsels. Im Grunde wechseln wir nur das Format: Ab jetzt steht Ihnen ein gleichnamiger Podcast zur Verfügung. Das Angebot, die Seite zu wechseln, bleibt also. Nach zehn Jahren wollen wir etwas Neues ausprobieren. Eine Schwierigkeit beim Schreiben der Beiträge zu den Heften war nämlich diese: Unsere Redakteure mit Beeinträchtigungen hatten manchmal einen sehr eigenwilligen sprachlichen Ausdruck für bestimmte Sachen. Die Schwierigkeit, etwas sprachlich auszudrücken, offenbarte am Ende aber oft eine überraschend originelle Sicht auf die Dinge. Dadurch aber, dass ein Magazin nur die Schriftsprache zur Verfügung hat, ging viel von der Originalität und der Lebendigkeit verloren. Wir mussten manches glätten, was wir bedauerten. Besonders diese unmittelbaren Emotionen, die wir uns alle ja nur selten öffentlich erlauben, können im Podcast viel lebendiger vermittelt werden. Natürlich ist der Podcast auch wieder ein Experiment. Seien Sie gespannt, wie es sich anhören wird.
Ihr Hanno Henkel mit dem Redaktionsteam